Back to the roots … and leaves

Nachhaltige Ernährung ist in und das Thema wird schon seit einer Weile in Blogs und Büchern zum Thema Nachhaltigkeit aufgegriffen. Katarina Schickling widmet in ihrem Konsumkompass ein längeres Kapitel und auch Christoph Schulz schreibt in seinem durchwachsenen Buch Nachhaltig leben für Einsteiger (unsere Besprechung folgt), wie wir uns bewusst ernähren können. Bewusst ist vor allem, wenn möglichst wenig Bio-Müll produziert wird, beziehungsweise dieser vermeintliche Müll, sogenannte „Second Cuts“, sogar noch weiter verwendet wird. Die gelernte Köchin Susann Kreihe widmet dieser Thematik gleich ein ganzes Buch. In Die ganze Pflanze – 60 Zero-Waste-Rezepte mit Blatt, Schale, Strunk & Stiel – Regional. Saisonal. Nachhaltig., erschienen im Christian Verlag, ist bereits im nicht mehr ganz so griffigen Titel alles enthalten, was sie in ihrem Buch behandelt. Von den meisten Rezepten sind wir aber nichtsdestoweniger begeistert.

Susann Kreihe widmet sich den Teilen von Obst und Gemüse, die bei den meisten Menschen im Müll landen: Blätter, Stiele, Schalen. Aus diesen zaubert sie spannende Hauptmahlzeiten, Beilagen, Brotaufstriche oder kleine Gimmicks. Ihre Motivation und einige Gedanken beschreibt sie in den einleitenden 25 Seiten, was gut ist, um ein Gefühl für das Buch und die Rezepte zu bekommen. Außerdem wird dadurch noch einmal die Aufmerksamkeit auf die Problematik gelenkt, dass wir in Deutschland jährlich im Schnitt etwa 80 Kilogramm essbarer Lebensmittel wegwerfen. Diesem Problem und einigen Ideen, wie dem entgegengewirkt werden kann, widmet sie die nächsten Seiten mit guten Rezepten.

Vielfältige und gut illustrierte Rezepte

So geil! Kohlrabiblatt-Kimchi // © Christian Verlag / Amalija Andersone / Susann Kreihe

Die Rezepte selbst sind sehr vielfältig und einfallsreich. Einige kennen wir bereits von unserer Oma, die, wie sich herausstellt, gar keine so große Umweltsau war. Andere haben uns erst einmal erstaunt, aber zumeist positiv überrascht. Sie reichen von Tomatenkern-Knoblauchbutter und Karottenschalen-Küchlein über Kartoffelschalenpuffer bis hin zu unserem bisherigen persönlichen Favoriten: dem Kohlrabiblattkimchi 🤤. Die Auswahl der Obst- und Gemüsesorten ist ebenfalls recht ausgewogen und breit und beinhaltet vor allem in Deutschland heimische Sorten. Auf Zutaten, die lange Transportwege durch halb Europa oder um die halbe Welt erfordern, verzichtet Kreihe weitgehend, was auch aus ihrem Bestreben einer nachhaltigen Küche herrührt.

Steht auch noch aus: Aprikosenkern-Mayonnaise // © Christian Verlag / Amalija Andersone / Susann Kreihe

Allerdings gibt es relativ wenige vollwertige Mahlzeiten. Viele Rezepte sind eher als Beilagen oder Essen für die regelmäßige Brotzeit zu verstehen. Darunter fallen die erwähnten Tomaten-Knoblauchbutter oder das Kohlrabiblattkimchi, aber auch die Aprikosenkernmayonnaise oder der Apfelschalenessig. Dieser macht sich super zum Salat, aber sollte besser nicht literweise genossen werden. Außerdem liegt der Fokus recht klar auf Gemüse, was dazu führt, dass sich auch eher wenig Süßspeisen unter den Rezepten befinden. Ganz besonders viel Lob verdienen die vielen und hochwertigen Bilder von Amalija Andersone. Hier wurden scheinbar kaum Kosten und Mühen gescheut und eines der profiliertesten Studios für Kochfotografie aus Lettland beauftragt, die sich darum kümmern, dass jedes optische Detail stimmt. Großer Pluspunkt.

Manche Rezepte sind nicht zu Ende gedacht

Trotz der Originalität der Rezepte, an manchen Stellen bleiben dennoch Fragen offen. Ein wenig sauer ist uns (auch ohne Apfelschalenessig) aufgestoßen, dass sehr oft eine wichtige Zutat gar nicht in der Zutatenlisten aufgeführt ist: Wasser. Manchmal ergibt sich die erforderliche Menge aus dem Rezept, aber manchmal standen wir beim Nachkochen da und mussten erst einmal überlegen, wie viel jetzt sinnvoll und passend wäre. Auch die Menge der verwerteten „Hauptzutaten“ ist manchmal etwas fragwürdig. Für 800 Milliliter Aprikosenkernmilch sind beispielsweise 100 Gramm Aprikosenkerne nötig. Vermutlich müsste hierfür mehr als ein bis anderthalb Kilo Aprikosen gefuttert werden, um ansatzweise in die Nähe der benötigten Zutatenmenge zu kommen.

In einem Zwei-Personen-Haushalt dürfte eine solche Menge nur selten auf einmal anfallen – ähnlich wie 500 – 700 Gramm Kürbisschalen für zwei Gläser (bestimmt schmackhaften) Kürbisschalen-Lavendel-Gelees. Klar, manche Rezepte kann man in der Menge nach unten skalieren und Aprikosenkerne kann man auch über einige Tage sammeln. Aber beide Lösungen klappen nicht immer, denn Kürbisschalen bleiben halt nicht über mehrere Tage frisch. So wird es sich für manch einen Haushalt nicht lohnen, jedes Rezept auszuprobieren. So schreibt Kreihe zwar auch in der Einleitung, dass viele Rezepte für den Vorrat gedacht seien und sich aus größeren Mengen „Second Cuts“ zubereiten ließen, aber für Menschen mit wenig Lagerraum in der Wohnung ist das auch nur bedingt umsetzbar..

Das muss noch probiert werden: Kürbisschalen-Lavendel-Gelee // © Christian Verlag / Amalija Andersone / Susann Kreihe

Bei manchen Rezepten stellt sich außerdem die Frage, wie oft entsprechender Müll anfällt. Wir haben beispielsweise quasi nie Tomatenkerne und haben extra ein zweites Rezept gesucht, um die restliche Tomate zu verwenden – Hauptsache die Kerne (für die dennoch wohlschmeckende Tomatenkern-Knoblauchbutter) fallen irgendwann an. Das wird der Sinn des Buchs quasi ins Gegenteil verkehrt. Als wir Hello Fresh testeten, gab es dort ein Rezept, in welchem Gurkenkerne als ungenannter Rest anfielen und wir wussten nicht so recht, wie diese nun kreativ zu verwenden sein könnten – Die ganze Pflanze hatten wir da noch nicht und so kannten wir den tollen Gurkenkern-Minz-Lassi ebenfalls nicht. Vielmehr führte uns diese Erfahrung dazu, zu dem Thema zu recherchieren und wir stießen auf Die ganze Pflanze – die Kerne aßen wir übrigens.

Nachhaltigkeit muss zu Ende gedacht sein

Ein weiteres Problem: Natürlich wird durch die Nutzung von Pflanzenteilen, die ansonsten weggeworfen würden, Biomüll vermieden, was per se gut ist. Allerdings ist der Nachhaltigkeitsgedanke nicht bei allen Rezepten zu Ende gedacht. Für Kartoffelschalen- oder Gemüseblätterchips und Kürbiskerne beispielsweise muss erst einmal der Ofen für eine halbe Stunde oder länger angeworfen werden. Solange der Strom nicht endlich einfach nur aus der Steckdose kommt und wir über die Gasversorgung und Nord Stream 2 diskutieren müssen, entstehen durch die Nutzung der Abfallprodukte von Obst und Gemüse oft CO2-Emissionen, die es ansonsten nicht gäbe, weil die Zutaten einfach im Müll landen würden. Das ist nur dann nachhaltig, wenn die Chips oder Kerne dann geröstet werden, wenn der Ofen für einen Kuchen oder Braten ohnehin bereits läuft und das Gemüse an der Seite liegen kann. In jedem anderen Fall sind die externen Kosten für die Umwelt beachtlich und wohl höher als das durch Verwertung eingesparte Kohlendioxid.

