Fotografische Grenzübermalungen

Fotos Beitragsbild, v. l. n. r.: Spyros Rennt, Birk Thomassen, Cover mit einem Matt Lambert-Bild, Daniel Jack Lyons

Wisst ihr noch, wie es in der Kindheit immer hieß, beim Ausmalen von Bildern sollten wir darauf achten bei den Farben nicht zu bunt zu werden?! Nicht zu weit weg davon, wie der Fisch wirklich aussieht, wie der Busch grünt, die Taube graut und wie Mann und Frau sich anziehen?! Und schon gar nicht und auf gar keinen Fall sollte über den verdammten Rand gemalt werden! Schon früh also setzt es an, dass wir nicht allzu bunt, sondern schön der genormten Schublade entsprechend leben sollten und wenn du da eben nicht reinpasst – dann stehst du außerhalb des Randes. Pech!

Fotos: © Florian Hetz

Alles ist zeitgenössisch Queer

Pech? Nun, vielleicht ist es ja abseits des Randes eigentlich viel geiler. Viel bunter, viel vielseitiger, viel offener. Vielleicht öffnet uns die Perspektive vom Rand aus einen viel breiteren Blick als die aus der Mitte heraus. So jedenfalls die Herangehensweise Benjamin Wolbergs an den von ihm herausgegebenen und im Verlag Kettler erschienen Band New Queer Photography – Focus on the Margins, in dem er die zeitgenössischen Arbeiten – hierauf bezieht sich auch das „New“ – von gut 50 queeren Fotograf*innen zusammenbringt. 

In der Tat sind viele der Arbeiten der vorgestellten Künstler*innen, die er in langjähriger Recherchearbeit ausgewählt und mit wohl teils leidenschaftlicher Überzeugungsarbeit für das Projekt gewonnen hat, in der letzten Dekade entstanden. Einige Bilder, wie jene von Ralf Obergfell, die die Drag- und Elektroszene im London der Nullerjahre zeigen, sind ein wenig älter, fallen aber dennoch in die Kategorie „zeitgenössische Fotografie“.

Foto: © Ralf Obergfell

Neben Obergfell finden sich weitere prominente Namen wie Matt Lambert; eine seiner Fotografien ziert auch das Cover, was für einige schon Kaufanreiz genug sein dürfte. Florian Hetz ist mit für seine Verhältnisse vergleichsweise braven, wenn auch sehr interessanten und von Ben Miller (der kurze Texte zu allen Künstler*innen beisteuert) plastisch beschriebenen Bildern vertreten. Joseph Wolfgang Ohlert taucht ebenso auf wie Spyros Rennt (mit einem der bewegtesten Bilder, dankenswerterweise auf einer Doppelseite) und Luis Venegas, dessen Twink-Betrachtungen nie wirklich langweilig werden.

Alles ist ein Spektrum

Vor allem aber bietet Wolbergs im wahrlich vielfältig und queer (er verwendet den Begriff als inkludierenden „umbrella term“, wie er in einer Fußnote im Nachwort anmerkt) kuratierten New Queer Photography auch internationalen Namen Platz, deren Bekanntheit ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht haben. Und er holt sich, ihnen und uns die Deutungshoheit über den Begriff zurück, die nicht bei irgendwelchen Degeto-Redakteur*innen, GQ-Schreiberlingen oder Parteistrategen liegen sollte. Die erwähnte aufwändige Recherchearbeit merken wir dem Band in seiner durchaus nicht unbedacht zufälligen Anordnung an. Herausgeber Wolbergs hat nicht einfach mal ein paar semi-hippe Künstler*innen zusammengestellt, die irgendwie rough aber auch irgendwie shiny sind. Ganz im Gegenteil bildet der Band ein breites Spektrum ab, nicht nur der sexuellen und geschlechtlichen Identitäten, sondern auch der künstlerischen Herangehensweisen, Hintergründe und Motivationen.

Fotos: © Birk Thomassen

Auffällig ist, dass doch einige der Fotograf*innen mit sich windenden oder gewundenen Körpern – ob einzeln oder zu zweit, manches Mal noch im Zusammenspiel mit Gegenständen, Pflanzen und Flächen – arbeiten, mit beinahe entstellten Formen, was in der Arbeit manch einer Künstlerin oder manch eines Künstlers durch eigenwillige Collagen oder das Auseinandernehmen und wieder Zusammenfügen einzelner Bilder auf die Spitze getrieben wird. Unter anderem die Fotografien von Red Rubber Road (aka AnaHell und Nathalie Dreier), Birk Thomassen, Mark McKnight (McKnight bearbeitet ein sehr weißes, cis-männliches Feld als nichtweiße, queere Person, arbeitet mit Form, Stein und Körpern – hier werden Assoziationen zu Francesca Catastinis Petrus geweckt), Gianfranco Briceño, Damien Blottière, Kostis Jokas (nein Ben Miller, nicht alle haben weiße Socken über) oder Jonathan Icher (der unweigerlich an Ryan Murphy denken lässt) spielen auf ganz unterschiedliche Art mit Form, Fokus und Deformation und die Ergebnisse wirken lange nach und laden zu immer neuen Betrachtungen ein.

Alles wirkt nach

Manches Mal geben hier die erwähnten knappen Texte des Schwule Museum-Vorstandsmitglieds Ben Miller eine recht konkrete Einordnung, an anderer Stelle umschreiben sie lediglich kurz den Hintergrund der Künstler*innen (was durchaus auch bei der Interpretation helfen kann) und erläutern wo Arbeiten veröffentlicht oder ausgestellt worden sind, wie z. B. im renommierten Leslie-Lohman-Museum oder beim Les Rencontres d’Arles-Festival. Bei wieder anderen sind sie im Grunde ein dezent abgewandelter Textteil der Erläuterungen der Künstler*innen selbst, wie beispielsweise im Beitrag zu Ashkan Sahihi und „seinen“ Beautiful Berlin Boys.

Foto: © Hao Nguyen

Hier mag jede*r Betrachtende selbst entscheiden, ob das als inkongruent oder abwechslungsreich empfunden wird. Wir hatten primär den Wunsch, Weiteres über die jeweiligen Fotograf*innen zu recherchieren, uns weiter in einzelne Arbeiten zu vertiefen. Wenn, aber das ist natürlich rein subjektiv, uns manch eine Formulierung Millers auch ein wenig drüber und affektiert schien. Wer ihm aber auf Twitter folgt, dürfte den Ton so oder so kennen. Aber auch hier gilt: Manches wirkt nach.

Fotos: © Robin Hammond

Ebenso wirken Bilder nach, die Menschen zeigen, die in Ländern leben, in denen gleichgeschlechtliches Leben und Lieben unter Strafe steht oder in einer Form geächtet ist, dass es dem gleichkommt. Hier sticht unter anderem die Portrait-Serie „Where love is illegal“ von Robin Hammond hervor, die Personen zeigt, die in Ländern leben, in den Homosexualität zu Haft, Folter und dem Tod führen kann. Begleitet werden die Bilder, die die abgebildeten Personen keineswegs als Opfer, sondern als mutige, widerstandsfähige und liebende Menschen zeigt, von einem packenden Essay Lew Hummeys.

Alles ist Ankommen

Das Foto-Projekt „A light inside“ von Danielle Villasana zeigt Transfrauen in Peru, die dort Gewalt, Repressionen und im Grunde einem Leben in einer Zwischenwelt, in der (Halb-)Illegalität ausgesetzt sind. Ein längerer Essay Ben Millers, der der Fotoreportage vorangestellt ist, erwähnt, dass 80 % der Morde an Transpersonen in Lateinamerika und Peru verübt werden. Wohingegen eine Transition für homosexuelle Menschen im Iran manches Mal die einzige Möglichkeit ist, der Ächtung und dem Tod zu entkommen. Oder eben die Flucht. In „There are no Homosexuals in Iran“ porträtiert die Fotografin Laurence Rasti iranische Geflüchtete im türkischen Denizil in Bildern, die trotz zumeist abgewandter oder verdeckter Gesichter eine warme Nähe vermitteln. Bradley Secker zeigt Polaroids aus seiner Reihe SEXUGEES, versehen mit Nachrichten und Preisen, die die Porträtierten für angemessen halten.

Foto: © Melody Melamed

Beeindruckend sind auch die Bilder des Georgiers Lasha Fox Tsertsvadze, die sogleich Nähe und Distanz, gar eine gewisse Resignation vermitteln. Kampfgeist und das Wissen, präsent zu sein, trotz aller Repressionen gegen Homophobie und Apartheid einzustehen, vermitteln die Fotografien von Julia Gunther aus der Foto-Serie „Rainbow Girls“ die Schwarze* lesbische Frauen in Südafrika zeigt. Soraya Zaman fotografiert in wunderbar natürlichem Licht transmaskuline Personen in den USA; ebenfalls in den USA begegnen uns (gender)queere Jugendliche in den Fotografien von M. Sharkey (eingerahmt von einem ganz tollen Essay von Alexander Chee). Mohamed Abdouni aus Istanbul zeigt queere arabische Kultur, Daniel Jack Lyons wiederum zeigt queere Menschen in Mosambik, Maika Elan porträtiert homosexuelle Männer in Vietnam. 

