Die geheime Seuche

Nach einem Pestausbruch im stalinistischen Moskau setzt der Geheimdienst NKWD all seine Mittel in Bewegung, um die Infektionskette zu brechen. Ljudmila Ulitzkajas Theaterskript Eine Seuche in der Stadt illustriert ganz wunderbar die Chancen und vor allem die Gefahren von totaler Überwachung. Angesichts von Corona könnte das nicht aktueller sein.

Das chinesische Krisenmanagement beim Ausbruch des Coronavirus in Wuhan wird vom dortigen Regime, aber auch von dem einen oder anderen Journalisten hierzulande als Erfolg gefeiert. Ein unabhängiges Team der Weltgesundheitsorganisation WHO untersucht derzeit die Vorkommnisse in der chinesischen Metropole.

Es ist zu vermuten, dass auch die chinesischen Geheimdienste eine wichtige Rolle beim Informationsfluss und der Seuchenbekämpfung gespielt haben. Lange Zeit unbekannt gab es wohl 1939 einen ähnlichen Fall in Moskau. Dort brach auf kleinem Raum die Pest aus und konnte nur durch schnelles Handeln der politisch und medizinisch Verantwortlichen und wohl auch des damaligen Geheimdiensts NKWD eingedämmt werden. Die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja widmet sich in ihrem Ende Januar 2021 im Hanser-Verlag erschienen Theaterskript Eine Seuche in der Stadt der Thematik mit großer Eindrücklichkeit.

Der Geheimdienst hilft bei der Eindämmung

Zur Handlung: Der Mediziner Rudolf Iwanowitsch Mayer wird von seiner Forschungsstation Saratow (ca. 800 Kilometer südöstlich von Moskau) in die Hauptstadt beordert, um dort vor dem Volkskommissariat für Gesundheit über den Fortschritt seiner Entwicklungen zu einem Impfstoff gegen die Pest Auskunft zu geben. Er infiziert sich versehentlich vor der Reise und trägt die Seuche nach Moskau. Dort wird er in ein Krankenhaus eingeliefert, aber es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Seine Kontakte von der Anreise, im Hotel und beim Volkskommissariat müssen ausfindig gemacht und isoliert werden, um die Pest umgehend einzudämmen. Der in der Bevölkerung gefürchtete Geheimdienst NKWD setzt all seine Mittel ein, um hier zu unterstützen.

Dass Geheimdienste beim Machterhalt in totalitären Systemen eine wichtige Rolle spielen, ist bekannt. In Tito – Der ewige Partisan beschreibt Marie-Janine Calic sehr eingehend die durch den NWKD durchgeführten Säuberungen nicht zuletzt in der stalinistischen Intelligenzia und des jugoslawischen Geheimdienstes UBDA in Titos Staat. Und sogar Julia Finkernagel hängt auf ihrer Reise in der Transsibirischen Eisenbahn wohl ein Geheimdienstbeamter auf den Fersen. Sie sind nicht umsonst gefürchtet. Ein im Buch vorkommender „Sehr Mächtiger Mann mit georgischem Akzent“ jedenfalls instruierte 1939 den NKWD mit größter Selbstverständlichkeit, die Kontaktketten nachzuverfolgen und zu isolieren.

Wie die NWKD-Offiziere dabei vorgegangen sein könnten und auch unter welchem Druck sie selbst standen, zeigt Eine Seuche in der Stadt mit größter Klarheit. Ja, der Geheimdienst war ein wichtiges Mittel des Terrors und der Säuberung, aber in dem von Ulitzkaja geschilderten Fall erwies er sich ebenso als überaus effizient und entscheidend bei der schnellen Eindämmung der Pest in Moskau. Ihr Theaterstück illustriert somit gleichzeitig die Gefahr, die vom NKWD ausging, wie auch die Schlagkraft und den Vorteil, den ein solcher Apparat in dieser Situation mit sich bringen kann.

Überwachung: Mittel der Sicherheit oder des Terrors?

Ulitzkaja beschreibt in ihrem äußerst lesenswerten Nachwort sehr eindrücklich, wie die Perspektive sowohl auf Vorteile des Überwachungsapparats als auch auf den möglichen davon ausgehenden Terror in diesem Fall tatsächlich nutzte, um durch einen kurzen, kräftigen Einsatz menschlicher Mittel, die Natur zu überlisten und die (menschengemachte) Infektionskette zu brechen – auch wenn damit Freiheitseinschränkungen einhergingen. Dass diese in einem gewissen Umfang tatsächlich gerechtfertigt sein können, sehen wir auch heute in Zeiten von Corona. Wie wichtig das Zusammenspiel von Freiheit und Gesundheit ist, haben wir unlängst in Die amerikanische Krankheit von Timothy Snyder erfahren, aber wie bedeutend auch die temporäre Einschränkung der Freiheit für die Gesundheit sein kann, wird in diesem Theaterstück sehr deutlich.

Gleichwohl ist Eine Seuche in der Stadt alles andere als eine Verharmlosung des Terrorregimes, in dem der NKWD diente. Im Schicksal des Mitglieds des Volkskommissariats für Gesundheit Alexej Iwanowitsch Shurkin wird ganz zu Ende deutlich, wie Stresssituationen gerne auch missbraucht werden können. Von mangelnder Distanz oder Kritik kann also keineswegs die Rede sein.

Aus 1978 – und heute aktuell wie nie

Das Skript stammt bereits aus dem Jahr 1978, erblickte aber erst jetzt das Licht der Außenwelt. Als sie – wie so viele andere – im Zuge von Corona ihre Wohnung entrümpelte, fiel es Ljudmila Ulitzkaja nun wieder in die Hände und wurde jetzt erstmalig veröffentlicht. Laut Aussage in ihrem Nachwort handelt es sich bei dem Ausbruch um eine wahre Begebenheit, die von der sowjetischen Führung lange geheim gehalten und für den Zweck ihres Stücks um fiktive Handlungsebenen ergänzt wurde.

Sei es die Diskussion über temporäre Grundrechtseinschränkungen, die in vielen Augen als Flop gesehene Corona-App (die anders als der NKWD nicht auf Überwachung sondern auf Nachvollziehbarkeit ausgelegt ist) oder die zu erwartenden Ergebnisse der WHO-Untersuchung: Eine Seuche in der Stadt ist ein Buch, das mehr als gut in die aktuelle Zeit passt, selbst wenn es erst nach mehr als 40 Jahren das Licht der lesenden Welt erblickt. Besonders – aber selbstverständlich nicht nur – für Querdenker und Janas-aus-Kassel ist es ein überaus lehrreiches Stück, denn es illustriert ganz fabelhaft das Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit durch Überwachung und ruft seinen Leserinnen und Lesern die Methoden eines wahren Terrorregimes in Erinnerung.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt; übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt; 1. Auflage, Januar 2021; 112 Seiten, Hardcover; ISBN: 978-3-446-26966-8; Carl Hanser Verlag; 16,00 €; auch als E-Book erhältlich

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