Eine Hauptspeise: Strunkbratlinge mit Goldhirse und Schmand // © Christian Verlag / Amalija Andersone / Susann Kreihe

Dieses nicht ganz zu Ende Gedachte zeigt sich auch in der Einleitung. Klar, am besten ist es, wenn man Obst und Gemüse direkt vom Bauern auf dem Biohof holen kann oder zumindest vom Wochenmarkt. Das geht aber nicht immer, denn Biohöfe liegen tendenziell nicht in der Stadt und selbst auf dem Land braucht man oft ein Auto oder Fahrrad, um zum Hof zu kommen. Das erfordert Zeit und vor allem Energie, die sich zumeist in Benzin- oder Dieselverbrennung äußert. Und auch zu ein paar Quadratmetern selbst bewirtschafteter Ackerfläche muss man erst einmal hinkommen, wenn man dieses Hobby nicht gerade im Garten ausleben kann.

Meist hält dort aber der Bus nicht oder er fährt nur dreimal täglich hin. Hier ist der Nachhaltigkeitshorizont von Susann Kreihe leider eher auf die Lebensmittel selbst begrenzt, nicht darauf, dass nicht alles Obst und Gemüse von jedem im eigenen Garten hinter dem Haus angebaut werden können und der (individuelle) Transport oder die Zubereitung weitere Emissionen verursachen. Stadtbewohner in einer kleinen Mietwohnung werden also möglicherweise nicht so viel mit dem Buch anzufangen wissen wie eine kleine Familie auf dem Land, die im Garten Obst und Gemüse anbauen und kompostieren kann und gleichzeitig einen großen Keller hat, in dem sie die ganzen, lecker eingekochten Vorräte aufbewahrt.

Dennoch bietet die Einleitung zahlreiche Tipps zum Thema bewusstes Einkaufen, Verstauen, Lagern (auch wenn es dazu eben einen Keller bräuchte), wie auch Hinweise darauf, dass manches mit Vorsicht zu genießen ist und natürlich den Saisonkalender für regionales Obst und Gemüse; ebenso eine tolle Tabelle zum Trendthema Superfood – nur dass ihre Tabelle eben regionale Alternativen aufzeigt. Und natürlich begrüßen wir, dass Susann Kreihe mit leider teils verbreiteten Mythen aufräumt, die besagen, dass Radieschenblätter oder ähnliches giftig seien – stattdessen liefert sie schmackhafte Verwertungstipps für diese bisherigen Gemüse-Parias. Schön.

Fabelhafter Radieschenblätter-Aufstrich // © Christian Verlag / Amalija Andersone / Susann Kreihe

All die Kritik sollte also nicht darüber hinwegtäuschen, dass Die ganze Pflanze ein sehr hochwertig aufgemachtes Buch ist, das spannende Rezepte beinhaltet und richtigen Gedanken und Ansätzen folgt. Auch wenn wir mit manchen Rezepten ehrlich gesagt nicht so viel anzufangen wissen, andere fanden wir äußerst schmackhaft und haben viele bereits mehrfach gekocht und mit großer Freude zubereitet, probiert und probieren lassen. Nachhaltige Ernährung dürfte vor allem dann gelebt werden, wenn sie Spaß macht. Die Rezepte aus Susann Kreihes Buch nachzukochen bereitet jedenfalls sehr viel Freude. Wir empfehlen daher Die ganze Pflanze allen, die ihren ernährungsbedingten CO2-Fußabdruck mit ein wenig gesundem Menschenverstand verringern möchten und gleichzeitig etwas Lust am Experimentieren haben.

HMS, Mitarbeit: AS

Kreihe, Susann: Die ganze Pflanze – 60 Zero-Waste-Rezepte mit Blatt, Schale, Strunk & Stiel – Regional. Saisonal. Nachhaltig.; 1. Auflage, Mai 2020; Hardcover, 192 Seiten, ca. 100 Abbildungen (Fotografien: Amalija Andersone); Format: 19,3 x 26,1 cm; ISBN: 978-3-95961-411-5; Christian Verlag; 24,99 €

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