Ein strammer Ritt durch die deutsche Nachkriegsgeschichte

Als ich in meinem erweiterten Freundes- und Bekanntenkreis erwähnte, dass ich zur damaligen Zeit die Erinnerungen Theo Waigels las, fand ich es nach und nach faszinierender, zu sehen, wie unterschiedlich die Reaktionen darauf ausfielen. Von eher geringem Interesse zeugenden und lediglich einem Schulterzucken, über ein halbwegs aufrichtiges „Oh, interessant, …“ (aber nächstes Thema bitte) zu großem Interesse an Person und Inhalt bis hin zu recht angewiderten Gesichtsausdrücken und sogar einem „Bäh, pfui.“ gab es da so einige. Sollte es mir also zuvor noch nicht bekannt gewesen sein – der Theo, der polarisiert. 

Der lange Weg zur Einheit

Theo Waigel, der hier nun, pünktlich zu seinem 80. Geburtstag im April 2019, seine diktierten und von einer seiner Mitarbeiterinnen notierten Lebenserinnerungen Ehrlichkeit ist eine Währung vorlegt, hat unbestreitbar ein mehr als bewegtes, erfahrungsreiches, geschichtsschreibendes und auch unterhaltsames Leben geführt. Politische Umbrüche und Erschütterungen, Siege der Demokratie, Niederlagen der Menschlichkeit und nicht zuletzt persönliche Rückschläge. So einiges war los vor allem im Rahmen, aber nicht ausschließlich, der politischen Laufbahn Waigels. 

Da sind natürlich in erster Linie die Wiedervereinigung samt Abwicklung der Treuhand und die Einführung des Euro zu nennen. Waigel beschreibt anschaulich und zumeist sehr pointiert nicht nur den Weg zur Einheit und den zum Euro, sondern gibt spannende, sehr detaillierte Einblicke in einzelne, entscheidende Verhandlungen zu dieser Zeit. 

Seine Schilderungen in Kapiteln Tausche Ost-Mark und Luft gegen D-Mark und Waigel und Mit Schweiß und Tränen zum Erfolg in denen es um Wiedervereinigung und die Treuhandanstalt geht, lassen in allem Detailreichtum, das Gefühl aufkommen, hier Zuschauer eines aufreibenden Doku-Thrillers zu sein. So erläutert Waigel dann auch noch einmal den Zustand der DDR 1989 und erinnert uns noch einmal an die, für ihn unmöglichen, Worte Walter Mompers: „Es geht ums Wiedersehen, nicht um Wiedervereinigung.“

Auch räumt Waigel recht deutlich mit dem einen oder anderen Vorurteil, bzw. Klischee betreffs Abwicklung der Treuhandanstalt auf. Das ist derzeit insbesondere spannend zu lesen ist, da es aus aktuellem Anlass zwei sehr unterschiedliche Dokumentationen dazu und seit geraumer Zeit auch wieder von mancher Seite das Drängen zu neuen Untersuchungen, auch wenn dieses nach Ende der Wahlkämpfe in den neuen Bundesländern wieder ein wenig nachlässt. So sind die Gedanken und Fakten Waigels dazu eine willkommene Ergänzung. Mein „Bäh, pfui.“-Bekannter würde sich allerdings gerade in diesen Kapiteln bestätigt sehen und sagen: „Na, siehste, wieder so ein Besserwessi.“, vermute ich jedenfalls. 

Der Strauß, der Stoiber, der Whisky und ein Flugzeug

Weiterhin spannend und lehrreich, der Weg zum EWS, dem Euro, seinen Verhandlungen mit den Briten, den Franzosen, gar seiner CSU, all die kleinen, feinen Sticheleien die hier am Verhandlungstisch oder auch an anderer Stelle einander zugefügt worden sind. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Waigel hier nicht nur über den Euro schreibt, sondern sich als überzeugter Europäer und mehr noch, beinahe als Transatlantiker zu erkennen geben mag. Auch das ist in diesem Jahr, in dem wir 70 Jahre NATO begehen, durchaus interessant zu lesen.

Sehr unterhaltsam sind Momente aus Begegnungen, wie er sie bspw. auf Seite 199 beschreibt: „Als Gorbatschow erfuhr, dass ich als Jugendlicher bei der Ernte helfen musste, bat er mich zu einem gemeinsamen Foto auf einem Mähdrescher.“ Oder auch eine Episode mit Franz Josef Strauß: „Wir warteten noch auf Stoiber und Tandler und tranken zusammen zwei Whisky. Anschließend flog uns Strauß sicher nach München.“ Etwas weniger leicht, dafür umso berührender, seine Begegnung mit Yitzhak Rabin, als er einen Moment des scheinbar greifbaren Friedens im Jahr 1994 beschreibt. 

Wie bereits erwähnt, das Buch ist pointiert und Waigel versteht es das Interesse konstant hochzuhalten. Sogar, für Leute wie mich, die insbesondere mit der bayerischen Regional- und Landespolitik der 60er, 70er und / oder 80er Jahre im Grunde nicht wirklich etwas am Hut hatten. Dazulernen kann man immer. Wenn er auf en ersten knapp achtzig Seiten von seiner Kindheit, Jugend und den ersten Schritten in die Politik erzählt, liest man gebannt, auch wenn es mitunter düster zugeht, mit Briefen von der Front seines im zweiten Weltkrieg gefallenen Bruders zum Beispiel. Das hat aber seinen Grund, sind eben genau dort auch Beweggründe für manch eine spätere Befindlichkeit Theo Waigels auszumachen.

Aufregend und etwas perfide wird es dann wenn es um den Kreuther Trennungsbeschluss von 1976 oder auch um den Skandal im Jahre 1993 um Theo Waigel, seine bereits von ihm getrennte Frau und seine neue Beziehung zu Irene Epple geht. Hier erneuert Waigel im Grunde seine Vorwürfe gegenüber Edmund Stoiber, der damals dafür verantwortlich gemacht wurde, dass diese Geschichte zu einem für ihn adäquaten Zeitpunkt an die Öffentlichkeit gelangte. Waigel zitiert aus einem Leserbrief Stoibers vom 24. Mai 1993 an den Spiegel, in welchem dieser schrieb: „Ich lehne solche heimtückischen und scheinheiligen Methoden ab … Ich weiß allerdings niemanden, der so gehandelt hat.“ Waigel kommentiert das in seinem Buch wie folgt: „Das nehme ich ihm nicht ab.“ Theo Waigel also völlig ehrlich. Stoiber wird übrigens noch öfter erwähnt werden in dem Buch und selten in einem positiven Licht, vermutlich aus gutem Grund.

Es ist eben doch eine politische Autobiografie

Apropos ehrlich – Waigel berichtet viel und er gibt auch die ein oder andere Unzulänglichkeit zu, lässt uns um manch einen Fehler wissen, den er gemacht hat. Doch sind es dann eher kleine Fehler, quasi Fehlerchen. Solche wie hier ein wenig zu voreilig argumentiert, dort der falschen Person vertraut, einer anderen nicht genug ins Gewissen geredet zu haben. Nichts, was also dazu führen würde, die bundesdeutsche Geschichte in einem anderen Licht betrachten zu müssen.

Und natürlich ist es eine Autobiografie, das heißt, ein gewisser Ton, der ausdrückt, dass sich hier jemand seiner selbst und seiner Verdienste absolut sicher ist, ist recht durchgehend erfahrbar. Da es sogar eine politische Autobiografie ist, kommt noch hinzu, dass einem das Gefühl vermittelt wird, ohne diese eine Person wären mindestens siebzig Prozent der deutschen, vielleicht sogar europäischen, Geschichte anders verlaufen. Aber der pointierte Ton, der hohe Unterhaltungswert und die lehrreichen Schilderungen, mildern diese Eindrücke deutlich ab.

Zurück zu meinen Bekannten – deren grundsätzliche, sehr subjektive, Sichtweisen werden sich wohl auch durch die vorliegenden Lebenserinnerungen Ehrlichkeit ist eine Währung nicht ändern, doch zumindest jedem der dezent angewidert dreinschauenden Bekannten habe ich sie letztlich empfohlen. Es sind die Erinnerungen eines Vollblut-Politikers, der in prägenden Zeiten in diversen Funktionen jeweils tragende Rollen gespielt hat und uns an gut siebzig Jahren Nachkriegsgeschichte teilhaben lässt. Kein Sich-nur-mal-auf-die-Schulterklopfen, keine Festschrift an die eigene Adresse, 80. Geburtstag hin oder her. Eine wirklich mal empfehlenswerte und lesenswerte, einen um ein paar Erfahrungen bereichernde politische Autobiografie. 

Theo Waigel: Ehrlichkeit ist eine Währung; 1. Auflage 2019; 352 Seiten; 30 Abbildungen, teilw. s/w; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-430-21009-6; Econ Verlag; 24,00€

Beitragsbild: Buchcover auf einem Bild von Kreuth (Foto: Woife Stoiber / 500px) / Kompostion: the little queer review

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