200 Jahre und noch keinen Bart

Viele – oder zumindest einige – Russen schienen einen Hang zur Tragikomik zu haben. In der russischen Botschaft in Berlin kam es, wie vergangene Woche bekannt wurde, am 19. Oktober zu einem Zwischenfall, ein Mitarbeiter – vermutlich Mitarbeiter des Geheimdienstes FSB – wurde tot vor der Botschaft aufgefunden. Vermutlich war er aus dem Fenster gestürzt.

Russland und seine Fensterstürze

Das ist überaus tragisch, seinen Angehörigen gehört unser Mitgefühl. Gleichzeitig entbehrt vor allem der Zeitpunkt nicht einer gewissen Ironie und Komik, denn am heutigen 11. November beginnt nicht nur der Karneval in so mancher rheinischen Hochburg, sondern auch der Geburtstag eines der größten russischen Schriftsteller jährt sich zum 200. Mal. Fjodor Dostojewski ist bekannt für seine dicken, langen und anspruchsvollen Wälzer wie Schuld und Sühne, Der Idiot oder Der Spieler.

Die spezielle Tragikomik besteht nun in der Tatsache, dass auch Dostojewski eine Erzählung verfasste, in der ein tragischer Fenstersturz im Mittelpunkt steht. Die Sanftmütige heißt die etwas kürzere Geschichte, die vom Penguin Verlag vor genau einem Monat in einer neuen Edition aufgelegt wurde. Gemeinsam mit Dostojewskis Roman in neun Briefen und der dem Band seinen Titel gebenden Geschichte Ein kleiner Held erschien der Erzählungsband in der hochwertig, klassisch und dennoch modern aufgemachten Penguin Edition in der Übersetzung von Christiane Pöhlmann.

Drei Geschichten und manch bekanntes Motiv

Nur in aller Kürze zu den Inhalten, denn allzu viel soll über diese an dieser Stelle gar nicht verloren werden: Die Sanftmütige ist die Geschichte einer glücklosen Ehe aus der Perspektive des späteren Witwers, dessensehr junge, sanftmütige (vermutlich depressive) Frau sich in den Tod stürzte. Der Roman in neun Briefen enthält – welche Überraschung – einen kurzen Briefwechsel zweier Herren, in dem es um Geld, vermeintlichen Betrug und so manches Missverständnis geht. Und Ein kleiner Held erzählt die Geschichte eines elfjährigen Protagonisten, der sich in seine deutlich ältere Cousine Natalie verliebt und so einen ersten Schritt zum vermutlich noch einige Hindernisse bereithaltenden Erwachsenenleben macht.

Wie in vielen seiner anderen Geschichten und Romanen nimmt sich Dostojewski auch in diesen Erzählungen der Motive der russischen Gesellschaft etwa Mitte des 19. Jahrhunderts an. Es geht um so manchen Standesdünkel, um die teils aufopferungsvolle Beziehung zwischen Mann und Frau – wie selbstverständlich nur aus der Sicht der Männer erzählt, was heute vermutlich teils zu manch berechtigtem Aufschrei führen würde – um Liebe und Verrat. Aber auch manch autobiografische Notiz lässt sich erkennen, beispielsweise die immer wieder zitierte Spielsucht Dostojewskis findet sich als Motiv. Anders als die meisten seiner bekannteren Bücher handelt es sich bei diesen drei Erzählungen außerdem um verhältnismäßig humorvolle und eingängige Geschichten, die den Leserinnen und Lesern eine gewisse Unterhaltung bieten dürften.

Ein idealer Einstieg in die russische Literatur

Gleichzeitig handelt es sich bei den drei gesammelten Erzählungen eben um kürzere Werke, alle zählen teils deutlich weniger als 100 Seiten. Angesichts der „üblichen“ Länge von vier-, fünfhundert Seiten oder noch mehr seiner bereits genannten Ewigkeitswerke bilden sie einen guten Einstieg für Interessierte, vor allem für diejenigen, die sich mit dem Ton und den Themen vertraut machen möchten, aber vielleicht doch ein wenig Respekt vor den dickeren „Wälzern“ haben. Gerade das 200. Wiegenfest Dostojewskis böte hierzu einen sehr geeigneten Anlass und die nun erschienene Neuauflage samt einordnendem Nachwort von Eckhard Henscheid umso mehr.

Wer sich jenseits von Dostojewski mit Erzählungen über russische Kultur und Lebensweise vor längerer Zeit auseinandersetzen möchte, dem seien Yulia Marfutovas für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiertes Buch Der Himmel vor hundert Jahren und Ljuba Arnautovics Familiengeschichte Junischnee empfohlen. Filmisch befasst sich Julia Finkernagel in einer noch bis Weihnachten in der ARD-Mediathek verfügbaren Dokumentation mit einer Reise in der Transsibirischen Eisenbahn ein wenig mit der Thematik. Sie besucht unter anderem die Nachfahrin eines bekannten russischen Schriftstellers. Auch dies sei sehr empfohlen.

HMS

Ein kleiner Held von Fjodor M. Dostojewski

Eine Leseprobe findet ihr hier

Fjodor Dostojewski: Ein kleiner Held. Erzählungen; Oktober 2021; aus dem Russischen von Christina Pöhlmann, mit einem Nachwort von Eckhard Henscheid; Taschenbuch, Broschur, 208 Seiten; ISBN: 978-3-328-10825-2; Penguin Edition im Penguin Verlag; 8,00 €

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