Kein Coming-out gleicht dem anderen

In letzter Zeit wird vermehrt darüber debattiert oder auch gestritten, was ausreichend Repräsentanz von LSBTIQ*-Personen sei. Tauchen die inzwischen zu viel in Film und Fernsehen auf? In Büchern (im aktuellen Stephen King-Buch Später gibt es wie nebenbei eine lesbische Liebesgeschichte)? In der Musik? Im Sport! Alle auf einmal lesbisch, schwul, bi, trans*, inter oder was??!!? Ohnehin, outen sich ja gerade alle und binden ihre persönliche Sexualität der ganzen weiten Welt auf die Nase. Das kann so anstrengend sein, fragt mal Wolfgang Thierse. Das klingt bei manchen Kritiker*innen tatsächlich so als würden wir uns da gegenseitig zur Hauptsendezeit das Hirn rausvögeln.

Das ist ziemlicher Quatsch und von Überrepräsentanz sind wir weit entfernt, was sich auch daran festmachen lässt, dass bei jeder neuen queeren Erscheinung so viele kreischen: „Nun reicht es auch mal! Ihr habt doch alles!“ Ein neuer Beitrag der Repräsentanz und für so manch (jüngere) queere Person sicherlich auch Hilfestellung und Ermutigung ist das Buch Coming Out – Queere Stars über den wichtigsten Moment in ihrem Leben des aus dem Münsterland stammenden und in Berlin lebenden Journalisten Sebastian Goddemeier. Hierfür hat er mit 18 homo- und bisexuellen sowie transidenten Menschen gesprochen, die ihre ganz eigenen, teils sehr berührenden, manches Mal nicht nur in einer Hinsicht ärgerlichen und sich in manchen Problemen ähnelnden Geschichten erzählen. Wie es für sie war, als die „Anderen“ zwischen „Fußballjungs“ und „Pferdemädchen“ aufzuwachsen.  

Dabei überwiegen bei den 18 Personen eindeutig weiße homosexuelle Männer – ein möglicher wesentlicher Kritikpunkt, den Sebastian Goddemeier dankenswerterweise bereits in seinem Vorwort vorwegnimmt: die fehlende Diversität. Hierzu schreibt er, dass er sich natürlich mehr lesbische Personen, mehr transidente Menschen und ebenso mehr queere People of Color gewünscht hätte. Doch erhielt er als Antwort auf seine Anfragen, falls überhaupt, zumeist Absagen. Die Stelle nutzt er gleichsam, um kritisch anzumerken, dass Ausgrenzung und Mobbing leider auch in der queeren Community ein Problem sind. Dabei sollte man doch davon ausgehen, dass wir aufgrund eigener Erfahrungen es besser wüssten. Stimmt, sollte man. Ist leider nicht so, was durchaus frustrierend bis erschreckend ist. 

Hand in Hand statt Faust auf Faust

Gemein ist vielen Erzählungen, dass sie von ähnlichen Mustern der Ausgrenzung und des Mobbings handeln. Als „Mädchen“, „Schwuli“ oder „Schwuchtel“ bezeichnet zu werden, scheint quasi Standard zu sein und es deckt sich auch mit meinen Erfahrungen. Einige berichten von körperlichen Übergriffen, die an der einen oder anderen Stelle „simples“ Hänseln auf dem Schulhof überschreiten. Wobei Schikane natürlich immer Schikane ist. YouTuber Fabi Wndrlnd berichtet sogar davon, dass Mitschüler seinen damaligen Freund abgefangen und ausgeraubt hätten. Das ist schlicht entsetzlich und ließ lose an eine Erfahrung von Patjabbers denken, die er in seinem autobiografischen Roman beschreibt. Nicht jede*r wird durch diese Erlebnisse im Kern ihres oder seines Seins erschüttert, sondern schlicht verärgert und sauer. Bei anderen richtet es einen nur allmählich zu reparierenden psychischen und seelischen Schaden an. Beidem begegnen wir in Coming Out

