Anders als geplant, aber richtig gut

Zugegeben: Bis zum letzten Sommer hatte ich Marcella Rockefeller musikalisch nicht wirklich auf dem Schirm. Drag-Queen Marcella, die mit bürgerlichem Namen Marcel Kaupp heißt, hatte zwar im Jahr 2014 die achte Staffel von Das Supertalent gewonnen (quasi als Marcella und Marcel), allerdings habe ich die Show nach der ersten und einem Teil der zweiten Staffel nie mehr wirklich geschaut, da ich sie unendlich langatmig, öde und beinahe tragisch unmotiviert produziert und geschnitten fand. Was im Umkehrschluss natürlich nicht bedeutet, dass dies auch für alle Teilnehmer*innen und Gewinner*innen gelten müsse. Marcella Rockefeller ist da schon mal ein starkes Beispiel.

Bewusst wahrgenommen habe ich Marcella Rockefeller als Sängerin im Sommer 2020 durch die gemeinsam mit FASO und Peter Plate (war mal bei Rosenstolz, weißte) aufgenommene Single „Heller (High Heels)“, die eine*n in Corona-Zeiten zum Durch-die-Wohnung-tanzen verleitete, ja beinahe zwang. Bereits im Frühjahr desselben Jahres hatte Marcella die Singles „Der größte Trick“ und „Blauer Sonntag“ veröffentlicht, alle über das Label Milchmusik von Peter Plate und Ulf Leo Sommer. Diese Songs finden sich natürlich auch auf dem am vergangenen Freitag erschienen Album Anders als geplant – Marcella singt Plate & Sommer, das als physische CD erstmal recht zackig ausverkauft war. Gut, dass noch jemand CDs kauft!?

Eine ausgewogene Mischung des Bekannten und des Neuen

Die insgesamt sechzehn Tracks setzen sich aus Neueinspielungen von bereits bekannten Rosenstolz-Nummern und Peter Plate- und Ulf Leo Sommer-Songs (wohl Marcellas Lieblingsliedern) und neuen, für Marcella geschriebenen Titeln zusammen. Diese Mischung funktioniert wirklich gut, zumal sie sicherlich auch einige „alte“ Fans von Rosenstolz sowie Plate-Jünger*innen mit an Bord holen dürfte. Somit lassen sich neben jenen, die Marcella durch das Album neu entdecken, zwei Fangruppen vereinen, was natürlich allgemein fein und auch ökonomisch extrem sinnvoll ist. Ein großes Plus, das schon einmal vorweg, von Anders als geplant ist, dass es sich nicht anhört wie die meisten der jüngeren lebensleidenden und liebesentsetzten Deutschpop-Nummern. 

Foto: Mirko Plengemeyer/Laila Licious

Die Handschrift von Peter Plate (der Marcella via Instagram kontaktierte) und Ulf Leo Sommer ist natürlich nahezu durchgängig zu spüren, was aber auch ein enorm hohes Produktionsniveau bedeutet, was wiederum gerade für ein Album, das während Corona und zwischen verschiedenen Lockdowns aufgenommen wurde, auch nicht selbstverständlich ist. Wenig überraschend dürfte es jedenfalls daher für die meisten sein, dass es sich bei vielen der Titel um mal sehr lebhafte („Wolke“, „Der größte Trick“) und dann wieder eher nachdenkliche und poetische („Schöner war’s mit dir“, „Schüchtern ist mein Glück“) Pop-Balladen handelt. Hier und da aufgemischt durch einen forschen Knaller-Track („Borderline“ oder vor allem natürlich „Heller (High Heels)“), die mitunter allerdings nicht weniger poetisch ausfallen.

Die neu eingesungene Version von „Lass sie reden“, was meiner Ansicht nach nach wie vor einer der besten Rosenstolz-Songs ever ist, ist schlicht wirklich schön und berührend. Der getragene Song büßt nichts von seiner emotionalen Wirkung ein und entwickelt durch die breite und manchmal kratzige Stimme von Marcella noch einmal eine ganz andere Kraft. Auch klasse neu interpretiert ist „Herz eines Kämpfers“, den so manche sicherlich auch von der wunderbaren Patricia Kaas kennen dürften. Nach dem zweiten Hören von Anders als geplant wuchs in mir übrigens der Wunsch, dass Marcella auch einmal „Ich geh auf Glas“ interpretieren sollte. Aber auch schön: „Die Liebe kennt mich nicht“, den Plate und Sommer für ihr Musical „Romeo & Julia“ geschrieben haben, wobei sich hier beide Varianten nahezu identisch anhören.

Schmissig und nachdenklich

Eine gänzlich neue Wirkung wiederum entfaltet der bereits zum Weltaidstag, den 1. Dezember 2020, als Benefiz-Single veröffentlichte Track (sämtliche Lizenzeinnahmen gehen an die Deutsche Aidshilfe) „Ich hab genauso Angst wie du“, der ursprünglich aus dem Jahr 2006 stammt. Im sehenswerten und ergreifend-schaurigen Musikvideo, in dem neben Marcel und Marcella ebenfalls Bambi Mercury zu sehen ist, geht es auch um die Verfolgung Homosexueller, oder direkter: ums Homoklatschen. Am Ende des Videos wird auf den, trotz hoher Dunkelziffer, starken Anstieg politisch motivierter Straftaten aufgrund der sexuellen Orientierung im Jahr 2019 hingewiesen, wie auch darauf, dass dies bei der Vorstellung der Fallzahlen durch den Bundesinnenminister, Horst Seehofer (CSU), keinerlei Erwähnung fand. Ein, von diversen im Bundestag vertretenen Parteien gefordertes, Monitoring im Rahmen eines konsequenten Aktionsplans gegen homo- und trans*-feindliche Hasskriminalität bleibt also dringend geboten.

Ballons und Marcella Rockefeller. // Foto: © Mirko Plengemeyer/Laila Licious

Ebenso glänzt Marcella mit der Power-Ballade oder Bewusstseins-Hymne „Original“, die völlig zurecht im Netz gefeiert wird. Natürlich berührt es uns, dass der Song auch eine Erinnerung und Hommage an ihre 2019 verstorbene Omi ist. In der Sendung Kölner Treff erzählt Marcella auch, wie sie ihr damit ein Denkmal setzen wollte, aber auch Peter Plate und Ulf Leo Sommer hätten so ihren Müttern und Großmüttern ein Andenken setzen können, wie überhaupt allen Muttis und Omis, die uns in unserer Queerness unterstützt haben. Aber auch von diesem emotionalen Angelpunkt abgesehen funktioniert der Song in jeder Hinsicht und hier ist deutlich zu merken, wie sehr Marcella mit ihrer Stimme zu spielen versteht. Sauber.

Ein Happy-Highlight ist und bleibt die nun mehrmals erwähnte und sehr erfolgreiche Sommer-Single „Heller (High Heels)“, die mit ihrem schmissigen Beat und dem Tempospiel im besten Sinne an die grandiose Up-Tempo-Nummer „High Hopes“ von Panic! At the Disco erinnert und hier gibt es nochmals eine ordentlich Menge LGBTIQ*-Stimmung drauf. Spaß und Tanzlust bereitet auch „Sidekick“, speziell die Version in Zusammenarbeit mit BANGERZ, die sich eindeutig bezahlt macht. Mit dieser und „Heller“ schließt das Album dann auch und entlässt uns gut gelaunt in den Corona-Alltag und sicherlich bald wieder in den regulären Alltag oder auch die partygetriebene Nacht.

Anders als geplant ist ein wirklich feines Debütalbum, das im Gesamten mit etwas, das sich fröhliche Melancholie nennen ließe, zu begeistern weiß und hoffentlich auch weit über die queere Community hinaus Gehör und Gefallen findet. Der bisherige Erfolg ist jedenfalls absolut verdient, auf menschlicher wie auch auf künstlerischer Ebene. Und wer will schon keinen Swimmingpool, in dem es schneit?

Das Album könnt ihr hier streamen oder downloaden

Und das Video zu „Original“:

Hinweis: Bei den externen Links handelt es sich NICHT um Affiliate-Links. Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitstzeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert