„Beautyful“ und schmerzhaft

Beitragsbild: Ein Bougainvilleen-Strauch und Baum, beides spielt in Der Tod des Vivek Oji eine Rolle.

Der Verlust eines Kindes gehört sicherlich zu dem Schrecklichsten, was Eltern durchmachen können. Was eine Mutter durchmachen kann. Verliert sie ihr Kind dann noch unter ungeklärten Umständen, in Zeiten, die nicht nur für Umwälzungen im eigenen Land, sondern auch Leben stehen, und sie sich fragen muss, ob sie ihr Kind überhaupt kannte, muss das umso entsetzlicher sein. Ohne Antworten, voller Trauer und Wut wird so eine Leere gefüllt, die zerstört. 

„Es existierte nicht mal für sie“

In Akwaeke Emezis zweitem Roman Der Tod des Vivek Oji findet Kavita eines Tages den Körper ihres toten Sohnes vor ihrer Haustür. Nackt, eingewickelt in bunten Stoff, blutig, das Bein verdreht. Ist er Unruhen im Nigeria der 90er-Jahre zum Opfer gefallen? War es ein Unfall? Ein Verbrechen? Doch wer hat ihn dann ausgezogen, wieder eingewickelt, hierher gebracht? Und wo ist sein Amulett, das er nie, niemals abnahm? Was wusste sein Cousin, Osita, Viveks Bezugsperson? Die Töchter der anderen Familie um die Nigerwives?

Erzählt wird die Geschichte eines in der Handlung zwar nicht angekündigten, aber doch absehbaren Todes durch Rückblenden, Erinnerungen, ganz im Sinne einer Aufarbeitung der Geschehnisse. Dabei wechseln die Perspektiven von Osita, der sich erinnert und einordnet, zu Vivek, der primär aus dem Jenseits kommentiert, beide als Ich-Erzähler, und einer namenlosen Erzählperson, die vorrangig die Ereignisse um Viveks Eltern – Kavita und Chika -, die Freunde dieser, aber auch anderer indirekt am Geschehen Beteiligter beschreibt. 

Dabei baut Akwaeke Emezi die Erzählung nicht streng chronologisch auf, sondern springt hier und da ein wenig durch die Abläufe, was dem Ganzen einen noch anschaulicheren Effekt gibt, schließlich verlaufen auch unsere Erinnerungen wohl eher nicht streng linear. Dadurch aber, dass Emezi sich die Geschichte konzentriert entfalten lässt, entsteht hier kein großes Chaos, außer wenn Chaos erzählt werden soll, sondern vor allem eine fokussierte Betrachtung samt eines begleitenden Krimis. Streng genommen zwei – jene um den Tod Viveks und jene darum ob Vivek, Vivek war, oder nicht jemand anderes, kein Sohn, nicht Vivek.

„Kummer in Tausenden Nadelstichen“

Der Tod des Vivek Oji ist eine Geschichte, die, durch den alleinstehenden ersten Satz – „An dem Tag von Vivek Ojis Tod brannten sie den Markt nieder.“ -, der gleichsam das gesamte erste Kapitel ist, uns nicht nur prompt in ihren kriminologischen Bann zieht, sondern auch schon den sachlichen, naturalistischen Ton, der das Buch prägt, perfekt einfängt und uns Leserinnen und Lesern ganz deutlich zeigt, was wir hier vor uns haben. Sprachgewalt durch galante Klarheit und Schärfe. Doch auch wenn Mutter Kavita unermüdlich nach der Wahrheit hinter Viveks Tod und seiner nackten Leiche vor ihrem Haus sucht, ist Der Tod des Vivek Oji keine Kriminalgeschichte, auch wenn die Frage wie Vivek zu Tode kam und wer aus der Gruppe von Freundinnen und Freunden wovon wusste, sich natürlich durch das Buch zieht und bis kurz vor Schluss unbeantwortet bleibt.

Vielmehr noch aber dreht sich die Geschichte auf der einen Seite um die Verarbeitung von Verlust und Trauer – wozu Gewissheit in Bezug auf das „Wie“ des Sterbens wohl erheblich beiträgt – und auf der anderen Seite um das Aufwachsen und von der ersten Liebe in Zeiten, die von alltäglicher Gewalt, aber auch Liebe, überbordender Religiosität, aber auch gesunder Skepsis, dem Streben nach mehr, aber auch Resignation geprägt waren. Hier bewegt Emezi sich auf einem wirklich weiten Feld, was zumeist aber mühelos gelingt. Durch vermeintliche Nebensächlichkeiten, die in der emotional weitreichenden, erzählerisch aber sehr dichten Geschichte große Wirkung entfalten, beispielsweise wenn eine Freundin Viveks, Juju, darüber spricht, wie unzufrieden ihr Vater damit ist, keinen Sohn zu haben: „Vielleicht würde er Mama seltener schlagen, wenn ich ein Junge wäre.“

„Ich wollte so unversehrt sein wie dieses Wort“

Die Geschichte, geprägt von Gewalt und Liebe, Stolz und Vorurteil, ist sprachlich brillant, nimmt sie uns doch trotz ihrer Sachlichkeit voll und ganz mit. Das ist auch der Übertragung ins Deutsche (immer mal durchsetzt von nigerianischen und englischen Begriffen), von Anabelle Assaf zu verdanken, die prägnante Worte und stechende Formulierungen gefunden hat. Wie schon mehrmals beschrieben, ist das Buch eines voll von Ambivalenzen, alles existiert hier nebeneinander, gleichzeitig, miteinander und steht doch erstmal im Widerspruch. Machtstrukturen, die sich ausgebildet haben, aber bedroht wirken, werden verteidigt, auch von jenen, die gegen sie sind, da Veränderung und Ungewissheit noch unerträglicher scheinen. Liebe gibt es kaum ohne Wut, Freundschaft nicht ohne Härte und eine Mutter darf trauern und wütend sein, dass andere dies ebenfalls tun.

Insbesondere in Bezug auf die Cousins Vivek und Osita gibt es die Liebe nicht ohne Wut, auch nicht frei von Neid (eine Dynamik, die Emezi an einem späteren Punkt auch noch mit einer lesbischen Liebesgeschichte erweitert). Ebenso Verwirrung, nicht nur, was die eigenen Gefühle für das Gegenüber angeht, sondern auch versucht Osita, Sohn einer beinahe fanatisch-religiösen Mutter, zu verstehen, wer Vivek ist. „Etwas“ ihm Unbekanntes, auch wenn er im Gegensatz zu anderen nicht glaubt, dass Vivek besessen oder krank sei, versteht er es dennoch nicht. Emezi erzählt hier die Unsicherheit so nachvollziehbar, wie auch Viveks wachsende Entschlossenheit wiedergegeben wird. Für uns Leserinnen und Leser bleibt es jedoch lange insofern undefiniert, als dass wir den Prozess so mitbekommen, wie er in der Erzählung geschieht. Was uns bei einer Geschichte, die auch immer mal vorgreift, einiges an Respekt abnötigt. 

Dass Akwaeke Emezi, in Nigeria aufgewachsen und selber nicht-binär, hier auch eine persönliche Geschichte erzählt, spüren wir nicht nur durch die unmittelbare Griffigkeit der Sprache, Ereignisse und Figuren, sondern wir wissen es auch durch die Danksagung. In dieser geht der Dank an Freunde, die an der Zahl zur Gruppe im Buch passen, an die Aunties, ebenso wie Bücher und Waffeln. 

So ist Der Tod des Vivek Oji eine umso bemerkenswertere Geschichte, voller Wahrhaftigkeit aber eben auch Wahrheit. Und ein wenig Mythologie. All das fügt sich am Ende zu einer runden, schmerzhaften, wundervollen, intensiven, düsteren und würdevollen Erzählung vom echten Ich. 

JW

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Akwaeke Emezi: Der Tod des Vivek Oji; Aus dem amerikanischen Englisch von Anabelle Assaf; Hardcover mit Schutzumschlag, mit Lesebändchen; 271 Seiten; Eichborn Verlag; ISBN: 978-3-8479-0067-2; 22,00 €, auch als eBook erhältlich

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