Der vergessene Prinz

Stell dir vor, du willst ein Buch veröffentlichen, das es eigentlich gar nicht geben dürfte, weil darin Verpöntes, Verbotenes und Verschwiegenes im Mittelpunkt stehen, also veröffentlichst du es im Eigenverlag und hast im Untergrund Erfolg damit, plötzlich aber verschwindet es durch einen Militärputsch und bleibt für beinahe dreißig Jahre unentdeckt, dann findet es jemand auf einem Flohmarkt und beschließt einen Film daraus zu machen, doch die interessierte Klientel zweifelt daran, dass es eine wirkliche Romanvorlage gibt und glaubt an eine Finte des Filmemachers, bis schließlich der wahre, wenn auch unter Pseudonym arbeitende, Autor gefunden wird und die Beteiligten sich zur Veröffentlichung einer Geschichte plötzlich in einer weiteren Erzählung wähnen. 

So bekommen die Leser*innen mit dem Ende September 2020 im Albino Verlag erschienen Buch Der Prinz quasi zwei Geschichten geliefert: Die eigentliche Erzählung von Mario Cruz aus den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts und das ausführliche Nachwort im Sinne einer Spurensuche des Literaturwissenschaftlers und Dramaturgen Florian Borchmeyer. Das Schöne hieran ist, dass sich das Nachwort perfekt in die Erzählung einfügt und beim Lesen das Gefühl entsteht, einer Art Update der Geschichte zu folgen, welches uns gleichsam mehr Kontext zum eigentlichen Text gibt und somit eventuelle Lücken füllt.

„Niemand würde es wagen, mich zu beleidigen.“

Die Geschichte des chilenischen Untergrund-Hits ist im Grunde eine simple: Der Prinz spielt zur Zeit des sozialistischen Chile unter Salvador Allende. Der junge Jaime ersticht aus Alkohol erzeugter Wut seinen heimlich von ihm begehrten, definitiv beneideten Saufkumpanen, „den Zigeuner“ („El Gitano“). Im Gefängnis landet er in einer Gruppenzelle, die von „El Potro“ („der Hengst“) beherrscht wird. Schnell wird Jaime zu dessen Favoriten, seinem neuen „Prinzen“ und steht unter seinem Schutz. Die Beziehung gibt Jaime vieles, so auch eine lang ersehnte Vaterfigur und lang erhoffte Anerkennung. Durch einen neuen Häftling allerdings scheint sich das Machtgefüge im Knast zu ändern und auch Jaimes Drang nach mehr Eigenständigkeit steigt. 

Wie bereits erwähnt war der Roman lange Zeit verschollen. Erschienen 1972 im Eigenverlag und im Untergrund der zurückhaltenden, öffentlich im Grunde kaum auftauchenden Schwulenszene („aufmerksamkeitsgeile Sodomiten“, vgl. S. 115) heiß gehandelt, erlebte Der Prinz bis zum Putsch Augusto Pinochets im Jahr 1973 mehrere Auflagen. Die hier vorliegende Übersetzung ist die erste Wiederveröffentlichung seit der damaligen Zeit. Somit war das faszinierende Buch nicht nur damals eine Rarität sondern ist es im Grunde heute noch. 

Das Originalcover von „El Principe“ aus dem Jahre 1972. // © Mario Cruz, Salzgeber Buchverlage GmbH

Es darf behauptet werden, dass Der Prinz eines der ersten Bücher, wenn nicht das erste Buch, sein dürfte, das von schwulen Beziehungen und schwulem Sex ohne Umschreibungen in dem katholischen Land erzählt. Dazu noch von übergriffigen Wärtern und einer in sich brutalen und oft lieblosen Gesellschaft. So ist auch die Mischung von selbstverständlicher Gewalt und zärtlicher Liebkosungen und Gesten im Gefängnis naheliegend und zu keinem Zeitpunkt gekünstelt.

„Der Alkohol machte mich eingebildet, tollkühn.“

Exakt so verhält es sich auch mit der Sprache des von JJ Schlegel fein übersetzten Buches. Sie ist zuweilen von einer distanzierten Brutalität, auch dann, wenn es um die sich gegen den Ich-Erzähler Jaime angewandte Gewalt handelt. Als Leser*innen spüren wir förmlich, wie Jaime versucht sich damit nicht nur seiner unzweifelhaften Männlichkeit zu versichern, sondern auch Abstand vom erlittenen Leid zu gewinnen. Sanfter, wenn auch nicht blumig, ist sie, wenn er von wachsender Nähe und Normalität gewordenen menschlichen Ritualen berichtet.

Eine weitere erzählerische Ebene sind die eigebundenen Rückblenden: Wer war Jaime kurz vor dem Gefängnis und wie kam es zu der Tötung des Zigeuners? Hier ist Jaime unerfahren, so manipulierbar wie manipulativ, zu arrogant für seine eigene Persona und nicht zu wenig Arschloch. Er ist ein manchmal reflektiertes, sich selbst überschätzendes Kind, das ein begehrter und respektierter Mann sein möchte, aber auch aus Mangel an Vorbildern, ohne zu wissen, was das eigentlich bedeutet. So klingt die Sprache in diesen Teilen verfälscht selbstsicher, insbesondere wenn er seinen Mithäftlingen von der Vergangenheit berichtet und sich aufplustert. Doch, wie wir erfahren: Alle lügen, schmücken aus. Viel wichtiger ist es, ein guter Erzähler zu sein. Und das ist Jaime.

Sprache ist in Der Prinz alles, und somit ist erneut die exzellente, uns prompt in die Geschichte und diese unbekannte, etwas abstruse, oft rohe, gnadenlose und doch nicht gefühllose Welt ziehende Übersetzung zu erwähnen. Es scheint keine Gefühlsregung, keine auch noch so leichte Stimmungsschwankung verloren zu gehen. Greifbar werden Zuneigung, Wut, Angst, Hoffnung, Begehren, Wertschätzung, Missgunst, Neid und Lust beschrieben. Ebenso wirken auch die sexuellen Szenen nicht, als würden wir es mit einem Edelporno für die Boheme zu tun haben. Vielmehr ermöglichen sie eine emotionale Erfahrbarkeit jenseits ausschließlich körperlicher Reaktionen. Auch ist der Sex selten mit Gewalt verknüpft. Zwar geschieht er zumeist im Rahmen ungeschriebener, aber festgesetzter Hierarchie-Gesetze, doch erleben wir ihn als eine Art einvernehmlicher Befreiung. Vor allem wenn auch hier Rollenmuster aufgebrochen werden. 

„Aber weil nichts ewig dauert, fand ganz plötzlich auch meine pessimistische Phase ein Ende.“

An sich sollte Der Prinz als Buch in Deutschland mehr oder weniger parallel mit der Verfilmung von Sebastián Muñoz (der die Geschichte wiederfand) veröffentlicht werden, der Kinostart wurde jedoch aufgrund der aktuellen Corona-Situation verschoben, die Veröffentlichung des Buches hingegen glücklicherweise nicht. Der Film ist allerdings inzwischen bei Salzgeber als DVD und Video-on-Demand veröffentlicht worden (wir besprechen ihn in Bälde). Es lassen sich übrigens so auch einige Parallelen der damaligen Zeit zur heutigen Welt finden (nicht nur im Nachwort). Viele der gesellschaftskritischen Anklänge mögen zwar nicht direkt übertragbar sein, doch manche strukturellen Probleme bleiben unterweilen im Kern zumindest ähnlich. Auch merkt man dem Buch Mario Cruz’ Tätigkeit als Reporter und Redakteur in der Boulevardpresse Santiago de Chiles an, natürlich vor allem an Stellen, in denen er deren Wirken auf einigermaßen garstige Art in die Erzählung einbindet.

Nicht zuletzt macht das Buch uns Leser*innen dank eines ausführlichen Glossars mit der chilenischen beziehungsweise spanischsprachigen Welt vertraut. Jaime schwärmt von anderen Orten, Künstler*innen, Sport und weiteren Dingen, die allesamt im Glossar erläutert werden, wofür ein Großteil der interessierten Leser*innen dankbar sein dürfte. In diesem Zusammenhang sei auch die großartige Nacherzählung Jaimes der Handlung des Films Ein kurzer Sommer erwähnt, die zwischen die Strophen des Tango-Hits „La Cumparista“ eingebunden wird und in einen materiellen Wunsch Jaimes mündet (vgl. S. 70 ff.). Dieser Teil von Der Prinz ist schon so bemerkenswert, durch die zusätzlichen Informationen im Glossar wird er aber vollends abgerundet.

Der Prinz ist ein beeindruckendes, brutal schönes, menschliches, sprachlich wunderbares und nicht zuletzt anregendes und unterhaltsames Buch. Es zählt zu meinen Belletristik-Highlights des Jahres und ich bin dankbar, dass es wiederentdeckt und zuerst bei uns wiederveröffentlicht wurde. 

JW

Unseren ersten Eindruck zum Buch findet ihr hier.

Mario Cruz: Der Prinz; 1. Auflage, September 2020; 128 Seiten; Originalausgabe erschienen 1972 unter dem Titel „El Principe; Übersetzung aus dem chilenischen Spanisch: JJ Schlegel; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-86300-294-7; Albino Verlag; 18,00 €; auch als Ebook erhältlich (12,99 €)

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