Ein Kuss ist nicht das Ende der Welt

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Zunächst einmal: Endlich! Endlich ist es an diesem Donnerstag so weit, dass der neue und mittlerweile achte Spielfilm des 32-jährigen Franco-Kanadiers Xavier Dolan in die deutschen Kinos kommt. Seine Premiere feierte er schon 2019 im Rahmen der 72. Internationalen Filmfestspiele in Cannes, wo es im Anschluss zehn Minuten Applaus und Standing Ovations und Nominierungen für die Goldene und die Queer Palme gab. Dann kam Corona und der Filmstart wurde, von Festivalaufführungen abgesehen, wieder und wieder verschoben. Ähnlich erging es ein Jahr später dem neuen Film von François Ozon, Sommer 85, der vor kurzem startete. Somit haben wir in diesem Jahr nun zwei heiß ersehnte schwule Sommerfilme, die jedoch recht unterschiedlich, wenn auch beide sehenswert sind.

Dolan wieder bei Freundschaft und Menschen

Dolan begibt sich auf ein, wenn wir so wollen, ihm zumindest erzählerisch vertrautes Feld. In Matthias & Maxime (deutscher Verleih: Pro Fun Media)geht es in erster Linie um Freundschaften, um das Erwachsenwerden-werden mit Mitte oder bald Ende zwanzig, um sicher Geglaubtes und unsicher Verschobenes. So scheint es, dass Dolan diesen Film erst jetzt, respektive 2019, erzählen konnte, da er sich erst vor einiger Zeit wieder auf Freundschaften fokussierte, wie er im Presseheft berichtet, weniger Filme machte und wieder Menschen in „mein Haus [ließ] und sie gaben mir ein Heim. Mit ihnen an meiner Seite hatte ich die vergangenen vier oder fünf Jahre die Chance, Menschen zu finden – oder eher wiederzufinden – mit denen ich vor meiner Zeit als Regisseur oder Autor vor allem ich selbst sein konnte.“

Maxime (Xavier Dolan) und Matthias (Gabriel D’Almeida Freitas) – Freunde seit dem Sandkasten. // © PRO-FUN MEDIA

So treffen wir also auch in seinem neuen Film auf Menschen, die herauszufinden versuchen, wo sie hingehören, die Geschichte seiner 20er und die der meisten von uns, wie er vermutet. Das ist nicht unwahr und um das eigene Finden, den zumindest für den Zeitpunkt richtigen Platz im Leben auszumachen, ging es ja auch in seinem gefeierten Erstling I Killed My Mother und im etwas weniger beliebten, dafür recht selbstverliebten Nachfolger Herzensbrecher. Im Grunde auf verschiedene Weise in all seinen Filmen – in Laurence Anyways dabei am kraftvollsten!

Umso erstaunlicher ist es, dass der Autor und Regisseur es in Matthias & Maxime schafft, diesem bekannten Motiv wieder neue Facetten abzugewinnen, wenn auch manches bekannt scheint. Der Auslöser der zutage tretenden Konflikte der beiden titelgebenden Sandkastenfreunde Matthias (Gabriel D’Almeida Freitas) und Maxime (nach langer Zeit mal wieder Hauptdarsteller im eigenen Film: Xavier Dolan) ist dabei ein Kuss für einen Kurzfilm von Erika (Camille Felton), der sehr fancy talking sister vom guten Freund der beiden, Rivette (Pier-Luc Funk). Dieser Kuss, den wir in einem recht cleveren aber auch ein wenig sadistischen Schnitt nicht zu sehen bekommen, bringt eben jene sicher geglaubten Verhältnisse ins Wanken.

Diese Freundschaft wird durch einen Kuss irritiert // © PRO-FUN MEDIA

Zwei Perspektiven

Erschwerend kommt hinzu, dass wir uns eigentlich in einer Phase des Abschieds befinden: Maxime plant in zwei Wochen für zwei Jahre nach Australien zu gehen, alle sind auf letzte gemeinsame Abende, Unternehmungen und ein großes „Au revoir“ eingestimmt. Nun zieht Matthias sich plötzlich zurück, was auch seine stringente Freundin Sarah (Marilyn Castonguay) und seine Mutter Francine (Micheline Bernard) bemerken. Maxime hingegen muss noch die letzen Dinge betreffend seine Mutter Manon (Dolans ewige Filmmutter: Anne Dorval) regeln, die erst seit Kurzem clean und psychisch angeschlagen ist. 

Dolan baut die Zweifel und die Entwicklungen, die Matthias und Maxime hier zwei Stunden lang durchmachen, parallel laufend auf, sie werden sich längere Zeit nicht sehen, sondern irgendwie ihre Tage rumbringen. Maxime ist in erster Linie ist mit den Arrangements für seine bevorstehen Abreise und eben mit seiner wieder eher monströsen Mutter (eines der Rote-Faden-Motive in nahezu allen Dolan-Filmen), samt Platzwunde durch Fernbedienung, befasst. Es gibt Momente, in denen sich Maxime auch mal unsicher lächelnd einem anderen Jungen zuwendet, aber auch irgendwie versucht, ein Mädchen klarzumachen. Dennoch erhalten wir weniger Einblicke in das Innere Maximes, vor allem, was seinen durch den Kuss möglicherweise veränderten Bezug zu Matthias angeht.

Bei dem sieht es, auch toll gespielt von Gabriel D’Almeida Freitas, anders aus. Sein Schwanken, seine Angst vor möglichen Gefühlen gegenüber Maxime, seine Wut auf sich, Pläne und die Welt, all das wird uns deutlicher vermittelt. Matthias ist immer wieder in sich gekehrt, blendet die Umgebung aus, ist unaufmerksam. Deutlich wird seine Unsicherheit auch in einer Szene, in der er eine kleine Abschiedsrede für Maxime derart verkackt, dass es sowohl weh tut, als auch irgendwie süß ist. Aber er hatte auch einen harten Tag und musste den schnöseligen Kevin „McAfee“ aus Toronto (als Gast und Juchhu: Harris Dickinson, den wir nächste Woche in Postcards from London bei rbb Queer sehen werden) durch Montreal führen. 

Bekannte Motive, neue Spielwiese

Auch der gut besetzte und in seiner Dynamik sehr echt wirkende Freundeskreis spürt eine Veränderung, hält sich aber größtenteils auf die ihm eigene Art vornehm zurück. Auch hier spielt Dolan wieder etwas aus, das er allzu gern macht: unterschiedliche Lebensweisen kommen zusammen, großes Durcheinandergerede, zackige Partysituationen, betrunkenes Semi-Philosophieren, beinahe intellektuelle Partyspiele und den Konsum seichter Drogen wie Cannabis. Zum Glück weiß er bei Matthias & Maxime, wann es Zeit ist, vom Gaspedal runterzugehen und liefert nicht noch einmal eine filmgewordene Shitshow wie mit Einfach das Ende der Welt (der aus völlig unerfindlichen Gründen der Großen Preis der Jury in Cannes erhielt). 

Immer wieder gibt es also auch stille Szenen, Momente, die nach innen gekehrt sind, ruhigere Dialogmomente, aber natürlich auch die üblichen, hier aber auch wohldosierten, Streitszenen. Es geht überhaupt weniger hysterisch zu als manches Mal bei Dolan. Das tut dem Film ebenso gut, wie die eine oder andere beinahe überinszenierte, aber die Gefühle in Stil übertragende Einstellung (Kamera wieder: André Turpin). 

So schafft es der Filmemacher in seinem achten Film, uns echtes Interesse an den Charakteren und ihren Leben haben zu lassen. Wir wollen gern wissen, ob diese Anziehung real ist und wie die beiden M’s damit umgehen werden. Wir wollen wissen, ob Maxime seine Mutter und diesen Schmerz überwinden kann (weswegen er auch unbedingt nach Australien gehen sollte). Wir wollen wissen, ob Matthias sich verliert oder im Gegenteil zu sich findet. Und natürlich, ob die zwei jungen Männer zueinander finden (die Inszenierung des Endes erinnert übrigens dezent an Benjamin).

Gedrückte Stimmung geht aber auch // © PRO-FUN MEDIA

Emotionaler Langlauf

Dieses Ende kommt schließlich auch keinen Moment zu spät, denn bei aller filmischen Zauberhaftigkeit und charakterlichen Zugewandtheit hat Matthias & Maxime durchaus manche Länge. Hier und da entsteht das Gefühl, einzelne Szenen beinahe 1:1 zweimal zu sehen. Und auch hier ist Dolan wieder sehr verliebt in seine Songauswahl und lässt manchen mit Popmusik unterlegten Moment auch mal eine halbe Minute zu lang laufen (wenn wir auch dankbar sind, dass er uns an Arcade Fire erinnert hat).

Dennoch findet Xavier Dolan mit Matthias & Maxime wieder seine etwas veränderte, aber wiedererkennbare Stimme und hat einen Film geschaffen, der für Dolan-Neulinge wie auch Zuschauer*innen der ersten Stunde eine Freude sein dürfte. Seinen Fokus wieder auf die Personen und ihre Geschichte und nicht ihre Hysterien und die allzu „kunstvolle“ Inszenierung dieser zu legen, ist eindeutig richtig und schafft einen emotionalen und liebevoll-aufreibenden Sommerfilm übers Wachsen, Fühlen und Wollen.

Hier gibt es noch den Trailer.

Matthias & Maxime ist am Montag, den 15. Mai 2023, in der Pride Night zu sehen. Infos und Tickets hier.

Matthias & Maxime (OT: Matthias et Maxime); Frankreich, 2019; Regie und Drehbuch: Xavier Dolan; Kamera: André Turpin; Musik: Jean-Michel Blais; Darsteller*innen: Gabriel D’Almeida Freitas, Xavier Dolan, Pier-Luc, Funk, Samuel Gauthier, Antoine Pilon, Adib Alkhalidey, Anne Dorval, Micheline Bernard, Harris Dickinson, Marilyn Castonguay, Catherine Brunet; Laufzeit ca. 121 Minuten; FSK: 12, im Verleih von Pro-Fun Media; ab 29. Juli im Kino

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