Junge Liebe rastet nicht: „Love, Victor“-Staffel 2 ist reifer – und unsicherer

Hinweis: Bei den externen Links handelt es sich NICHT um Affiliate-Links*; bei den internen ohnehin nicht.

ACHTUNG: Die Besprechung der zweiten Staffel von Love, Victor geht davon aus, dass die Leser*innen die erste Staffel der Serie kennen. Wenn das nicht der Fall ist – große Spoiler. 

Seit heute gibt es eine Woche nach der Veröffentlichung in den USA auch bei uns die zweite Stafel von Love, Victor zu sehen. Wieder gibt es sie über den Kanal Star beim Streaming-Portal Disney+, wieder sind es zehn Folgen und wieder sind Isaac Aptaker und Elizabeth Berger als Showrunner für die Ausrichtung der Serie verantwortlich. Überhaupt kam es sowohl hinter wie auch vor der Kamera kaum zu Veränderungen. Einige neue Autor*innen sind dazu gekommen und natürlich neue Rollen. Beides tut der zweiten Staffel sehr gut, die die erste toppt.

Das Coming-out endet nie

Wir erinnern uns: Zuletzt sahen wir Victor Salazar (Michael Cimino), der die Creekwood High School in Georgia besucht, wie er seinen Eltern Isabel und Armando (Ana Ortiz, James Martinez) und seiner Schwester Pilar (Isabella Ferreira) eröffnete, dass er schwul ist. Dies, nachdem die Eltern verkündeten, sich aufgrund ihrer Differenzen für eine zeitlang trennen zu wollen. Direkt in diesem Moment setzen wir auch ein und die Reaktionen sind… gespalten.

Victors Eltern: Isabel (Ana Ortiz) und Armando (James Martinez) // Foto: © Greg Gayne/Hulu

Schwester Pilar herzt ihren etwas älteren Bruder, was zu erwarten war. Mutter Isabel und Vater Armando sind überrascht und etwas sprachlos. Über den Lauf der Staffel werden wir sehen, wie beide sehr unterschiedlich damit umgehen. Während Armando versucht über Besuche bei PFLAG (Parents, Families and Friends of Lesbians and Gays) Gespräche mit anderen Eltern und persönlicher Weiterentwicklung dem Leben seines Sohnes nah zu bleiben, hat Isabel größere Probleme, die auch, aber nicht nur, mit ihrem katholischen Glauben zusammenhängen. 

Auch zwischen Victor und Mia (Rachel Hilson) ist die Situation angespannt, schließlich erwischte sie ihn und Benji (George Sear, Alex Rider) beim Knutschen. Dafür gibt sich Jock-mit-Geist Andrew Spencer (Mason Gooding) weit gelassener als zum Anfang und versucht, nicht immer ganz uneigennützig, eine Gay-Allianz zu sein. Oder heißt es Hetero-Allianz? Wie er sich in einer wunderbaren Szene fragt. Denn Victor outet sich an der Schule und nicht all seine Basketball-Teammitglieder reagieren so entspannt wie gewünscht.

Junge Liebe ist komplex

Ein weiterer Fokus neben dem Umgang mit Victors Coming-out liegt auf seiner nun öffentlichen Beziehung mit Benji und auch der Beziehung zwischen dem immer noch schrulligen aber selbstsichereren Felix (Anthony Turpel) und der von Bebe Wood gespielten, wieder bedacht-bissigen Lake: „Say the word and I ditch these gays, like a corporation after Pride Month.“ („Sag einfach Bescheid und ich lasse die Homos fallen, wie ein Unternehmen nach dem Pride Month.“) Nicht nur in solchen hintergründig-witzigen Sprüchen ist merklich, dass die Serie etwas erwachsener geworden ist, ohne jedoch ihre Figuren auf einmal wie Mittzwanziger agieren zu lassen. Momente der Reflexion wechseln sich also gut mit jenen skurrilen Teilen ab, die uns auch die erste Staffel haben so lieben lassen.

Lake (Bebe Wood), Felix (Anthony Turpel), Benji (George Sear) und Victor (Michael Cimino) in ihrer perfekten Sommer-Blase // Foto: © HULU

Beide Beziehungen erleben ihre Ups-and-Downs, in beiden hängen die Downs vor allem mit unterschiedlichen, aber unausgesprochenen Erwartungshaltungen an die jeweiligen Partner*innen und mit verletztem Vertrauen zusammen. Bei Felix und Lake steht das im Zusammenhang mit seiner wohl bipolaren Mutter Dawn (super: Betsy Brandt; es brauchte etwas, bis ich in ihr Marie Schrader aus Breaking Bad erkannte), bei Victor und Benji ist es komplexer, da die Verletzungen teils abstrakter sind.