Foto: © M. Sharkey

Alles ist ungewiss 

Bei einem Band, der „Focus on the Margins“, also „Fokus auf den Rändern“, als Untertitel trägt, überrascht diese kritisch-politische, wachrüttelnde Richtung einiger Arbeiten ebensowenig wie die selbstbewusste Darstellung androgyner Elemente und die kraftvolle Infragestellung weißer, cis-normativer Welten. Bilder von Bettina Pittaluga, Lia Clay Miller, Pauliana Valente Pimentel oder Francesco Cascavilla stechen hier besonders heraus. Ergänzt um jene Bilder, die beinahe verspielt, in jedem Fall bewusst mit der reinen Sexualität umgehen und von Begehren, dem Spielen von Nähe und Distanz und teils frecher, teils fragender Sexyness geprägt sind.

Fotos: © Damien Blottière

Die Veröffentlichung im Oktober 2020 – durch Corona immer wieder verschoben – muss für Benjamin Wolbergs ein Moment unglaublicher innerlicher Befreiung gewesen sein, schreibt er doch in seinem selten offenen Nachwort, wie sehr ihn die Arbeit an New Queer Photography doch so manches Mal aufwühlte: Die Ungewissheit einen Verlag zu finden, die Ungewissheit, ob die Crowdfunding-Kampagne gelingen würde, die Ungewissheit wirklich richtig kuratiert zu haben. Vertraut habe er letztlich auf seine Intuition und nicht auf ein dogmatisches Herangehen gesetzt.

Alles ist politisch

New Queer Photography – der gewichtige, hochwertig gebundene, dank großen Formats prächtig seine Wirkung entfaltende, künstlerisch ansprechend und konsequent gestaltete Fotoband – bildet also eine ungemeine Vielfältigkeit ab, sowohl was die Repräsentation der verschiedenen sexuellen und geschlechtlichen Identitäten als auch die politischen und gesellschaftlichen Spannungsfelder angeht. Das zweifelnde Hirn Wolbergs, das er als Berater während des Entstehungsprozesses nennt und seine Intuition, haben also einen guten Dienst geleistet. Der Band verdeutlich damit auch, dass Queerness auf die eine oder andere Art nahezu immer politisch ist. Ihr Ausdruck zu verleihen, sie nach außen zu tragen, egal ob in westlichen Gesellschaften oder woanders, egal ob auf einer Demonstration, einer bunten Party oder als Teil einer Fotoserie, bedeutet auch immer einen Akt der Selbstermächtigung und einen Schritt zu mehr Akzeptanz.

Legt euch diesen Band also zu, streicht über das feste, strukturierte Cover mit der Matt Lambert-Fotografie, schlagt ihn auf, lasst die graue Doppelseite zum tiefen Atmen wirken, entdeckt das erste Bild „turkish delight“ von Rafael Medina, versehen mit dem Titel des Buches, auf einer folgenden Doppelseite ein eindrückliches Bild Soraya Zamans und „Focus on the Margins“, das Inhaltsverzeichnis präsentiert auf einer weiteren Lambert-Kreation, gefolgt von einem Bild wie für ein Editorial-Shooting von Hao Nguyen und dem wunderbar offenen, augenzwinkernden, perfekt auf den Band einstimmenden Vorwort von Gert Jonkers, dem Mitgründer von BUTT, und schließlich stürzen wir uns mit den freiheitsliebenden, kampfeslustigen und freudvollen Worten Benjamin Wolbergs in die weite Welt der queeren Fotografie.

Fotos: © Lissa Rivera

QR

PS: Angemerkt sei, dass alle Texte im Band in englischer Sprache sind. Vielen wird das nichts ausmachen, einigen schon. Schön wäre es hier doch, würde über ein kleines Begleitheft nachgedacht werden, das die Texte noch einmal in deutscher Sprache enthält. Gerade innerhalb der heterogenen LSBTI*-Community Deutschlands könnte der Band so sicherlich eine gute Wirkung und auch das eine oder andere Weiterdenken bewirken.

Einen Blick ins Buch gibt es hier.

Benjamin Wolbergs (Herausgeber): New Queer Photography; Oktober, 2020; Hardcover, 304 Seiten; 30 x 24 cm; Texte: Ben Miller, Edna Bonhomme, Alexander Chee, Gert Jonkers, Shiv Kotecha, Huw Lemmey, Benjamin Wolbergs; Design und Konzept: Benjamin Wolbergs; ISBN: 978-3-86206-789-3; Verlag Kettler; 58,00 €

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