Die erste Liebe & ein tiefes Trauma

Beitragsbild: Jonas (Félix Maritaud) & Leonard (Ilian Bergala) / © Edition Salzgeber

Der 33-jährige Jonas (Félix Maritaud) sitzt in einem Polizeiwagen, die Polizistin erinnert sich nach einen Blick in seinen Personalausweis an ihn – sie waren gemeinsam auf der Schule und er wollte nicht neben ihr sitzen. Wieso er sich denn öfter im Schwulenclub „Boys“ prügele, wird er wenig später gefragt. Die Antwort bleibt er schuldig, sie wird uns aber im Lauf des sich auf zwei Zeitebenen entwickelnden Dramas Jonas – Vergiss mich nicht (im deutschen Verleih bei Salzgeber) beantwortet werden.

Vom schüchternen Außenseiter zum polternden Stecher

Jonas (Nicolas Bauwens) ist 15 Jahre alt, gerade in die neunte Klasse gekommen, Typ klassischer Außenseiter, und bis auf jene Mitschülerin, die später Polizistin werden soll, redet kaum jemand mit ihm. Dann taucht Nathan (Tommy-Lee Baïk) auf. Der scheint verwegen, nicht nur wegen seiner Narbe, sondern er lässt sich auch nichts gefallen, simuliert Ohnmacht um den Geschichtsunterricht zu schwänzen und gibt dem homophoben Mitschüler etwas zum Nachdenken mit auf den Weg. Jonas und er bandeln an, es gibt den ersten Kuss, die erste Beziehung. Dann eines Nachts nach einem Kinobesuch eine fatale Entscheidung des übermutigen Nathan und nichts ist mehr wie es war.

Nathan (Tommy-Lee Baïk) & Jonas (Nicolas Bauwens) / © Edition Salzgeber

18 Jahre später quälen Jonas die Erinnerungen, er kann nicht loslassen, drum eben Exzess: saufen, ficken, prügeln. Reihenfolge scheint flexibel. Als sein Freund ihn rauswirft, es reicht ihm mit Jonas: „Du mit deinem Grindr-Profil. Diesen abgeranzten Typen die du bumst. Ihr verschwindet von hier.“ Jonas widmet sich zuerst seiner Arbeit als Krankenträger, dann einem vermeintlichen Date, um am Ende ziellos durch die südfranzösische Hafenstadt Toulon zu streifen, bis er (zufällig) in einem Hotel landet und dort auf Leonard (Ilian Bergala) trifft, einen Jungen, den er schon seit einiger Zeit dezent verfolgte. Ist dieser 18-jährige Leonard der Schlüssel, der es Jonas erlauben wird, die Geister der Vergangenheit zu konfrontieren?

Ein Trauma

Ein zu bewältigendes Trauma ist ein immer wieder gern verfilmtes Thema – es funktioniert theoretisch als Drama, Dramedy, auch als Horrorfilm und als düsterer Thriller erst recht. Praktisch funktioniert das dann nicht immer so toll. Manchmal aber, da klappt das recht gut und das ist hier glücklicherweise der Fall.

Der erste Langfilm von Christoph Charrier ist nicht nur mit dem Shooting-Star des französischen Art-House der letzten Jahre Félix Maritaud in der Hauptrolle des gequälten, sich selbst quälenden, permanent auf der emotionalen Flucht befindlichen erwachsenen Jonas kongenial besetzt, sondern trumpft auch mit einer gekonnt verknüpften Spiegelung von Vergangenheit und Gegenwart auf. Nicolas Bauwens als jugendlicher Jonas ist ebenfalls passend gewählt, ebenso Aure Atika, die Nathans Mutter vielschichtig spielt. Ein wenig leidet der Film allerdings unter der eher gedämpften Leistung von Tommy-Lee Baïk, der als Nathan zwar frech-charmant, aber doch eher flach bleibt. Das wiegt recht schwer, denn schließlich bildet sich Jonas’ Trauma aus seiner Verbindung zu Nathan.

Jonas (Félix Meritaud) / © Edition Salzgeber

Dieses Trauma dann aber wieder glaubhaft zu vermitteln, daran haben sowohl das Drehbuch, geschrieben von Charrier, als eben auch die Leistung Maritauds gleichsam ihren Anteil. Somit konzentriert sich der Zuschauer primär auf die Frage, wie er denn wohl mit einem ähnlichen Trauma umginge und wie viel Schuld er bereit wäre, sich aufzuladen.

Spannend und emotional intensiv

Charmant ist auch die zeitliche Einordnung des Films – die Welt hat gerade Lady Di verloren, Don’t Speak läuft hoch und runter, Gameboys sind das große Ding und im Kino gibt es Gregg Arakis Nowhere, was natürlich ein sehr schöner (weiterer) Verweis aufs New Queer Cinema ist.

Hinzu kommt ein nicht unwesentlicher Grad an Spannung. Denn was genau im Jahre 1997 geschehen ist und wer der junge Mann ist, den Jonas 2015 beobachtet und kennenlernt, wird erst recht spät und dann auch sehr effektiv enthüllt. Erneut in einer gekonnten Verknüpfung von Damals und Heute. Das hat dann auch einen entsprechend starken emotionalen Effekt und wird einen sicherlich noch einige Zeit nach Filmende beschäftigen.

Was Christoph Charrier hier in seinem ersten Langfilm abliefert, ist großes, intensives Kino, das selbst durch dezente Gesten große emotionale Schlagkraft entfaltet. 

AS

© Edition Salzgeber

Jonas – Vergiss mich nicht; Frankreich 2018; Regie & Drehbuch: Christophe Charrier; Musik: Alex Beaupin; Darsteller: Félix Maritaud, Nicolas Bauwens, Tommy-Lee Baïk, Aure Atika, Marie Denarnaud, Ilian Bergala; Laufzeit: ca. 85 Minuten; FSK: 12; Salzgeber; erhältlich auf DVD, VoD und Download

Aktuell ist er in der arte-Mediathek zu sehen.

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