Die grüne Macht ist keine Öko-App

Wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre, käme laut dem letzten ZDF-Politbarometer vom 28. Januar 2021 die Union (CDU und CSU) auf 37 Prozent, die SPD läge bei 15 Prozent und die Grünen kämen auf 20 Prozent. Die drei Parteien stehen somit unverändert zur letzten Befragung vom Dezember 2020, was auch schon einmal eine gewisse Aussagekraft besitzt. Eine Veränderung allerdings gibt es im Sexy-Politiker*innen-Ranking: Die Grünen-Co-Vorsitzende Annalena Baerbock taucht darin nach einer Zeit der Abwesenheit auf der Skala von +5 bis -5 mit dem Durchschnittswert 0,9 auf und liegt nur knapp hinter Robert Habeck, der mit dem Wert 1,1 vertreten ist. 

Die Grünen finden sich als Oppositionspartei in Umfragen seit geraumer Zeit als zweitstärkste Kraft auf Bundesebene, regieren in elf Bundesländern mit, stellen in einem den Ministerpräsidenten und ihre beiden Vorsitzenden rangieren in der Beliebtheit bequem zwischen den Mitgliedern der derzeitigen Regierung, wenn auch mit weitem Abstand zu Angela „Mutti“ Merkel, aber hey… Wen wundert das? Eher dürfte es manche wundern, wie die Grünen so zumindest gefühlt plötzlich in der Mitte angekommen scheinen und ihre Spitzenpolitiker*innen nicht mehr primär als nervtötend, arrogant und verbissen gelten. Für all jene gibt es nun das Buch zur Echtzeit-Show: Die grüne Macht. Wie die Ökopartei das Land verändern will vom Leiter des Parlamentsbüros der taz und gleichsam langjährigen Beobachter der Partei Ulrich Schulte erscheint gerade bei Rowohlt Polaris

Ein Buch auch für Skeptiker*innen

Ulrich Schulte beackert das Feld der Grünen in zwanzig thematisch gut sortierten Kapiteln von ihren Anfängen und ihrer Geschichte, die er sich von Reinhard Bütikofer in drei Phasen einordnen lässt (Protestpartei, Projektpartei, Orientierungspartei), über eine knackige aber doch tief gehende Vorstellung von Annalena Baerbock und Grünen-Poster-Denker Robert Habeck, zu internen Strukturierungs- und Flügelanpassungsprozessen, inhaltlichen Positionsfindungen der Partei, dem Kontrast zwischen Wort und Handlung bis hin zu einem Ausblick auf eine Zeit, in der wahlweise Baerbock oder Habeck Kanzlerin sein könnten. 

Projektion vom 28.1.2021: Wenn am nächsten Sonntag wirklich Bundestagswahl wäre… dann wären Die Grünen noch immer zweitstärkste Kraft. // © ZDF/Forschungsgruppe Wahlen

Es ist eine große Stärke des Buches, dass Ulrich Schulte es durch seinen entspannten, aber nicht laxen, manchmal beinahe liebevollen, sicherlich aber nicht unkritischen Ton schaffe dürfte, auch so manche Grünen-Skeptiker*innen oder gar scharfe Kritiker*innen dazu zu bewegen, sich einmal außerhalb der eigenen Bubble mit der Partei zu beschäftigen. Unterhaltsam ist Die grüne Macht nämlich in jedem Fall. 

Darüber hinaus verknüpft Ulrich Schulte in einer wunderbar essayistischen Mischung die Geschichte der Grünen, die natürlich noch immer in ihnen lebt, es handelt sich unter Baerbock und Habeck ja mitnichten um eine neue Partei, mit der steten Veränderung ebendieser, dem neuen Kommunikationsdrill einer auf Außenwirkung und Selbstinszenierung spezialisierten, und darin sehr erfolgreichen, Partei, sowie den realpolitischen Gegebenheiten und der Kritik von Idealisten oder auch Fridays for Future-Aktivist*innen (samt eines Gesprächs mit Luisa Neubauer, in die Schulte kurz mal schockverliebt zu sein scheint) an eben dieser pragmatischen Ausrichtung.

Schwarz-Grün?

Natürlich geht es in diesem Buch in erster Linie um folgende Frage: Schwarz-Grün? Ja – Nein – Harry Potter? Dass die SPD weder für die Unionsparteien noch für die Grünen der Koalitionspartner erster Wahl wäre oder seine sollte, arbeitet Ulrich Schulte kurz aber präzise heraus und bescheinigt der SPD gleichsam ein existenzielles Problem. Womit dazu auch alles gesagt wäre.

Schulte hat für das Buch mit vielen verschiedenen Personen gesprochen (ein Personenregister wäre schön gewesen), sinnvollerweise natürlich mit sehr vielen Grünen, aber auch mit so manchem CDUler, wie zum Beispiel dem Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein und quasi ehemaligen Vorgesetzten von Robert Habeck, Daniel Günther, und unserem Gesundheitsminister, dem kompetenten Aufsteiger Jens Spahn. Was beide zu sagen haben, ist, so ordnet es auch der Autor des Buches ein, insbesondere unter der Maßgabe, dass beide über die politische Konkurrenz sprechen, hoch interessant. Günther lobt Habeck, stellt lediglich fest, dass er machmal jemanden brauche, der ihn in der Realität verankere. Das ist nun wahrlich kein Geheimnis und spätestens nach Habecks letztem abstrus erratischen ARD-Sommerinterview (welches im Buch seltsamerweise nicht erwähnt wird) sollte das klar sein. Spahn ist eben Spahn und bei aller thematischen Sachlichkeit haut er seine Spitzen in Richtung der Grünen raus, die er allerdings auch nur jenen zuteil werden lässt, an denen er Interesse hat. Herrn Brandner von der AfD neckt er jedenfalls nicht.

Viel Platz räumt Schulte in seinem informativen Buch zwei Themen ein, die aber doch zusammenhängen und sich mit dem beschriebenen Abgleich von Worten und Taten überschreiben ließen. Zum einen das Feld der Kommunikation, die oft irgendwo zwischen Phrasendreschen (wenn auch teils von ihnen neu geschaffener Phrasen) oder „glattgelutschten“ Äußerungen, unverständlichem Irgendwas (es wird schon etwas für jede*n dabei sein) und „feinziseliertem Kunstwerk“ steckt. Schulte lobt sie dafür, dies oft in einer guten Koexistenz zu halten, sieht aber gleichwohl das Risiko der Entzauberung und der Enttäuschung der Zuhörer*innen, sollte sich so manches Gesagte als Lügenmärchen entpuppen. Wobei er sich hier an anderer Stelle widersprecht, wenn er schreibt, dass er nicht glaube, dass die Grünen irgendwann von den Wähler*innen für ihre Inkonsequenz bestraft würden. 

Die Grünen und die fehlende Vielfalt

Direkt verknüpft ist das zweite Feld: Leben wir vor, was wir unverbindlich-verbindlich predigen (dieses Wort mögen sie aber nicht so)? Vor allem innerhalb der eigenen Partei? Und da legt Schulte an mancher Stelle den Finger in die gar nicht so kleine Wunde. Sei es der geringe Anteil prominenter Frauen die auf der Einladung zum 40. Geburtstag der Partei groß angekündigt waren oder auch das doch sehr weiße Erscheinungsbild der Grünen (die taz hatte dazu im vergangen Jahr einen wunderbaren Titel). Nun wurde die AG Vielfalt gegründet und es wird daran gearbeitet. Schulte beschreibt das Problem der Partei in diesem Punkt recht eindrücklich und zeigt auch das gespaltene Verhältnis, das die Partei zu Cem Özdemir hat.

Natürlich unterscheiden sich auch in externen Bereichen Worte und Taten, dazu muss man sich nur die gemachte oder zumindest mitgetragene Politik der Grünen in den elf Bundesländern anschauen, in denen sie mitregieren oder auch ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat. Das ist er dann, der reine Pragmatismus. Und natürlich wolle sich die Parteiführung nicht die Anerkennung verspielen, die sie im Rahmen der gescheiterten Jamaika-Verhandlungen 2017 erarbeitet hat. 

Nach dem Frankfurt-Słubice-PRIDE Anfang September 2020 noch kurz am Büro von Annalena Baerbock in Frankfurt an der Oder vorbeigeschaut.

Dennoch kritisiert Schulte immer mal wieder, zurecht, dass nicht alles, was „strategisch nachvollziehbar“ ist, auch richtig sein müsse, manchmal sei es nur „inkonsequent und feige“ und nicht nur an einer Stelle beklagt er eine mangelnde „intellektuelle Redlichkeit“. Hier sind natürlich speziell Annalena Baerbock und Robert Habeck die Adressaten. An anderer Stelle nimmt er beide hingegen fast wieder in Schutz, kritisiert auch scharf, und erneut zurecht, den Umgang der Presse mit Baerbock als sie gerade Parteivorsitzende geworden war.

Deutlich arbeitet Die grüne Macht den von beiden Vorsitzenden immer wieder proklamierten Führungsanspruch im Bund heraus. Die ganze Arbeit habe man sicherlich nicht für nichts erledigt. Hier lohnen sich vor allem die Kapitel „Schwarz-Grün“, „Verfassungsschützer“ und „Realitätscheck“, wobei doch bei aller thematischen Sortierung das ganze Buch eine in sich verwobene Analyse ist und auch als solche gelesen werden sollte. Jedenfalls: Wenn mit den Grünen, dann wirklich mit ihnen und nicht wieder in einer Koch-und-Kellner-Situation oder, wie Schulte schreibt, nicht als „Öko-App“. 

Fridays for Future und die pragmatischen Grünen

Genau dieser Pragmatismus und der Anspruch auf Gestaltungsmacht sind es dann auch wieder, die Menschen wie Luisa Neubauer, das Gesicht und die Stimme der deutschen Fridays for Future-Bewegung, die Grünen mindestens kritisch sehen lassen. Zwar ist sie Mitglied der Grünen, aber, ohne hier einen inhaltlichen Vergleich zu ziehen, Alexander Mitsch ist auch noch Teil der CDU. Die geforderten Ziele der FfF-Bewegung führt Schulte kurz auf und zitiert Neubauer mit der Replik auf die häufig geübte Kritik, alles müsse mit der Realpolitik vereinbar sein, dass es realer als wissenschaftlich nachgewiesen ja nicht gehe. Unterstützend wirkt eine von Fridays for Future beim Wuppertal-Institut (Thinktank für Nachhaltigkeitsforschung) in Auftrag gegebene Studie, die deren Ziele bestätigt. Hier fehlt leider der Hinweis, den Schulte an anderer Stelle bringt: Es geschehe selten, dass ein der Sache und dem Auftraggeber nahe stehendes Institut ein die Ziele konterkarierendes Gutachten hervorbringe. 

Weiterhin gibt es einen Unterschied zwischen Politik, die gemacht werden sollte und Politik, die gemacht werden kann. Erneut, es ist die Differenz zwischen Idealismus und Pragmatismus. Ohne letzteren kommt man jedoch auch nicht voran („Only Nixon could go to China“) und ein wenig Veränderung sollte immer besser sein als keine. Zudem hält die FfF-Leute nichts davon ab, für den Bundestag zu kandidieren, was Jakob Blasel, einer der Gründer von FfF, nun auch macht. Er sagt ganz richtig: „Ich habe erkannt, dass es enorm an Leuten fehlt, die im Parlament aus Überzeugung für das Klima kämpfen.“ Das ist wahr. Ebenso wahr ist, dass auch er nach womöglich gewonnener Wahl einen Realitätscheck wird durchmachen müssen. 

Ich gebe dem im Buch kurzen Fridays for Future-Abschnitt hier so viel Raum, da diese Bewegung für die Partei in mehrerlei Hinsicht sowohl wichtig als auch riskant ist, was Schulte gut erklärt, es aber auch der am wenigstens reflektierte Teil von Die grüne Macht ist. Hier entsteht kurz der Eindruck, Schulte hätte sein Manuskript am liebsten entsorgt und sich einfach mit einem Pappschild vor die Grünen-Zentrale gestellt.

Locker und pointiert

Das ändert nichts daran, dass das Buch von Ulrich Schulte eine absolute Empfehlung ist. Es liest sich toll, ist informativ, versorgt die Leser*innen mit einigen neuen Einblicken, gibt charmante und menschliche Informationen zum Verhältnis von Baerbock und Habeck, stellt Zusammenhänge her, die so vielleicht noch nicht gesehen worden sind und ist bei aller Zuspitzung an mancher Stelle ein faires Buch über eine nicht immer so faire Partei, die zwar „ihren utopistischen Überschuss verloren“ hat, aber gerade dadurch nun wirklich etwas bewirken kann.

Also: Schwarz-Grün? Bei einer digitalen taz-Buchvorstellung unterhielten sich gestern übrigens die taz-Chefredaktuerin Ulrike Winkelmann, Ulrich Schulte, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, und Ralph Brinkhaus, Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien, über das Buch und ebenjene Frage. In diesem Gespräch fiel auf, wie wenig handreichend Göring-Eckardt sich gab. Nach heftiger, und ja, in der Sache berechtigter, im Stil aber arg süffisanter, Kritik an Verkehrsminister Andreas Scheuer, bezeichnete sie Julia Klöckner als Agrar-Lobbyistin, woraufhin Brinkhaus den Ton und die moralische Flughöhe kritisierte, was KGE wiederum als typisches und veraltetes Grünen-Bashing verurteilte. Das war unterhaltsam, und doch drängte sich die Frage auf: Wie viel sind Show und Koketterie und wie viel ernsthafte Differenzen? Scheuer wird sicherlich nicht noch einmal Minister und Julia Klöckner… vermutlich auch nicht, jedenfalls wohl nicht noch einmal Landwirtschaftsministerin. Insofern: Tendenziell ja. Oder Harry Potter.

Locker, aber nicht ohne Ernst, mit feiner Ironie, aber nicht überheblich, pointiert, aber nicht belehrend, beschreibt Ulrich Schulte die Partei Die Grünen, ihre Anpassungen, Widersprüche und das neue Licht, in dem sie vor allem dank ihrer Vorsitzenden und verordneter Disziplin stehen. 

AS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Ulrich Schulte: Die grüne Macht. Wie die Ökopartei das Land verändern will; 1. Auflage, Januar 2021; 240 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-499-00552-7; Rowohlt Polaris; 16,00 €; auch als ebook, 14,99 €

Dazu angehört: „It’s a Sin“-Playlist. Whoop Whoop!

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