Afghanistan: Wie konnte es so weit kommen?

Die Lage in Afghanistan ist desaströs. Wie konnte es soweit kommen? Wir stellen zwei Fragen, die uns beschäftigen werden und sollten, auch in Hinblick auf die Rolle Chinas und Russlands.

Viel wird und wurde in den letzten Tagen über Afghanistan gesagt und geschrieben. Das ist gut und richtig, denn die Lage ist dramatisch und darf uns nicht kaltlassen. Absolute Priorität muss die umgehende und möglichst umfassende Evakuierung so vieler Menschen wie möglich – egal welcher Nationalität oder Geschlechts – haben und sobald dies halbwegs abgeschlossen ist, wird sich noch einmal die Frage der Verantwortung stellen müssen, was wir hier bereits vor wenigen Tagen analysiert haben.

Bei dieser Frage werden ein paar Punkte im Zentrum stehen müssen, die aktuell öffentlich noch weniger Beachtung finden – höchstens wenn es darum geht, halbseidene Erklärungen mit dem Fingerzeig liefern zu wollen. Zwei Fragen stellen sich in Hinblick auf den gesamten Einsatz ganz besonders: Warum war die afghanische Regierung so schwach, dass die Taliban so leichtes Spiel hatten? Und wie konnten die Taliban überhaupt so stark werden, dass sie das Land binnen Wochen erobern konnten?

Schwache Knochen in Kabul

Die erste dieser beiden Fragen zielt darauf ab, was eigentlich die Bilanz von 20 Jahren Einsatz in Afghanistan ist. Man hätte sich gewünscht, diese Bilanz erst später ziehen zu müssen beziehungsweise zu können (wie es ist, wenn Bilanzen vielleicht ein wenig zu früh gezogen werden, diskutieren wir auch in unserer Besprechung zur jüngsten Merkel-Biografie von Ursula Weidenfeld). Und aus heutiger Sicht ist die Bilanz verheerend. Es scheint, dass die Präsenz westlicher Mächte das Land stabilisierte, denn solange die NATO in Afghanistan war, waren die Taliban nur eine abstrakte Bedrohung.

Was dabei aber scheinbar völlig vergessen wurde oder einfach nur versagte, war der Staatsaufbau. US-Präsident Joe Biden und andere zeigen auf die afghanische Regierung und Armee, die zu schwach waren, das Land zu verteidigen und kapitulierten oder flohen. Wieso aber war es nicht möglich, die durchaus komplexe Aufgabe „statebuilding“ während der letzten Jahre besser umzusetzen? In Hinblick auf Mali und andere Krisenregionen der Welt wird sich die westliche Welt fragen müssen, ob und wie sie es schaffen kann, dort stabile Staatsstrukturen zu etablieren, die nicht gleich wenige Wochen nach dem Abzug bereits kollabieren. In Afghanistan scheint das kaum gelungen zu sein.

Vor allem, was die Rechte von Frauen betrifft, steht zu befürchten, dass Afghanistan zurück in die Steinzeit katapultiert wird. Hier gab es während der westlichen Präsenz durchaus Fortschritte, aber gerade Frauen dürften die Hauptleidtragenden sein, wenn die Taliban nun wieder ein Regime errichten – von Queers sprechen wir mal gar nicht.

Wer hat aufgerüstet?

Die zweite Frage, die aufgeworfen werden muss, ist die, wie die Taliban unerkannt so stark werden konnten. Die Geheimdienste haben dies offenbar nicht gesehen oder sehen wollen, aber darum soll es hier nicht gehen. Zu einer solchen Eroberung aber braucht man Waffen und die wachsen auch in Afghanistan nicht an Bäumen. Woher also hatten die Taliban die Ausrüstung, um das Land so schnell einnehmen zu können?

Vorerst werden wir wohl eher nur spekulieren können, aber natürlich lassen sich einige Anzeichen erkennen: Pakistan galt zuletzt als Zufluchtsort für viele Taliban und spätestens seit die USA vor einigen Jahren Osama bin Laden dort ermordeten (und damit die Souveränität Pakistans schwer beschädigten) dürften die Beziehungen Islamabads zum Westen stark abgekühlt sein. Zumal Pakistan ohnehin auch ein schwelender Konfliktherd ist, für den sich im Westen kaum jemand zu interessieren scheint.

China und Russland – potente Verbündete

Im Kampf mit seinem Dauerrivalen Indien hat Pakistan jedoch einen potenten Verbündeten: China. Beijing versucht bekanntermaßen, seinen geopolitischen Einfluss auf der ganzen Welt, aber eben nicht zuletzt auch in Süd- und Zentralasien auszubauen. Ähnlich gilt das für Russland, das zwar seinen Fokus (aus unserer westlichen Perspektive) eher auf den europäischen und mediterranen Raum legt, aber erinnern wir uns: Der Einmarsch Moskaus 1979 in Afghanistan stellte auch schon einen bedeutenden Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg dar.

Während die globalen machtpolitischen Ambitionen beider Länder bekannt sind und sie zu den größten Waffenproduzenten und -exporteuren zählen und der Westen an einem Rückzug nach öffentlicher Ermüdung festhielt, entstand ein Machtvakuum, das die Strategen im Kreml und in der Verbotenen Stadt erkannt und gefüllt haben dürften. Zumindest würde es zu den außenpolitischen Linien beider Regierungen zählen und dass Beijing und Moskau die Machtübernahme der Taliban so gelassen sehen, dürfte nicht zufälliger Natur sein.

Zwingt Beijing und Moskau dazu, Farbe zu bekennen

Der Westen täte gut daran, beide aus der Reserve zu locken, zum Beispiel indem das Thema öffentlich im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen debattiert und zur Abstimmung gebracht wird. China und Russland können zwar jede Resolution blockieren, aber eine solche Blockade zwänge die beiden Staaten dazu, hier Farbe zu bekennen. Das würde auch uns helfen, hier mehr als nur spekulieren zu können.

Wie gesagt, die Aufarbeitung des Debakels in Afghanistan wird uns wohl noch länger beschäftigen und derzeit hat die Evakuierung der Menschen oberste Priorität. Die politische Aufarbeitung muss aber dennoch bald beginnen und hierfür müssen die richtigen Fragen gestellt werden.

HMS

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