Katzenartige Garnelenskelette in Nevadas Kratern

Beitragsbild: Das Buchcover auf einer Fotografie eines Strandes in Cancún.

Kaum ein Buch hat unseren Rezensenten so aufgewühlt, beschäftigt, mitgenommen und getragen wie „Nach der Sonne“ von Jonas Eika. Obwohl sich kaum Worte finden ließen, hat er ein paar Gedanken notiert.

Puh… Es gibt so diese Bücher, diese Geschichten, die nicht nur einfach Erzählung sind, die nicht nur einfach von Dir gelesen werden, sondern die etwas mit Dir machen. Die Dich nicht nur mit einem „Ah“ oder „Oh“ reagieren lassen, sondern die Dich in mehrerlei Hinsicht mitnehmen. Die wirklich etwas mit Dir machen. Die Dich berühren und das nicht, weil plump die große Liebe stirbt, sondern weil die Worte Dich erreichen, weil die Worte es schaffen, an Dein Innerstes zu gehen. Und dann sollst Du darüber schreiben, findest aber nicht die Worte. Immerhin willst Du dieser Wirkung und dem Buch gerecht werden.

Worte, die fehlen

Dann liegt es da – gelesen, immer wieder in die Hand genommen, immer wieder mal Teil eines Besprechungsversuchs, immer wieder in Gesprächen mit Freunden und Bekannten als unbedingte Empfehlung aufgetaucht; immer in Gedanken, immer als Vergleich mit anderen Büchern, die Du in den bald zehn Monaten seit der Lektüre dieses Buches gelesen hast; ausgezeichnete Bücher, im wörtlichen wie übertragenen Sinne, aber keines reichte da heran. Keines erreichte Dich so. Und doch fehlen Dir noch immer die passenden Worte für eine Besprechung.

So geht es mir nach wie vor mit Jonas Eikas Erzählungsroman Nach der Sonne. Das Buch des 1991 geborenen Dänen ist Mitte August 2020 in Deutschland bei Hanser Berlin erschienen, seither immer mal wieder positiv rezipiert worden, zuletzt war es für den Internationalen Literaturpreis 2021 nominiert, ist 2019 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet worden (die Dankesrede, die er dort hielt, ist unbedingt sehenswert). 

In dem nur etwa einhundertsechzig Seiten starken Buch geht es in insgesamt fünf Geschichten um einen IT-Berater, der feststellt, dass die Bank für die er arbeitet, in einem Krater versunken ist, in dem es sich allerdings leben ließe. Es geht um ein Ehepaar, das nach diversen Verlusterfahrungen die vermeintliche Altersruhe in der Wüste Nevadas sucht, inmitten einer Wohnkolonie, die auf die Ankunft von Außerirdischen wartet. Eine Obdachlose, die, beinahe mehr heimelige Katze als Mensch, mit einem Paar zusammenlebt, das irgendwie dem Hedonismus, aber nicht der Selbstgerechtigkeit entsagt hat. Und dann gibt es da die Beach Boys, die uns in zwei Geschichten begegnen. 

Sprache, die fühlt

An dieser Stelle möchte ich nicht dem Drang verfallen, die Geschichten zu sehr zu analysieren. Das habe ich für mich mehrmals getan, das habe ich mit Bekannten – die sich das Buch nach Empfehlung besorgt haben – getan. Die Faszination von Nach der Sonne liegt eben auch darin, sich die vielen verschiedenen Ebenen selbst zu erschließen. Ein*e jede*r wird anders an die Geschichten herangehen. Dort, wo ich in der Geschichte des IT-Beraters individuelle Einsamkeit und Angst vor Statusverlust herauslese, mag eine andere Person dezidierte Kritik am Kapitalismus erkennen. Beides widerspricht sich nicht, funktioniert als Erkenntnis gemeinsam. Dennoch ist die jeweilige Betrachtung eben unterschiedlich.

Dass Nach der Sonne aber als große Kritik an der Selbstverständlichkeit und -verherrlichung von Privilegien zu verstehen ist, ist kein großes Geheimnis. Dafür reicht ein Blick auf den Buchrücken. Viel interessanter ist es dabei, dass die Erzählungen Eikas dem vom Verlag genutzten Claim gerecht werden. So meint dieser unter anderem Nach der Sonne sei „eines jener Bücher […], die die Literatur an einen neuen Ort führen.“ Und das trifft es. Nicht nur weil Jonas Eika uns wörtlich an verschiedene und durch diverse Krater unbekannte Orte führt, sondern auch weil die Sprachkraft, mit der er arbeitet, uns zu diesen bringt.

„glatte, harte Haut wie lackiertes Holz“; „und ich verschloss meine Kehle, während sich die Dunkelheit über uns legte“; „Der Himmel ist wolkenverhangen, der Strand noch immer von stummen Körpern bedeckt“; „Garnelenskelett auf Manus Schwanz und in meiner Wirbelsäule weiches Gelee mit Eiern in Sonne auf sandigem Grund, kaufen wir von all unserem Geld Toast und Orangensaft“ – wer schreibt solche Sätze? Und wer hast das Glück, eine Übersetzerin wie Ursel Allenstein zu finden, die sie in ihrer kraftvollen Abseitigkeit, die immer nonchalant daherkommt, so ins Deutsche zu übertragen versteht?

Das beste Buch

Sowohl die Geschichte des Paares, das sich in der Wüste Nevadas niederlässt, mit den oben kurz erwähnten Verlusten, aber auch den nicht zwischen ihnen definierten Verlusten, zu kämpfen hat, wie auch die Geschichten um die Beach Boys, die wohlhabenden Tourist*innen Schirme, Cremes und Dinge des alltäglichen Strandbedarfs hinterhertragen und dabei keine Persönlichkeit haben dürfen, sind die sprachlich faszinierendsten. So abgefuckt und abgedroschen das klingen mag – Eika (und eben die famose Übersetzung) schafft hier ein beinahe transzendentales Spracherlebnis. Jemand schneidet sich in die Stimmbänder, um den ultimativen Schrei weiterleiten und verstehen, um die Dissonanzen der eigenen Welt hinter sich lassen zu können. Die Beach Boys, einander begehrend und doch nichts gönnend, unterstützen sich auf so abstrakte Weise, dass sie nicht nur garnelenhaft sind, sondern die Verlorenen in sexuell aufgeladenen Ritualen wieder zurückholen wollen. Blut, Sperma, Wasser, Dunkelheit, Sand, Sonne gehen hier eine kritisch-romantische Verbindung ein, die so abstrus wie greifbar ist.

All dies wird durch eine kunstvolle aber nie abgehobene Sprache so nah an Dich herangetragen, dass Du einfach nur denkst „Wahnsinn!“ Dabei kann Eika bei sprachlicher Schönheit auch unglaublich grausam sein. Gar nicht im Sinne direkt sprachlicher und bildlicher Brutalität, sondern viel eher gibt er in feinen Worten die niedersten Instinkte wieder. Derb ist das Buch dazu auch an vielen Stellen, aber auch dieses Derbe ist von der titelgebenden Sonne ummantelt. Interessanterweise sind gerade die Momente, in denen es die Sonne nicht gibt, die emotional ergreifendsten, die Momente die im Innersten berühren. Da ist Melancholie fühlbar. Eika erzählt eben auch von Menschen und ihrem ganz eigenen Verlustempfinden. Oder auch der Antizipation von Verlust. Von Eifersucht und dem Versuch einander trotz dieser emotional zu entlasten.

Das ist dann vielleicht einer dieser Vorteile, wenn ein Buch so lange unbesprochen ist: Du denkst immer wieder darüber nach, sprichst darüber, nimmst es wieder zur Hand und Dein Gefühl bleibt. Wenn Du wieder darin liest, packt es Dich direkt wieder, vielleicht auf eine andere Art, aber es hat Dich noch. Dann weißt Du auch, dass Du besten Gewissens sagen kannst: Dieses Buch war nicht nur ein begeisterter Moment. Nach der Sonne ist eines der besten Bücher des vergangenen Jahres, auch dieses Jahres und ich meine, eines der besten Bücher, die ich jemals gelesen habe. 

JW

PS: Wenn es ein Bild gäbe, das dem Buch entspräche, dann irgendwie „Apocalypse“ von Keith Haring.

Eine .pdf-Leseprobe findet ihr hier

Jonas Eika: Nach der Sonne; 1. Auflage, August 2020; Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein; 160 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; #ohnefolie; ISBN: 978-3-446-26782-4; Hanser Berlin; 20,00 €; auch als ebook erhältlich

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