Das Wandern ist der Thürmer Lust

In der Wanderszene ist Christine Thürmer fast schon eine Legende. Die Podcaster, Vortragsorganisatoren, etc. reißen sich nach der „professionellen Langstreckenwanderin“, wie sie sich selbst bezeichnet. So auch Erik Lorenz vom Weltwach-Podcast, zu dem wir bereits berichteten. Nicht nur, dass Christine Thürmer zu seinem Buch Abenteuer im Gepäck einen Gastbeitrag lieferte, sondern in Episode 113 seines Podcasts kündigte sie an, dass sie beabsichtige, die „Bibel zu schreiben für Fernwanderer“.

Das hat sie getan und nennt diese Bibel schlicht Weite Wege wandern – Erfahrungen und Tipps von 45.000 Kilometern zu Fuß. Auf knapp 300 Seiten öffnet Thürmer in dem Buch ihre Kiste mit dem Erfahrungsschatz aus einer Reihe von Wanderungen, die sie in den letzten anderthalb Jahrzehnten unternommen hat. Jeder, der sich auf eine Wanderung begibt, die mehr als nur ein paar Tage geht, kann aus diesem Buch etwas lernen, denn Christine Thürmer deckt in Weite Wege wandern quasi alles ab, was einem zu der Thematik an Fragen einfällt.

Das Fernwandern in allen Facetten

Es geht los mit der Motivation. Sie beschreibt, was sie zum Wandern motiviert und welchen Nutzen sie aus Wochen und Monaten unterwegs zieht. Auch wenn uns gleich auf den ersten Seiten eine Wendung begegnet, die uns nur allzu sehr an unsere spezielle Freundin Nic Jordan und ihr Buch aWay, das wir vor einiger Zeit besprochen haben, erinnert – Go with the Flow – ist das Konzept, sich auf eine Reise einzulassen ja nicht verkehrt. Dass wir von Nic Jordan noch immer gebrandmarkt sind, dafür kann Christine Thürmer schließlich nichts.

Schöne Natur ist eine mögliche Motivation für eine Fernwanderung // © Peter von Felbert

Egal, es geht in Weite Wege wandern zuerst um ihre Motivation und dann um die Gründe, die Thürmer oft hört, warum jemand es nicht schaffe, eine lange Wanderung zu unternehmen. Die allermeisten davon entlarvt sie als Mumpitz. Man müsse sich nur genug anstrengen und überwinden und abgesehen von ein paar Extremfällen gibt es fast immer Möglichkeiten, eine Wanderung zu unternehmen. Direkt im Anschluss geht sie auf die Faktoren ein, auf die man bei der Auswahl einer Strecke achten sollte (zum Beispiel das Klima, die Motivation, ob allein oder mit anderen) und berichtet vom Alltag unterwegs. Das sind nicht zuletzt Banalitäten, wie die Versorgung mit Wasser oder aufkommende Langeweile und wie sie diese bekämpft, aber sie sind entscheidende Faktoren, die über den Erfolg und das Durchhalten unterwegs entscheiden werden. Deshalb ist es umso besser, wenn potentiell Fernwandernde sich bereits früh darüber Gedanken machen.

Als überzeugte Ultraleichtwanderin kommt sie nun zum wesentlichsten Teil ihrer „Bibel“: dem Ultraleichtprinzip. Thürmer trägt keine unnützen Dinge mit sich herum und minimiert das Gewicht auf dem Rücken um jedes mögliche Gramm. Das führt dazu, dass sie außer Schlafsachen keine Wechselklamotten dabei hat oder Löcher in den Stiel ihres Löffels (Messer und Gabel braucht es unterwegs sowieso nicht) bohrt. Kleinvieh macht halt auch Mist. Und wie durchdacht – bis ins allerkleinste Detail – das Prinzip des Ultraleichtwanderns ist, merkt der/die Leser/in bei diesem Herzstück des Buchs. Wie sehr Christine Thürmer dabei auf eine fokussierte Planung achtet (anders als beispielsweise Christian Busemann, der eher spontan auf seine Pilgerreise losgezogen ist) und auch von den Mitteln der Digitalisierung profitiert, legt sie im vorletzten Kapitel äußerst anschaulich dar, um abschließend ein paar lange Wanderwege für verschiedene Lebenslagen zu erläutern.

Eine vollständige Gebrauchsanweisung für Weitwanderer…

Uff, das klingt alles erst einmal ziemlich theoretisch und dröge. Und nach Verbotspartei. Man muss dies tun, man darf jenes nicht mitnehmen. Und nicht mal ein Buch oder sonst was, weil ist ja alles zusätzliches Gewicht. Die Frau muss doch nen Schaden haben.

Manchen Dingen muss man auf Fernwanderungen den Rücken zukehren // © Peter von Felbert

Aber nein, ganz weit gefehlt. Weite Wege wandern ist tatsächlich eine Art Nachschlagewerk und eine Zusammenfassung von Dingen und Techniken, die das Weitwandern ermöglichen. Es ist daher eine Gebrauchsanweisung, an die man sich halten sollte, wenn man eine Weitwanderung – einen Thruhike, wie Thürmer es nennt – absolvieren möchte. Aber die ist beileibe weit jenseits des Ikea-Standards, denn sie ist mehr als anschaulich, nachvollziehbar und verständlich und es fehlen am Ende nicht auch noch Schrauben oder andere Teile.

…die Technik und Unterhaltung kombiniert

Thürmer schafft es, in ihrem dritten Buch (die ersten beiden Laufen – Essen – Schlafen sowie Wandern – Radeln – Paddeln nehmen wir uns in den nächsten Monaten vor), einerseits analytisch darzulegen, worauf es beim Weitwandern ankommt und dies mit ihren eigenen Geschichten zu veranschaulichen. Nach mehr als 45 000 Kilometern hat sie so viel Erfahrungsschatz, dass sie ziemlich viele verschiedene Situationen schon erlebt hat und sie ist sich nicht zu schade, auch über Missgeschicke zu berichten oder peinliche Situationen, in denen sie war.

Hunde, Flüsse, Einsamkeit: Manche Schwierigkeit wird man auf einer Fernwanderung überwinden müssen // © Peter von Felbert

Sei es der folgenträchtige Hundebiss in Schweden, die verkorkste Wanderung in Großbritannien oder der halbe Absturz in der Gletscherspalte in Patagonien, bei dem sie fast ihren Schuh verloren hätte und deshalb ihre Wanderung fast hätte abbrechen müssen. Christine Thürmer bietet in Weite Wege wandern eine gehörige Portion Humor, Selbstironie und Reflexion, die diese kurzweilige Kombination mit einer „Bibel für das Weitwandern“ erst ermöglicht.

Das macht es auch möglich, über die eine oder andere Schwäche hinwegzusehen. Die Trailtipps, die sie am Ende gibt, sind nett, aber inhaltlich bieten sie einen leichten Kontrast zu dem, was die vorigen Kapitel liefern. Klar, wer ihr Buch liest, freut sich ganz bestimmt darüber, sich gleich ein wenig inspirieren zu lassen, welche Routen er oder sie nun in Angriff nehmen könnte. Um sich aber inspirieren zu lassen, dazu gibt es vermutlich weitaus umfangreichere Bücher, beispielsweise Walks of a Lifetime, das wir bereits vor einigen Monaten besprochen haben. Fun Fact: Auf Andrew Skurka, der jenen Band mit einem Vorwort bereicherte, kommt auch Christine Thürmer zu sprechen, nämlich auf Seite 123; den Zusammenhang, in dem sie ihn nennt, lassen wir an dieser Stelle einmal offen, aber natürlich geht es um Prozessoptimierung 😉

Ultraleicht bedeutet leider auch viel Plastik

Eine weitere Schwäche hat nichts unmittelbar mit dem Buch zu tun, sondern vielmehr mit der Art zu reisen: die Umwelt. Eigentlich ist es ja gut, viel draußen zu sein und lange Wege zu Fuß zurückzulegen. Man sieht unterwegs sehr viel und spart sich und der Natur Kraftstoff für die Fahrt (von An- und Abreise einmal abgesehen). Aber das Ultraleichtprinzip von Christine Thürmer beinhaltet leider ziemlich viel Plastik. Ob es die vielen Tüten sind, die nötig sind, um die kleinen Gegenstände – Zahnpasta oder Hygieneartikel nutzt sie wegen des Gewichts auch nur in Kleinpackungen und produziert so zusätzlichen Plastikmüll – vor Regen zu schützen, die Tütensuppen und Fertiggerichte – die viele Menschen selbstverständlich auch zu Hause futtern – oder der hohe Anteil an Synthetik in der Kleidung und Utensilien.

Ich pack in meinen Ultraleichtrucksack… leider auch viel Plastik 😕 // © Peter von Felbert

Beim Ultraleichtwandern ist Christine Thürmer mit sehr viel Plastik unterwegs und das trübt diese Art zu reisen leider ein wenig. Natürlich muss man sich ohnehin auch im Alltag oder bei anderen Reisen die Frage stellen, wie der ökologische Fußabdruck ist. Deshalb ist dieses Argument auch nur bedingt aussagekräftig, aber dennoch ist uns diese Beobachtung ein wenig sauer aufgestoßen, auch wenn die Autorin bewusst darauf hinweist, dass sie vorbildlich darauf achtet, keine Verpackungen oder Ähnliches in der Wildnis zu hinterlassen. Das scheint typisch deutsch zu sein, denn auch Julia Finkernagel schilderte in ihrem Buch Immer wieder Ostwärts eine eine ähnliche Erfahrung in Montenegro. Vielleicht – das mal als nur halb ernst gemeinten Denkanstoß – könnte Thürmer das Thema Insekten essen in ihrer täglichen Routine berücksichtigen und so das eine oder andere Fertiggericht einsparen. 😉

Alles in allem ist Weite Wege wandern aber ein überaus anschauliches Buch, das den Leserinnen und Lesern auf überaus unterhaltsame Weise den gesamten Erfahrungsschatz einer der wohl erfahrensten Frauen offenlegt, die es in Bezug auf das Thema Wandern gibt. Christine Thürmer hat also aus unserer Sicht ihr Ziel erreicht und die Bibel für Fernwanderer geschrieben. Nur dass sie sich etwas besser lesen lässt als das knapp zwei Jahrtausende alte Vorbild. Potentielle Zielgruppe sind alle, die sich mit dem Gedanken einer Fernwanderung beschäftigen – vom Abiturienten, zur Managerin zwischen zwei Jobs, dem Mittvierziger in der Midlife-Crisis bis hin zu meiner noch immer sehr fitten Tante, die nächstes Jahr 70 Jahre wird – auch wenn letztere beim Begriff „Thruhiker“ wohl erst mal an ein altes Volk aus Nordafrika denken dürfte 😉 Weite Wege wandern ist ein Buch für jedes Alter, das wir wärmstens empfehlen möchten. 

Christine Thürmer, die wohl am weitesten gewanderte Frau der Welt, hat sich das Ziel gesetzt, „die Bibel fürs Fernwandern“ zu schreiben. Das hat sie mit Weite Wege wandern geschafft, wenn auch am Konzept des Fernwanderns mitunter ein wenig Kritik angebracht ist.

HMS

PS: Nach der Ankündigung im Weltwach-Podcast war sie Anfang 2021 noch einmal dort zu Gast. In Folge 175 spricht sie über ihr Buch. Auch das ist sehr hörenswert!

Eine Leseprobe findet ihr hier (unter „Leseprobe“).

Christine Thürmer: Weite Wege wandern – Erfahrungen und Tipps von 45.000 Kilometern zu Fuß; 3. Auflage, 2020; 304 Seiten; mit 55 farbigen Abbildungen; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-89029-525-1; Malik Verlag; 18,00 €; auch als eBook erhältlich (13,99 €)

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