Der Umgang mit diesen Erfahrungen unterscheidet sich natürlich. Zum einen in der eigenen Wahrnehmung, zum anderen in der Konsequenz. Manch eine*r igelt sich ein, zieht sich zurück, fällt (beinahe) in ein Loch, andere finden Halt immerhin im Kreis der Familie und der engsten Freunde, wieder andere, wie der Musiker Drangsal, gehen auf Konfrontationskurs und beleidigen oder schlagen physisch zurück, letzteres eine mir vertraute Reaktion. Inzwischen habe Drangsal aber auch für sich entdeckt, dass es mit Aggression nichts zu lösen gebe (besser „Hand in Hand als Faust auf Faust“, sagt er) und er werde gut angenommen, so wie er sei, bewege sich allerdings auch primär in seiner Bubble. Was viele von uns tun. Im Zweifel trennen sie ihr berufliches Leben noch vollkommen ab und der Rest ist dann halt Bubble.

Umso feiner ist es, im Buch vor allem Personen zu begegnen, die ihr queeres Ich auch im beruflichen Umfeld ausleben können. Das liegt aber natürlich auch daran, dass die Optionen als YouTuber*innen, Modedesigner und Partyveranstalter etwas besser liegen denn als Sprecher eines Familienunternehmens. Oder als Schlagersänger. So begegnet uns auch Matt Stoffers, der lange Jahre mit der Band Feuerherz erfolgreich war und sich in dieser Zeit nicht öffentlich outete und darüber sagt „Ich war nicht authentisch, klar.“ Diese Ehrlichkeit ist super und zeigt ebenfalls auf, wie borniert die Entertainmentindustrie zum Teil ist. Auch Eloy de Jong weiß davon ein Lied zu singen.

Viele Ähnlichkeiten und doch individuell 

Ansonsten unterscheiden sich die Erzählungen zumeist vor allem in Details. Insbesondere die der YouTuber*innen gleichen sich in vielerlei Hinsicht und bei einem flüssigen Durchlesen kann man hier im Nachhinein kurz durcheinander kommen, wo nun genau was erzählt wurde. Was nicht bedeutet, dass nicht jede Erfahrung für sich individuell wertvoll sei, es ist eben nur alles im Fluss.

Ebenso stellen beinahe alle fest, dass wir noch lange nicht am Ende der Geschichte angelangt seien, wenn es um Gleichstellung und Akzeptanz geht; dass wir noch weit weg davon sind, ebenso privilegiert zu sein, wie es Heterosexuelle seien. Dass es dahin kommen sollte, dass Coming-outs nicht mehr nötig seien (mit dem Begriff und Vorgang an sich hadern einige, Labels und so, andere hingegen haben dies als wichtigen Schritt ihrer Persönlichkeitsentwicklung wahrgenommen) und dass „wir“ nicht „deren“ Paradiesvögel seien.

Sebastian Goddemeier sprach ganz entspannt mit 18 queeren Persönlichkeiten über ihre Coming-outs. // Foto: © Yasmin Nickel

Manche Geschichten stechen hierbei besonders heraus, wie zum Beispiel die von Schauspieler, Partyveranstalter und Podcaster Dominik Djialeu, der nicht nur über seine schwierigen Outing-Erfahrungen als „Afrodeutscher mit kamerunischen Wurzeln“ spricht, sondern auch über Diskriminierungserfahrungen im Alltag (auf dem Amt, wo sonst?!), aber eben auch innerhalb der Community, wenn es beispielsweise um die Fetischisierung nicht weißer Menschen geht. Ähnliches weiß aus Sicht einer lesbischen Frau die Schriftstellerin und Aktivistin Katharina Oguntoye zu berichten, die neben Alltagsrassismus zusätzlich als PoC damit zu kämpfen hatte, für ihr Lesbischsein ausgegrenzt zu werden, oder viel eher, dass es einfach kein Thema sein konnte, weil es schlicht nicht akzeptiert war. Bis heute ginge es ihr so, dass sie in vermeintlich entspannt alternativen Kreisen auf tief sitzende homophobe Muster treffe und es störe sie, dass sie als Frau die Frauen liebt schlicht nicht darüber reden könne oder dürfe, wie es ihr gehe. Ihre in dieser Form erzählte Geschichte ist ein Highlight des Buches.

Ebenfalls berühren die Erfahrungen von Bambi Mercury, die vielen aus Queen of Drags bekannt sein dürfte, bei der irgendwie viel Unsägliches zusammenkam, so die eigene negative Sicht auf Homosexualität, quasi als Spiegelung des Umfelds, den Spruch der Eltern, sie würden ein schwules Kind lieben, als wäre (!) es das eigene und natürlich das nahezu typische Mobbing. Aber Bambi hat sich durchgekämpft, ist Vater von zwei Kindern und veröffentlicht Ende März gemeinsam mit dem Musiker MKSM eine Single. Ebenso ans Herz geht die Geschichte von Jolina Mennen, der einzigen transidenten Person im Buch, die nicht nur von Mobbing als Teil des Alltags berichtet, sondern auch davon, wie sie bei einem Gastaufenthalt in den USA nach ihrem Outing als damals noch schwuler Teenager der sehr religiösen Familie durch fortwährende Gespräche vermittelte: Ich bin doch vor allem ein Mensch (und somit Geschöpf Gottes). Auf die Schwierigkeit von Homosexualität und Religion macht auch der Volleyballer Benjamin Patch aufmerksam, der als schwarzes Adoptivkind bei weißen Mormonen aufwuchs; sein Beitrag bleibt aus mehreren Gründen in Erinnerung.

Ralf König, Jahrgang 1960, gibt ebenfalls interessante Einblicke in eine „andere“ Zeit, denn die meisten der Protagonist*innen sind, wie Sebastian Goddemeier selbst auch, der Generation Y zuzurechnen. König berichtet von einem etwas verschrobenen Bild, das man damals von Schwulen hatte (gerade natürlich auf dem Dorf) und berichtet, dass es ihm so vorkam, als sei nicht die Homosexualität das Problem, sondern der Umgang damit. Etwas, das sich auch mit den Geschichten und Analysen der Emotionsgeschichte anders fühlen – Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. deckt, welche wir bald besprechen werden. Ähnliches berichtet auch der Fußballer Markus Urban, dessen „Versteckspiel“ als homosexueller Mann im Sport (aber auch in der Gesellschaft) im gleichnamigen Buch von Ronny Blaschke ausführlich beschrieben wurde und der auch hier sinngemäß sagt, man spiegele die Gesellschaft und sie einen ebenso. Urbans Erfahrungen fanden in Teilen auch Einzug in den sehr sehenswerten Film Mario (im Buch steht, der Film basiere auf der Geschichte Urbans, das stimmt so jedoch nicht).

Highlight und Ärgernis

Stark interessant und unterhaltsam („Die Luft ist besser als in Berlin. Die Leute aber noch unfreundlicher. So ist das eben in Rheinland-Pfalz.“) ist die bereits angesprochene Geschichte des Musikers Drangsal, der tatsächlich einen sehr eigenen Blick auf die Dinge, die Welt und seine Umgebung hat. Das ist erfrischend! Seine Musik sei ebenfalls wärmstens empfohlen, spannende Joy Division-Vibes und so. Herrlich (und auch bewegend) ist die Geschichte von Filmemacher (Ich fühl mich Disco) und Schriftsteller (Nackt über Berlin) Axel Ranisch, die sich beinahe wie eine Kurzgeschichte liest und uns dazu noch ein paar witzige Einblicke zu Rosa von Praunheim eröffnet und klar macht: Berlin ist nicht gleich Berlin. Ein weiteres Highlight in Coming Out.

Eher ein Ärgernis ist der Beitrag zum SPD-Politiker Kevin Kühnert. Diesen nutzt er eher für eine politische Programmatik, was clever aber auch unsympathisch ist. Natürlich soll das Private gern auch politisch sein, denn ohne das gäbe es kaum ein Vorankommen. Doch wenn Kühnert hier sagt, er wolle nicht Hand in Hand gehen, auch aufgrund von Diskriminierungsmustern im Kopf, dann können die Leser*innen sich schon denken: So geht es auch nicht weiter. Darüber hinaus stellt er Politik für queere Menschen als „Betroffenenpolitik“ hin, was von einem schwulen Mann schon äußerst seltsam klingt und eine völlig verkehrte Zuschreibung ist. Irritierend ist es auch, gerade in Anbetracht der jüngsten Debatte um und mit Wolfgang Thierse, Gesine Schwan und Co., wenn Kevin Kühnert davon spricht, dass die SPD „fünf Evolutionswellen“ weiter und Homosexualität in der Partei kein Problem sei. Auch vor den Thierse-Äußerungen war diese Aussage schlicht unwahr. Auf die JUSOS möge sie zutreffen, auf die SPD im Gesamten auf gar keinen Fall. Abgesehen davon scheint er keine Ahnung von den Mechanismen internalisierter Homophobie zu haben und überhaupt lässt sich, wie so oft bei ihm, feststellen, dass er ziemlich weltfremd ist – eine Bubble ist nicht immer gut. Der ganze Beitrag ist ziemlich cringe. Außerdem ist es ein wenig schade, dass nur ein Politiker abgebildet ist.

Etwas, das an Coming Out irritiert, ist, dass nicht an allen Stellen klar ist, ob Sebastian Goddemeier in Form indirekter Rede schreibt oder manches seine eigenen Einlassungen und Einordnungen sind. Da er auch bei der Wiedergabe der Protagonist*innen nicht immer den Konjunktiv verwendet, gibt es hier und da Fragezeichen. Wenn er den Kühnert-Beitrag mit dem Satz „Wie sein Büro im Willy-Brandt-Haus hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt zu gestalten: bunter und gerechter“ abschließt, ist das recht eindeutig eine subjektive Bewertung. An anderer Stelle ist dies hingegen nicht so klar. Darüber hinaus wäre es nach seinem recht persönlichen und engagierten Vorwort schön gewesen, wenn er zum Ende des Buches noch ein kurzes Nachwort geschrieben, eine Art Fazit gezogen, hätte. So hört Coming Out plötzlich nach der interessanten Geschichte von Prince Charming Nicolas Puschmann auf (sieht man von der geschmeidigen Danksagung ab) und das fühlt sich irgendwie seltsam an.

Außerdem wäre es wünschenswert gewesen, zu den Protagonist*innen eine Kurzbiografie geliefert zu bekommen, oder wenigstens ein Geburtsjahr. Manches lässt sich aus den Erzählungen erschließen, einiges aber nicht, zumal es bei so einigen innerhalb der Geschichte ziemlich hin und her geht. Was völlig nachvollziehbar ist, denn persönliche Entwicklung ist in den seltensten Fällen ein linearer Vorgang. Gerade daher wäre es hilfreich, einen biografischen Hintergrund erläutert zu bekommen.

Ein Buch für alle?

Nun bin ich keine zwölf, vierzehn oder sechzehn mehr, gehe allerdings davon aus, dass ich damals für ein solches Buch unglaublich dankbar gewesen wäre. Zwar war ich, im Gegensatz zu einigen Gesprächspartner*innen Goddemeiers, mit meiner Homosexualität früh im Reinen und lebte sie auch recht zeitig aus, anfangs allerdings in einer Parallelwelt, die mit meinem eigentlichen „Leben“ keinerlei Berührungspunkte haben sollte. So wäre ein Buch wie Coming Out also fein gewesen, nicht nur wegen der Sichtbarkeit, sondern auch, weil ich verschiedene Menschen, mit teils sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen und Persönlichkeiten vor Augen geführt bekommen hätte, die irgendwie prominent, aber nicht alle ein Klischee sind und vor allem zumeist fest verankert im Leben sind. Denn, wie auch von so einigen Interviewten beschrieben, gab es zu einer gewissen Zeit irgendwie nur Dirk Bach und Hella von Sinnen und die sehr knalligen CSD-Übertragungen im Fernsehen. 

Insbesondere für jüngere Queers und solche, die mit ihrer Sexualität oder speziell einem Coming-out hadern, ist das alles in allem vielseitige Coming Out zu empfehlen. Für andere kann es eine interessante Reise zurück in die eigene Vergangenheit sein und eine Erinnerung daran, dass wir noch viel zu tun haben für Gleichstellung und Akzeptanz. 

Cover Coming Out

Eine Leseprobe findet ihr hier

Sebastian Goddemeier: Coming Out. Queere Stars über den wichtigsten Moment in ihrem Leben;  1. Auflage, Februar 2021; 224 Seiten; Softcover, broschiert; ISBN: 978-3-7423-1655-4; riva Verlag; 16,99 €; auch als eBook, 12,99 €

Beitragsbild: Foto links von Polina Tankilevitch, in der Mitte das Buchcover, Foto rechts von Tim Samuel / Komposition © the little queer review

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