Was nun aber nicht heißt, dass die Staffel düster wäre. Ganz im Gegenteil! Sie ist nicht nur noch kurzweiliger als die erste, sondern durch die (zumeist) glaubwürdige Weiterentwicklung der einzelnen Charaktere und ihrer Geschichten werden auch wir Zuschauer*innen dafür belohnt, dass wir den Menschen und ihren Stories folgen. Die Autor*innen nehmen ihre Figuren und damit auch die Zuschauenden ernst. Sinnvoll gestalten sich auch die Ergänzungen von Andrews Freundin Lucy (Ava Capri), die wohl auch in einer dritten Staffel ein wichtige Position einnehmen könnte. Anthony Keyvan (der sicherlich auch in die Welt von Élite passen würde), der als Rahim nicht nur der beste Freund Pilars ist, sondern auch ein schwuler Teenager, der Angst hat, sich vor seinen muslimischen Eltern zu outen. Und natürlich sorgt er für manch eine Wirrung bei Victor und Co.

Auch wird deutlich, dass die Beziehungsprobleme der „Alten“ denen der Jüngeren in nichts nachstehen und es keinen Grund gäbe, die der einen weniger ernst zu nehmen als die der anderen. Das Licht geht bei Victors Mutter an einer sehr stillen, sehr guten und toll gemachten Stelle der Serie an. Ebenso wird deutlich, dass klare Kommunikation der Schlüssel ist. Doof, wenn er häufiger nicht zu finden ist. 

Schwere Themen mit leichtem Flair

In dieser Staffel finden die Themen internalisierter Rassismus und gefährliche Religiosität deutlicher statt als in der ersten. So bauen Rahim und Victor auch darüber eine Verbindung auf, dass sie nicht nur beide aus scheinbar nicht sonderlich liberalen, sondern vergleichsweise streng religiösen Hauhalten kommen, sondern auch beide nicht-weiß sind und es den meisten Menschen um sie herum schwerfällt, die damit verbundenen Schwierigkeiten zu sehen – ganz abgesehen von ihrer Sexualität.

Victor in der Umkleide – nicht alle Teammitglieder akzeptieren ihn // Foto: © HULU

Wie diese ernsthaften und nachdenklich stimmenden Töne immer wieder mit Witz, Esprit und auch Sexyness verknüpft werden, ist dabei nur eines der Erfolgsgeheimnisse der ehrgeizigen, aber (im Gegensatz zum deutschen All you need) nicht angestrengten zweiten Staffel von Love, Victor. Dazu wird das alles auf Augenhöhe von Teeangern vermittelt und dürfte wie bereits die erste Auflage helfen, manches, was diesen auf dem Herzen liegt, anzusprechen. Angst vor erstem Sex, Umgang mit Alkohol, Coming-out an der Schule, Überforderung mit der eigenen Situation, das Gefühl, nicht dazuzugehören und das Nicht-Gesehen-Werden in der eigenen Familie, all sowas wird neben den oben erwähnten Themen ebenfalls behandelt.

Und, ganz wichtig: Freundschaft und ihre verschiedenen Ausprägungen, somit auch verschiedene Arten von teils nicht-körperlicher Liebe. Das wieder mit einer größtmöglichen Natürlichkeit der Stories verknüpft macht einfach Freude und gibt uns für die zehn Folgen ein alles in allem gutes Gefühl. Wenn auch nicht alle mit der einen oder anderen Wendung zum Schluss zufrieden sein werden und ja, es gibt einen derben Cliffhanger, der sich schon weit vorher ankündigt und uns nichtsdestotrotz sehr unruhig und voller großer Erwartungen sein lässt. In diesem Sinne: Bis zum nächsten Jahr!

Victor und Benji – zufälliger Abstand? // Foto: © HULU

Die zweite Staffel von „Love, Victor“ schafft etwas, das nicht mehr vielen Serien gelingt: Sie behält Charme, Reiz und Frische der ersten Staffel, entwickelt Geschichten und Charaktere glaubwürdig weiter und erzählt fantastisch von Unsicherheiten junger Erwachsener und ihrer Eltern. –

PS: Wie auch in der ersten Staffel ist die Musik wesentlicher und wunderbarer Teil der Serie. Dieses Mal gibt es auch eine etwas längere Soundtrack-EP mit insgesamt neun Tracks, unter anderem von Duncan Laurence, FLETCHER, George Sear und Alice Longyu Gao.

USA-Poster für die zweite Staffel

Den Trailer mit deutschen Untertiteln findet ihr hier.

Love, Victor; Staffel 2; USA 2021; Idee: Isaac Aptaker & Elizabeth Berger; Musik: Siddhartha Khosla, Lauren Culjak; Darsteller*innen: Michael Cimino, Rachel Hilson, Anthony Turpel, Bebe Wood, George Sear, Mason Gooding, Isabella Ferreira, James Martinez, Ana Ortiz, Mateo Fernandez, Anthony Keyvan, Julie Benz, Sean O’Bryan, Betsy Brandt, Ava Capri, Nick Robinson, Mekhi Pfeifer, Sophia Bush; 10 Folgen, ca. 26 – 32 Minuten; ab 18. Juni auf Star von Disney+

*Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal oder hier via Ko-Fi tun. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert