Die unfreie Realität

Es folgt eine nicht ganz „typische“ Rezension, der Versuch einer knappen Einordnung, sowie ein paar Gedanken, was wir um ein Werk herum in der kommenden Zeit machen werden. Am heutigen Montag zeigt arte um 20:15 Uhr Luchino Viscontis meisterhafte Thomas-Mann-Verfilmung Tod in Venedig aus dem Jahr 1971. Der Ausstrahlung schließt sich die nicht minder sehenswerte, in Teilen dezent verstörende Dokumentation Der schönste Junge der Welt – Björn Andrésen: Viscontis blonder Engel von Kristina Petri und Kristian Lindström in deutscher Erstausstrahlung an. 

Krank, müde und gescheitert

Um 1920 begibt sich der kranke, erschöpfte und zuletzt gescheiterte Komponist Gustav von Aschenbach (Dirk Bogarde) zur Erholung ins Grand Hotel des Bains am Lido Venedigs. Der gewünschte Effekt tritt nicht ein: Kinder rennen durch das Hotel, das Wetter missfällt ihm und überhaupt lässt sich hier keine Ruhe finden, muss er doch immer wieder an ein Streitgespräch mit seinem Schüler und guten Freund Alfried (Mark Burns) denken. Doch dann entdeckt er Tadzio (Björn Andrésen), einen blonden Jungen, der für ihn die von ihm immer in allem gesuchte und begehrte Schönheit verkörpert. Er beobachtet den Jungen, folgt ihm, wenn er mit seinen Geschwistern und Gouvernante in Venedig unterwegs ist. Von Aschenbach verfällt dem Reiz des jungen Schönen, ergeht sich in Tagträumen.

Tadzios Mutter (Silvana Mangano) und Tadzio (Björn Andresen), dessen Schönheit Aschenbach fasziniert // © Warner Bros.

Währenddessen bricht in Venedig die Cholera aus, was zuerst geheimgehalten wird, ein Versuch von Aschenbachs die Stadt – aus anderen Gründen – zu verlassen scheitert, er kehrt ins Hotel zurück und gibt sich wieder ganz seinen Erinnerungen an Gewesenes und seinem Begehren aus der Ferne hin. Derweil die Seuche immer näher kommt.

Facettenreiche Geschichte

Kenner*innen der 1911 entstandenen und 1913 erstmalig bei S. Fischer Verlag erschienen Novelle Thomas Manns werden auch nach dieser kurzen Beschreibung prompt Unterschiede zur Vorlage ausmachen, vermutlich kennen sie den Film, der als zweiter Teil von Viscontis Deutscher Trilogie (Die Verdammten, Tod in Venedig, Ludwig II.) entstand, ohnehin. Jenen die die Vorlage (noch) nicht gelesen haben, sei der Film dennoch vorbehaltlos empfohlen. Womöglich bereitet es sogar eine gewisse Freude, sich diesen anzuschauen und bei Interesse anschließend das Buch oder auch einmal die Graphic Novel zur Hand zu nehmen. Und dieses zum Anlass zu nehmen, sich eingehender mit den Motiven zu befassen, die Mann in seine Geschichte hat einfließen lassen, bzw. zur Erzählung nutzt.

Wie jeden Tag begibt sich Gustav von Aschenbach (Dirk Bogarde, li.) an den Hotelstrand. Auf dem Weg zu seiner Strandkabine trifft er auf den jungen Tadzio (Björn Andresen, re.) // © Warner Bros.

Viscontis Film jedenfalls ist in vielerlei Hinsicht in der Tat ein filmisches Meisterwerk. Allein die eindrücklich und bewegend inszenierte, facettenreiche und schon verheißungsvolle Ein- und Anreise Gustav von Aschenbachs, unterlegt mit Musik von Gustav Mahler (einige dessen Eigenarten nahm sich Visconti für die Figur zum Vorbild, wie auch manche von Thomas Mann selbst), ist in Form und Wirkung einmalig. Derer Momente gibt es einige; wenn auch gesagt werden sollte, dass nach Meinung des Autoren dieser Zeilen, die musikalischen Elemente als Ausdruck der in von Aschenbach widerstreitenden Gefühle und Ansichten an mancher Stelle ein wenig zu offenbar eingesetzt werden. Aber hier scheiden sich sicherlich die Geschmäcker.

Tragik in Fiktion und Leben

Darüber hinaus aber bildet Luchino Visconti das zuerst irritierte, dann nach Ergebnis, vielleicht auch Erlösung, suchende Begehren des Komponisten so bemerkenswert ab, wie er Tadzio als einen schönen und zerbrechlich-unnahbaren Engel des Todes in Szene setzt (eine Art der Inszenierung von Schönheit übrigens, wie Hervé Guibert sie an mancher Stelle beschrieb und festhielt). Das ausgerechnet dieser vermeintliche Durchbruch als eben „der schönste Junge der Welt“ lebenslang eine Last für den Schweden Björn Andrésen sein sollte ist tragisch. Dass Visconti, bei allem Talent und aller künstlerischer Größe, ihn nicht nur im Film zu einem Symbolobjekt machte, sondern ihn auch im echten Leben objektivierte, ist entsprechend scheußlich.

Der schönste Junge der Welt – Björn Andrésen: Viscontis blonder Engel: Björn Andrésen kehrt 50 Jahre nach Tod in Venedig an den Lido zurück // © Mantaray Film

Wie der 1955 geborene Andrésen damit lebte und lebt, was aus ihm wurde und wie er heute darauf schaut, das beleuchtet die angesprochene Dokumentation der Schwed*innen Kristina Petri und Kristian Lindström. Dazu nutzen sie unter anderem Archivaufnahmen des Castings, der Drehvorbereitungen und -arbeiten, Ausschnitte von Berichten zum Festival von Cannes (wo der Film den Sonderpreis zum 25. Jubiläum des Festivals erhielt), vor allem aber treffen sie Björn Andrésen (der übrigens die Optik der Figur „Lady Oscar“ inspirierte) in seiner Wohnung in Schweden, reisen mit ihm nach Japan und, ja, auch Venedig. 

Was wird schon spontan geboren?!

Im Kontrast zu den teils alptraumhaften Erfahrungen, wie Andrésen es in der Dokumentation nennt, zu erfassen, dass Hauptdarsteller Dirk Bogarde, der selber homosexuell war, dies aber nie öffentlich machte, die Rolle des Gustav von Aschenbach als Höhepunkt seiner künstlerischen Laufbahn beschrieb, macht die Auseinandersetzung mit dem Werk nochmals komplexer. Auch dass Regisseur Luchino Visconti am Set, an dem wohl alle männlichen Mitarbeiter schwul gewesen sein sollen, wie es ebenfalls in Der schönste Junge der Welt heißt, die Anweisung gab, dass Andrésen nicht anzuschauen sei, ebenso. So habe er quasi unter dessen Schutz gestanden, meint der. Womöglich war es aber auch Missgunst, Eifersucht? 

Der schönste Junge der Welt – Björn Andrésen: Viscontis blonder Engel: Der italienische Regisseur Luchino Visconti (li.) und der junge Schwede Björn Andrésen (re.) während der Dreharbeiten zu Tod in Venedig // © Mario Tursi/Archivio Enrico Appetito

So treibt uns der Gedanke, der Wunsch, die Ausstrahlung des Films wie auch der Dokumentation zum Anlass zu nehmen, uns intensiver mit Der Tod in Venedig auseinanderzusetzen. Dazu werden wir in der kommenden Zeit das Buch besprechen, wie auch die gleichnamige Graphic Novel nach Thomas Mann von Susanne Kuhlendahl, erschienen bei Knesebeck. Auch wollen wir ein eingehenderen Blick auf Thomas Mann werfen, immerhin weist die Novelle einige biographische Züge auf, und genau wie Gustav von Aschenbach in Teilen der Geschichte, war auch Thomas Mann ein Meister der (Selbst)Inszenierung. Dazu betrachten wir den bei wbg THEISS erschienen Band Thomas Mann – Ein Schriftsteller setzt sich in Szene. Nicht zuletzt werden wir uns auch am Beispiel der versteckten Homosexualität Dirk Bogardes, der offen gelebten Luchino Viscontis und der Neigung Manns zum eigenen Geschlecht damit befassen, was dies mit Künstler und Werk macht, um auch auf Fragen wie jene im vorherigen Absatz einzugehen.

Zuerst einmal aber sei Tod in Venedig unbedingt empfohlen, ein Film, der, wie erwähnt, ein Meisterwerk ist, das auch das düstere Augenzwinkern am Rande eines Abgrunds formvollendet ins Filmische überträgt. 

Tod in Venedig läuft heute am 1. November um 20:15 Uhr auf arte; anschließend um 22:20 Uhr zeigt der Sender die Dokumentation Der schönste Junge der Welt – Björn Andrésen: Viscontis blonder Engel, die bis zum 27. Juli 2024 in der arte-Mediathek verfügbar ist.

Tod in Venedig; Italien, Frankreich, 1971; Regie: Luchino Visconti; Drehbuch: Luchino Visconti, Nicola Badalucco, nach der Novelle Der Tod in Venedig von Thomas Mann; Kamera: Pasquale De Santis; Musik: Gustav Mahler; Darstellende: Dirk Bogarde, Björn Andrésen, Silvana Mangano, Marisa Berenson, Mark Burns, Carole André, Nora Ricci, Romolo Valli, Franco Fabrizi; FSK: 12; Laufzeit ca. 125 Minuten

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