Dem Drachen begegnen

Der Konflikt um Taiwan entwickelt sich zunehmend zu einem der aus geopolitischer Sicht heißesten der Welt. Auch in Deutschland lässt er uns nicht mehr kalt, so wie es der Aufstieg Chinas mittlerweile generell nicht mehr tut. Gut so, denn China, seine Politik, Kultur, Gesellschaft und Ziele sollten uns hierzulande mehr beschäftigen.

Der ZEIT-Journalist und Buchautor Matthias Naß hat sich über Jahre intensiv mit China befasst und hierzu bei C.H. Beck Anfang 2021 ein Buch veröffentlicht. Drachentanz – Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet greift diese Entwicklungen in Fernost eloquent auf und informiert seine Leserinnen und Leser über die ereignisreichen und wechselvollen Beziehungen „des Westens“ mit dem Reich der Mitte.

Ein Blick in die Geschichte

Gleichzeitig beleuchtet Naß die Hintergründe, die es zu verstehen gilt, um die Bedeutung von Chinas Aufstieg für uns zu erfassen. Nach einem aktuellen Einstieg – wie könnte es anders sein: Corona und Pekings Rolle zu Beginn der Pandemie – erläutert Naß die wesentlichen Stationen in etwas mehr als 70 Jahren Volksrepublik. Von Maos Schreckensherrschaft über die Liberalisierung unter Deng Xiaoping bis zum Aufstieg des heutigen starken Mannes Xi Jinping wirft er einen Blick zurück.

Die Mechanismen in der Kommunistischen Partei sowie den überbordenden Überwachungsstaat behandelt Naß in zwei weiteren Kapiteln. Auch die strikte staatliche Zensur, die vor den Landesgrenzen nicht Halt macht, wie es Clive Hamilton und Mareike Ohlberg in ihrem Buch Die lautlose Eroberung schön illustrieren, findet hier und in manch weiterem Kapitel immer wieder Erwähnung und Erläuterung.

Ein Land voller Konflikte

Anschließend geht es in meist relativer Kürze in die „Hotspots“ Chinas: Zu Xinjiang im Westen, wegen Verfolgung und Unterdrückung der uigurischen Minderheit zu trauriger Berühmtheit gelangt, Hongkong und Taiwan gibt Naß wesentliche Hintergrundinformationen, um die Konfliktlinien und Bedeutung dieser Dispute für die Machthaber in Peking zu verstehen. Etwas überraschend ist allerdings, dass es zu Tibet kein eigenes Kapitel gibt – vermutlich ist die Himalayaregion in der Wahrnehmung der meisten auch integraler Bestandteil Chinas. Eigentlich ist das erstaunlich, war die Angliederung Tibets vor etwa 70 Jahren alles andere als freiwillig und friedfertig und vielleicht sollten wir dies „im Westen“ noch einmal reflektieren.

Nach der Innenpolitik wechselt Naß zur Außenpolitik: Die als „Neue Seidenstraße“ bekannte Belt and Road Initiative wohl wichtigste außen- und handelspolitische Maßnahme ist eines der Flaggschiffe des Regimes in Peking und eines der bedeutendsten Instrumente, um Einfluss auf andere Länder durch Investitionen zu nehmen. Gleichzeitig führt es zu einer Reihe von Abhängigkeiten, fast einer Art neuem Kolonialismus, wie Naß sehr gut herausstellt.

China und „der Westen“

Die zumeist durch wirtschaftliche Punkte dominierte Wahrnehmung Chinas in Europa und Deutschland folgen als weitere Kapitel. Hier zeigt sich auch die gesamte Ambiguität unserer Beziehungen zu China: Einerseits ist es gerade für uns Deutsche ein überaus großer Handelspartner, andererseits scheint zunehmend Unbehagen ob des aggressiven Auftretens Chinas einzukehren. Auch wenn er sich an mancher Stelle wiederholt und auf identische Ereignisse zurückgreift, arbeitet Naß sehr gut heraus, wie in Deutschland und zumindest in Teilen Europas ein Sinneswandel einzusetzen schient.

Letzter großer „Brocken“ in Naß‘ Buch ist die Beziehung zwischen China und den USA. Es nimmt allein etwa ein Fünftel des Buches ein und man mag sich die Frage stellen: Warum sollte dieses Verhältnis für uns so wichtig sein? Wir leben schließlich nicht in den USA, sind diesen nicht erst seit Donald Trump wohl auch etwas übertrieben skeptisch gegenüber eingestellt.

Auf den zweiten Blick ist es aber doch von besonderer Bedeutung. Die USA haben das internationale System seit dem Zweiten Weltkrieg dominiert, mit der Sowjetunion ist der einzige systemische Rivale vor etwa drei Jahrzehnten verschwunden. China hat zumindest in Teilen das Potential und das Streben, die USA als dominante Macht abzulösen oder zumindest mit ihr zu konkurrieren. Auf das beiderseitige Verhältnis zu blicken macht also durchaus Sinn und angesichts der Erzählfreude und überwiegenden Detailgenauigkeit von Naß Interesse.

China: stark und schwach

Matthias Naß beleuchtet also ganz verschiedene Aspekte, die für uns in Bezug auf China und sein Aufstreben von Bedeutung sind. Er bedient sich dabei einer Reihe von Fakten, Ereignissen sowie historischen Entwicklungen und ordnet diese durchgängig sehr gut und journalistisch sauber ein. Ein wenig geschichtliches Grundwissen schadet nicht, aber selbst für Einsteigerinnen und Einsteiger stellt Naß sehr gut nachvollziehbar dar, was Chinas Aufstieg bedeutet.

Er arbeitet darüber hinaus sehr gut heraus, welche Stärken, aber vor allem auch welche Schwächen das chinesische System im Vergleich zu unserem hat. Forschung und Innovation beispielsweise, das lesen wir bei Naß sehr prominent, sind nur möglich, wenn Gedanken frei geäußert werden können und nicht der Zensur unterliegen. Solcher Schlüsse finden wir manche bei Naß, auch wenn es durchaus ein paar mehr sein könnten – der Untertitel von Drachentanz ließe jedenfalls ein paar mehr davon sehr explizit formuliert erwarten.

Nichtsdestoweniger handelt es sich bei Drachentanz um ein überaus lesenswertes Buch, das uns vor Augen führt, welche Macht in Fernost heranwächst und wie wir damit umgehen und umgehen sollten. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer wurde vor Kurzem dafür gescholten, die Fregatte „Bayernins Südchinesische Meer entsandt zu haben – ein völlig unzureichendes Signal sei dies gewesen. Nein, das stimmt nicht. Es signalisiert, dass China zunehmend auf der Agenda steht und Matthias Naß fasst trotz einiger kleiner Schwachstellen gut zusammen, was wir in diesem Zusammenhang über China aktuell wissen sollten. Daher eine dringende Leseempfehlung für Drachentanz.

HMS

PS: John Oliver befasste sich kürzlich in Last Week Tonight mit Taiwan, war verwundert, dass er das in der Sendung noch nicht getan hatte. Den sehr sehenswerten Beitrag findet ihr hier.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Matthias Naß: Drachentanz – Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet; 1. Auflage, Februar 2021; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen; 320 Seiten, mit 20 Abbildungen und 2 Karten; ISBN: 978-3-406-76450-9; C.H. Beck Verlag; 24,95 €; auch als eBook erhältlich

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