Eis auf Weiß

Es ist kalt hoch oben im Norden. Eigentlich keine große Überraschung, aber dennoch wird das oft vergessen. So wie eigentlich die gesamte Gegend um den Nordpol und die Arktis gerne vergessen wird, wenn es um einen Eindruck der ganzen Erde geht. Dabei ist die Region um den Nordpol strategisch nicht nur für die indigenen Völker enorm wichtig und gewinnt immer mehr an Bedeutung – politisch, geografisch, wissenschaftlich und wirtschaftlich.

Die Seidenstraße – jetzt zweispurig

Schuld daran ist nicht zuletzt der Klimawandel, denn die Arktis ist die Region, die sich im Zuge der globalen Erwärmung am schnellsten aufheizt. Das schafft neue Möglich- und Begehrlichkeiten. Während Chinas Aufstieg eng mit dem Programm der „Neuen Seidenstraße“ verbunden ist, gibt es im Norden des Planeten gerade eine ganz andere Route, die den Handel und das globale Mächteverhältnis umkrempeln kann: die polare Seidenstraße.

The Polar Silk Road // © Gregor Sailer

Der österreichische Fotograf Gregor Sailer hat sich aufgemacht, diese unwirtliche Region zu erkunden (selbst wenn es dort keine Pinguine gibt, wofür wir aber diesen Band empfehlen 😉). Was es stattdessen hoch im Norden gibt – und das ist viel – hat er in seinem Bildband The Polar Silk Road festgehalten, der im September 2021 im mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichneten Kehrer Verlag erschienen ist. Nur wenige dürften sich in der düsteren, kalten Region auskennen und Sailer bringt hier etwas Licht ins Dunkel der Polarregion.

Es werde polares Licht

Licht ins Dunkel zu bringen, ist auch Aufgabe von Wissenschaft und Forschung. So trifft es sich gut, dass gerade die in größerer Zahl vorhandenen Forschungsstationen und -einrichtungen zu den bevorzugten Motiven Sailers gehören. In Kanada, Großbritannien, Grönland, Norwegen und auf Island porträtiert Sailer Forschungsstationen und hält im Bild und manch kurzem erklärenden Text fest, wie der Mensch versucht, mehr über die Polarregion im Norden herauszufinden.

The Polar Silk Road // © Gregor Sailer

Dazu gehört nicht nur die zivile Nutzung, sondern auch die militärische, die vor allem im Kalten Krieg von höchster Bedeutung war. Auch wenn er manche Forschungs- oder Aufklärungsstation nur von außen ablichtet und die größten Geheimnisse vermutlich auch während des langen Polartags wohl im Dunkeln bleiben dürften, ist es dennoch anerkennens- und bemerkenswert, dass er diese Einblicke in seinem Band überhaupt liefern kann.

The Polar Silk Road // © Gregor Sailer

Denn die nördliche Polarregion gewinnt wieder an neuer Bedeutung: als Handelspassage, als Eis Dorado für nun erschließbar gewordene Ressourcen oder eben zu Forschungszwecken. Gerade die vormaligen oder aufsteigenden Großmächte haben das erkannt und ihre Politik entsprechend angepasst. Umso bedauernswerter ist es, dass Sailer keine Aufnahmen aus den Anrainerstaaten Russland oder den USA in seinen Band aufgenommen hat. Einzig der Nicht-Anrainerstaat China betreibt ein gemeinsames Forschungszentrum mit und auf Island, das Eingang in Sailers bemerkenswerten Band gefunden hat. Gerade solche gemeinsamen Einrichtungen sind jedoch häufig als „trojanische Pferde“ Beijings eine nicht zu unterschätzende Gefahr.

Weiß in weiß

Jenseits solch politischer und strategischer Erwägungen sind es aber vor allem die Bilder, die an The Polar Silk Road beeindrucken – eigentlich keine Überraschung bei einem Bildband. Die meisten der Motive finden sich wenig überraschend in einem fast ungreifbaren Weiß des Schnees, des Eises und vieler Wolken. Vor allem die vielen – vermutlich aus Tarn- oder Umweltgründen – weißen Gebäude heben sich oft nicht allzu sehr von ihrer Umgebung ab – in der Regel verschneite Landschaften mit Gräsern und Bäumchen, die aus dem Schnee ragen, gefrorenem Gras oder karger, grauer Granitstein.

The Polar Silk Road // © Gregor Sailer

Dies gilt umso mehr, als auch die Umgebung oft in ein bleiches Weiß gehüllt ist. Vom Nebel oder durch dicke Wolkendecken verhangenen Himmel dringt nur wenig Licht bis an die Erdoberfläche und die Kontraste in Sailers Aufnahmen bilden durchaus das eine oder andere Erschwernis für die Betrachterinnen und Betrachter von The Polar Silk Road. Das macht es allerdings umso spannender, die Bilder zu erforschen und zu entdecken, genau wie Sailer oder die Forschenden es in den Polarregionen machen. Gerade in der jetzigen dunklen Jahreszeit sei jedoch sehr empfohlen, sich den Bildband bei bestem Tageslicht (natürliches Licht ist aus vielen Gründen besser als künstliches) zur Hand zu nehmen, denn vor allem dann kommen die Kontraste und die vielfältigen Weißtöne zur Geltung.

Das Wissen gibt den Rahmen vor

Nicht nur die Bilder des, wie vom Kehrer Verlag gewohnt, sehr hochwertig gestalteten Bandes, sondern auch die einrahmenden Essays sollten aber an dieser Stelle Würdigung erfahren. Während die zumeist kurzen Erläuterungen zu den jeweiligen Örtlichkeiten innerhalb des Bildteils nur auf die jeweilige Station eingehen, ist The Polar Silk Road von vier teils sehr anspruchsvollen, aber gleichzeitig überaus eindrücklichen Essays von Fachleuten ihrer jeweiligen Disziplin eingerahmt. Diese erst geben dem gesamten Band seinen politisch-fotografischen Rahmen.

The Polar Silk Road // © Gregor Sailer

Peter Schweitzer erläutert die Idee der polaren Seidenstraße aus einer historisch-politischen Perspektive. Walter Moser blickt auf die fotografischen Aspekte, die Sailer bei seinen Aufnahmen bewegt haben dürften (hier empfehlen wir als Kontrast Heike Behrends Menschwerdung eines Affen, in dem sie auch auf die Bedeutung und Entwicklung der Fotografie in der Ethnografie eingeht). Carolyn Kirschner illustriert die technischen Aspekte der „Sensorlandschaft“ im Norden. Und Lassi Heininen knüpft bisweilen an Schweitzers Ausführungen an und beleuchtet geo- und sicherheitspolitische Perspektiven im arktischen Raum. Diese überaus lesenswerten Essays sind auf Englisch (am Anfang des Bandes) sowie auf Deutsch (am Ende) verfügbar und ergänzen Gregor Sailers Fotografien merklich.

Sein Bildband The Polar Silk Road schafft es somit, sowohl in Bild als auch in Text eine vielen von uns wohl unbekannte Region trotz ihrer unwirtlichen und teils unwirklichen Lebensbedingungen näherzubringen. Der Klimawandel trägt ein Wesentliches dazu bei, dass die Polkappen im Schmelzen begriffen sind und trotz aller negativen Auswirkungen, die dies mit sich bringt, ergeben sich auch Chancen. Andere erkennen diese Chancen und es ist von größter Bedeutung, dass auch wir diese Region nicht vernachlässigen. Gregor Sailer leistet somit mit seinem Band einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung über einen (noch) viel zu oft sehr weißen Fleck auf unserer Landkarte.

HMS

PS: In der Alfred Erhardt Stiftung, Auguststraße 75 in 10117 Berlin, ist noch bis zum 2. April 2023 die Ausstellung zu The Polar Silk Road zu sehen.

PPS: Mit den politischen Gegebenheiten und geostrategischen Interessen in der Arktis haben sich auch die Macherinnen und Macher des Podcasts Sicherheitshalber zur Außen- und Sicherheitspolitik in Folge 30 beschäftigt. Für weitergehende Informationen empfehlen wir daher jene Folge.

PPPS: Hier findet ihr einen interessanten Bericht aus dem NDR-Kulturjournal zum Band und seiner Entstehung.

Gregor Sailer: The Polar Silk Road; Texte: Lassi Heininen, Carolyn Kirschner, Günter Köck, Ralph Latteck, Walter Moser, Sune O. Rasmussen, Mike Rietveld, Peter Schweitzer; 1. Auflage, September 2021; Festeinband; 272 Seiten, 143 Farbabbildungen und 15 Karten; 22,5 x. 28,0 cm; Design: Manuel Radde; ISBN: 978-3-498-00207-7; Kehrer Verlag; 58,00 €; außerdem gibt es eine Edition mit Print für 250,00 €

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