Den Puls in die Höhe getrieben

Beitragsbild: Das Buchcover, im Hintergrund: links das Foto einer Futterstelle im Löcknitztal (© the little queer review); rechts ein Kompost (Foto: piotr_malczyk/Getty Images, via Canva)

Diese Rezension ist neben der regulären Besprechung politisch geprägter Bücher auch Teil unserer Kategorie Superdupermegawahljahr 2021.

Unserem Planeten geht es nur bedingt gut. Raubbau, Zerstörung, Umweltkatastrophen. In vielen Beiträgen haben wir uns damit beschäftigt, besonders eindrucksvoll ist das zum Beispiel bei der Dokumentation des britischen Naturfilmers Sir David Attenborough. Alle Dokus nutzen allerdings nichts, wenn man sich nicht direkt an die Orte begibt, die vom Klimawandel unmittelbar betroffen sind.

Den Klimawandel mit eigenen Augen sehen

Die beiden Journalisten Theresa Leisgang und Raphael Thelen haben das getan, zumindest in Ansätzen. Sie sind nach Südafrika gereist mit dem Ziel alle Klimazonen von Süd nach Nord zu durchqueren, die Orte zu besuchen und die Geschichten zu erzählen, die sich jenseits unserer in vielen Punkten gut behüteten deutschen Gesellschaft befinden. Im Goldmann Verlag ist daraufhin ihr Erfahrungsbericht erschienen – Titel: Zwei am Puls der Erde – Eine Reise zu den Schauplätzen der Klimakrise – und warum es trotz allem Hoffnung gibt. Das klingt nach viel Arbeit und Energie, aber grundsätzlich auf jeden Fall vielversprechend.

Theresa Leisgang und Raphael Thelen beginnen ihre Reise in Kapstadt, der Stadt, die kurz vor dem Wassernotstand stand. Von dort fahren sie quer durch Südafrika, weiter nach Mosambik, wo sie Menschen – primär Frauen – treffen, die unter den Folgen des Zyklons Idai vor einigen Jahren leiden. Auf der Weiterreise nach Malawi macht ihnen allerdings im März 2020 Corona einen Strich durch die Rechnung. Mit letzter Mühe schaffen sie es, einen Rückflug nach Deutschland zu ergattern und lassen sich in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt in Brandenburg nieder. Auch aus dieser Zeit gibt es aber Einblicke in ihr tägliches Leben und ihre Gedanken.

Nach einiger Zeit in diesem „Haus des Wandels“ geht es für die beiden weiter nach Großbritannien, erst nach Totnes, eine Kommune von über das Klima besorgte Bürgerinnen und Bürgern, dann in das Protestcamp gegen den Ausbau einer Schnellstraße von London in den Norden von England („HS2“), das Medicine Festival und zu Grow Heathrow, der Protestbewegung gegen den Ausbau des größten Londoner Flughafens. Schließlich schaffen sie es außerdem doch in die Polargegend, nach Nordschweden und Finnland. Von all diesen Orten berichten sie von Begegnungen, Erlebnissen und Gedanken zum Klima, unserer Gesellschaft und zur Zukunft unserer Erde.

Es geht um die Erde – und die Frauen

Erde – das ist nämlich tatsächlich ein Motiv, das das Buch von Anfang bis Ende durchzieht. Wenn Leisgang und Thelen bereits im Buchtitel vom „Puls der Erde“ sprechen, dann ist das mehr als nur eine Metapher. Neben dem Planeten machen sie sich nämlich viele Gedanken über Erde, über Grund und Boden. Sie schreiben über den Wert eines Komposts (nennen sogar ein Kapitel so), über Flächennutzung und -verbrauch, über tauende Permafrostböden und versuchen in manch einem Experiment auch „eins“ zu werden mit der Erde (und nein, damit ist keine Nahtoderfahrung gemeint). Erzählerisch ist das allerdings sehr schön gemacht.

Für viele Missstände, mit denen wir uns global konfrontiert sehen, machen sie patriarchale Strukturen und Verhaltensmuster aus und die Marginalisierung von Frauen. Damit haben sie ein Stück weit auf jeden Fall recht, denn Frauen finden in der Tat zu wenig Gehör, wenn es um die Nutzung der natürlichen Lebensgrundlagen geht. Am Ende schlägt hier allerdings immer eine recht undifferenzierte Kapitalismuskritik durch, die vor allem keine konkreten Lösungsvorschläge bietet, sondern eher subtil zu einer weiteren Verhärtung der Fronten beiträgt.

Und ja, Frauen tragen oft die Hauptlast der Entscheidungen von Männern oder deren Konsequenzen (beispielsweise beim Klimawandel), aber gleichzeitig gibt es auch eine Reihe von Beispielen, in denen Männer und „männliche Verhaltensmuster“ Gutes bewirkt haben oder das noch immer tun. Nicht jeder ist Boris Johnson oder Jair Bolsonaro. Beide folgten in ihren Ämtern übrigens Frauen nach, die ihren Job nur bedingt gut erledigen konnten (Bolsonaro nur mittelbar, denn seine Vorgängerin Dilma Rousseff wurde ein Jahr vor Ende ihrer Präsidentschaft des Amtes enthoben – unter eher fadenscheinigen Vorwänden), nicht zuletzt, das stimmt, auch wegen der Männer und „männlichen Verhaltensweisen“ in ihrem Vor- und Umfeld.

Fast schon Ettikettenschwindel

Was aber fast ein wenig mehr ärgert, ist, dass das Buch einiges verspricht, aber am Ende zu großen Teilen etwas völlig anderes drinsteckt. Wie es im Untertitel heißt: „Eine Reise zu den Schauplätzen der Klimakrise“. Momentan würde man wohl in den Osten der USA oder Kanadas reisen, die unter nie dagewesenen Dürren leiden. Der Anfang in Südafrika passt aber zu der Zielsetzung durchaus, die Meldungen zur dortigen Dürre waren vor anderthalb bis zwei Jahren deutlich vernehmbar. Oder mit Mosambik in eine Region am Indischen Ozean, die von immer heftigeren Stürmen heimgesucht (und aktuell übrigens von der deutschen Öffentlichkeit fast unbemerkt zu einem neuen Hotspot des militanten Islamismus) wird. Die ersten ca. 100 Seiten arbeiten sehr anschaulich die Probleme heraus.

Aber dann: Brandenburg? Großbritannien? Klar, für Corona sind Leisgang und Thelen nicht verantwortlich, so wie wir alle, haben auch sie unter der Pandemie gelitten. Und klar ist, dass beispielsweise auch Brandenburg vom Klimawandel betroffen ist – Fridays for Future demonstriert nicht zuletzt wegen der zunehmenden Versandung der Mark durch Hitzewellen und Waldbrände. Aber anstatt dies als Zwischenetappe mit… sagen wir 20 Seiten zu sehen, widmen sich die folgenden 150 Seiten dem Aufenthalt in Brandenburg und dem Vereinigten Königreich. Das ist lehrreich für das Autorengespann sowie die Leserinnen und Leser, keine Frage, aber etwas völlig anderes als das, was die beiden im Buchtitel und ihrer Einleitung schreiben. In der Schule nannte man das früher „Themaverfehlung“ und brachte die entsprechende Note, selbst wenn die Erzählung in sich schlüssig sein mag.

Von einem Buch wie Zwei am Puls der Erde würde man sich erwarten, dass sie wirklich die Hotspots besuchen, die Kipppunkte, über die immer wieder gesprochen wird. Der Regenwald im Amazonas, der sibirische Permafrost oder das tauende grönländische Eisschelf. Die meisten finden zwar Erwähnung, aber das erst zu sehr spätem Zeitpunkt und eher als beiläufige Randnotiz. Stattdessen gibt es Lagerfeuer und Sozialsessions in der Brandenburger Kommune – fast wie im Tatort: Das ist unser Haus aus Stuttgart. Da sind ausführliche Berichte von den Auswirkungen des Klimawandels wie der der Norwegerin Line Nagell Ylvisaker aus Spitzbergen tausendmal wertvoller als soziale Experimente vor dem Komposthaufen.

Grenzüberschreitungen

Darüber hinaus sind manche der geschilderten Erlebnisse und Erfahrungen schlichtweg grenzwertig. Damit sollen nicht die erfreulichen Erfahrungen des Community Building gemeint sein, Recycling und ein höheres Bewusstsein für die Konsequenzen menschlichen Handelns. Aber das Bewusstsein erweitern sie stattdessen mit so mancher Droge (so wie das beispielsweise Nick Martin in Südamerika auch beschreibt) und erläutern diese Erfahrungen den Leserinnen und Lesern. Oder schlimmer: Die Blockade der HS2 in England ist illegal und dennoch machen die Aktivistinnen und Aktivisten in vollem Bewusstsein ihrer Taten weiter. An einer Stelle heißt es bei Leisgang und Thelen:

„Knapp dreißig Aktivistinnen insgesamt, alle tragen ihre Corona-Maske, die heute vor Viren und der Identifizierung durch Videoaufnahmen gleichermaßen schützen soll. […] Alle bekommen einen weißen Maleranzug zum Überziehen. Einige ziehen noch Plastiktüten über ihre Schuhe, um später auf Filmaufnahmen nicht an ihren Schuhen erkannt werden zu können.“

Theresa Leisgang, Raphael Thelen; Zwei am Puls der Zeit, S. 214

Das ist an dieser Stelle offenkundig weit jenseits von „zivilem Ungehorsam“. Das ist eine Straftat. Und zwar im vollen Bewusstsein der Beteiligten. Und da, Verzeihung, sollte völlig unstrittig sein, dass das jenseits dessen ist, was in einem Rechtsstaat als legitim angesehen werden sollte. Klar, die Aktivistinnen und Aktivisten, die den Hambacher Forst oder den Dannenröder Wald besetzt haben oder auch „nur“ vor wenigen Wochen Chaos in der Rigaer Straße in Berlin gemacht haben, werden entgegnen, dass es sich um einen Missbrauch staatlicher Gewalt, um unausgegorene und falsche Entscheidungen von bösen Politikern gehe. Solche Einstellungen kommen jedoch eher einem kollektiven Aufschneiden der demokratischen Pulsadern gleich und führen zum Ausbluten gesellschaftlich weithin akzeptierter Grenzen und Standards.

Der persönliche Puls geht hoch

Gleichwohl: Diese Zielgruppe wird in Zwei am Puls der Erde definitiv ein Buch sehen, das sie in ihrer Haltung und ihren persönlichen Überzeugungen noch bestärkt. Aber Fakt bleibt dennoch, dass es sich hier um Gesetzesverstöße handelt und dass demokratisch festgelegte Prozesse von demokratisch gewählten Politikern untergraben werden. Gewalt und Gesetzesverstöße können nicht die Lösung sein, um demokratisch legitimierte Entscheidungen willkürlich zu revidieren. Theresa Leisgang und Raphael Thelen aber verharmlosen dieses Vorgehen und legitimieren es sogar noch. Das erschüttert und verärgert uns und es liefert nicht einmal die Lösungsansätze oder die „Hoffnung“, die ebenfalls im Untertitel des Buches angekündigt wird. Im Gegenteil, Lösungen und Hoffnung liefern die beiden nicht.

Es gibt so viel Literatur darüber, wie wir der Erderwärmung begegnen können und sollten. Es ist mehr als wichtig, dass wir uns mit diesem Problem heute auseinandersetzen, nicht morgen. Aber Zwei am Puls der Erde fällt in dieser Kategorie leider negativ auf, zumindest für eine bürgerlich-liberale Leserschaft. So gut das Buch gemeint ist – der Grundgedanke und die ersten Stationen sind wie gesagt äußerst charmant – so wenig gut ist die Umsetzung von Theresa Leisgang und Raphael Thelen.

Die beiden illustrieren erst sehr eindrücklich die Schwierigkeiten der Adaption an den Klimawandel im südlichen Afrika. Danach wandelt sich das Buch aber in eine im eigenen Saft schmorende Lektüre über die Stärkung lokaler Communities (noch vertretbar), die zurecht immer wieder kritisierte Marginalisierung von Frauen, dann jedoch teils gewaltverherrlichende Protestmaßnahmen (nicht mehr vertretbar). Das ist nicht mehr Aufklärung, das ist in großen Teilen verantwortungslos und bringt uns im demokratischen Diskurs nicht weiter. Von daher könnte die Erde auf dieses Buch verzichten. An ihrem Puls würde sich dadurch nicht viel ändern, aber den so mancher Leserinnen und Leser treibt es doch eher nach oben.

HMS

Zwei am Puls der Erde von Theresa Leisgang und Rappel Thelen

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Theresa Leisgang, Raphael Thelen: Zwei am Puls der Erde – Eine Reise zu den Schauplätzen der Klimakrise – und warum es trotz allem Hoffnung gibt; Paperback, Klappenbroschur; 320 Seiten; Goldmann Verlag; ISBN: 978-3-442-31596-3; 16,00 €; auch als eBook erhältlich

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