Lernen fürs Leben dank Lücke im Lebenslauf

Die meisten Menschen fühlen sich ja in ihrem Alltag wohl, ihrer gewohnten Umgebung, ihrer Heimat. Aber es gibt auch diejenigen, die aus diesem Alltag ausbrechen wollen und müssen, um wirklich glücklich zu werden. Nick Martin gehört zur zweiten Kategorie Mensch. Er warf vor etwa zehn Jahren seinen sicheren Job als IT-Systemkaufmann hin, um auf Reisen zu gehen. Das macht er – mit Unterbrechungen – seither und hat darüber ein Buch geschrieben, das bei Conbook erschienen ist. In Die geilste Lücke im Lebenslauf – 6 Jahre Weltreisen beschreibt er gemeinsam mit seiner Texterin Anita Vetter seine Erfahrungen, seine Fehlschläge, seinen Alltag auf Reisen.

Ein jahrelanges Erlebnis mit Höh(l)en und Tiefen

Die geilste Lücke im Lebenslauf ist eine Geschichte der Suche nach Abenteuer, neuen Orten und Erfahrungen, aber auch der Rückkehr, von Enttäuschungen und von ganz viel Lernen. Nick Martin beschreibt, wie sehr eine „normale“ Backpackingreise im gemieteten Van durch Neuseeland seinen Wunsch nach mehr weckte. Er wollte mehr reisen, mehr sehen, mehr erleben. Schweren Herzens kündigt er daher seinen Job, kauft sich ein One-Way-Ticket nach Mexiko und startet dort sein Abenteuer, das ihn über mehrere Jahre auf die hohe und stürmische See des Pazifiks führt, in tiefe und dunkle guatemaltekische Höhlen, in die winterliche Kälte der bolivianischen Salzwüste oder auch die Passierschein-A 38-Hölle der Philippinen. Er wird angeschossen, betrogen und ausgeraubt, kotzt sich mehrfach die Seele aus dem Leib, macht Zeremonien mit Schamanen im Urwald des Amazonas mit und strippt auf einem Junggesellinnenabschied in Las Vegas. Alles Sachen, die unsereins im Alltag eher selten erlebt.

Der bunte Bus. // © CONBOOK Medien GmbH/Foto: Nick Martin

Gleichzeitig beschreibt er aber auch die vielen positiven Erfahrungen und Begegnungen, die er auf seinen Reisen macht. So viele wunderbare Orte, die er sieht – Machu Picchu in Peru, Surfen an pittoresken Stränden von Java, eine Fahrradfahrt auf der Todesroute in Bolivien – sowie die vielen Menschen, die ihn mit offenen Armen in ihren Häusern aufnehmen oder ihm von zu viel Spritgeld noch Essen vom Markt besorgen. Nick hat in seinem neuen Reisealltag so viele tolle Begegnungen, dass es große Freude macht, diese mit ihm Revue passieren zu lassen. Dabei helfen die pro Doppelseite durchschnittlich ein bis zwei Bilder aus seinem Fundus, die die Landschaften und Erfahrungen auch zeigen, sodass man sie sich nicht nur in seinem Kopf ausmalen muss.

Machu Picchu 💛 // © CONBOOK Medien GmbH/Foto: Nick Martin

Auch unangenehme Reisethemen kommen zur Sprache

Die geilste Lücke im Lebenslauf ist aber mehr als nur ein Reisebericht. Es ist die Geschichte einer persönlichen Entwicklung und sie beschreibt Stück für Stück, wie Nick auf seinen Reisen herausfindet, was er vom Leben will. Dazu tragen nicht nur die vielen guten Erfahrungen bei, sondern auch seine Rückschläge. Als er in Vietnam um sein restliches Geld gebracht wird, geht er nach Australien, nicht nur, um seine Kasse wieder aufzufüllen, sondern auch um sich (und der Welt) zu beweisen, dass er eigenständig aus seiner Misere entkommen kann. Als er direkt im Anschlusss für eine Weile (im kalten, grauen Winter) zurück nach Deutschland kehrt, verfällt er in eine klassische Reisedepression – dem Gefühl, dass er sich zu Hause erst einmal nicht mehr wohlfühlt, was schlussendlich auch dazu beiträgt, dass er wieder auf Reisen gehen wird.

Aber nicht nur die Reisedepression, auch der Travel Blues, ist eine heikle Thematik, die Nick nicht ausspart und auch vielen anderen Reisenden – mich eingeschlossen – bekannt sein dürfte. Nach weiteren Monaten auf Reise – inzwischen mit seiner Freundin – verfallen die beiden diesem Phänomen. Man kann noch so schöne Orte bereisen, noch so tolle Leute treffen, noch so gutes Essen essen, man hat dennoch keine Freude mehr daran. Reisen ist durchaus anstrengend und man ist mit so vielen Eindrücken – und oft auch Sorgen – konfrontiert, die man alle nicht verarbeiten kann. Als Reisender braucht man dann eine Pause und vielleicht doch einmal einen gewissen geordneten Alltag. Nick und seine Freundin finden den in einem Hostel in Ecuador und schaffen es, nach einigen Wochen Pause aus ihrem Blues auszubrechen. Es ist lobenswert, wie Die geilste Lücke im Lebenslaufauch diese heiklen Themen aufgreift.

Die Lücke nicht nur im Lebenslauf – auch manchmal in der kritischen Auseinandersetzung

Gleichzeitig muss aber auch ein bisschen Kritik sein. Genau wie Nicks Reisen ist das Buch sehr vollgepackt mit kurzen Abschnitten über einzelne Stationen und Erfahrungen. Manche davon sind so kurz gehalten, dass sie in die Erzählstruktur des Buches nicht immer hineinpassen, so beispielsweise die Passage „Hass und Freundschaft“ (S. 94/95), in der er Laura in Toronto begegnet. Während er einige Stationen, wie seinen Aufenthalt in El Salvador, immer wieder aufgreift (unter anderem auch im Pro- und im Epilog), heißt es über Laura unter anderem: „Wir entwickelten eine so gute, von Anfang an rein platonische Freundschaft, dass sie mich zwei Jahre später sogar auf die Hochzeit meines Bruders begleitete.“ Leider ist die Passage über Laura aber doch so kurz und unscheinbar, dass sie fast als „Füllmaterial“ empfunden wird und ein wenig untergeht. Das liegt vermutlich auch an der Erzählstruktur des Buches und daran, dass Nick bestimmt eine Menge toller Begegnungen hatte, aus denen er auswählen musste, welche er berichtet. Die Herzlichkeit, mit der er seine Beziehung zu Laura beschreibt, steht jedoch in starkem Kontrast zu dem Raum, den er ihr hier widmet.

Ein zweiter Kritikpunkt betrifft weniger das Buch als vielmehr den Reisestil. Nick scheint immer sehr offen auf die Menschen und die ihn erwartenden Situationen zuzugehen und sich auf neue Erfahrungen einzulassen. Was aber an vielen Stellen sehr kurz kommt, ist die gesellschaftliche Situation in vielen der von ihm bereisten Länder. Klar, er schreibt natürlich, dass El Salvador und viele zentralamerikanische Länder nicht gerade sicher sind, aber dennoch sind viele seiner Reiseziele nicht gerade für Menschenrechte und gute Regierungsführung bekannt. In vielen Gegenden regieren Gewalt, Clans und es herrschen Hunger und Unterdrückung. Solche Aspekte blendet das Buch an vielen Stellen leider arg aus.

In den Sonnenuntergang surfen. // © CONBOOK Medien GmbH/Foto: Nick Martin

Daran anschließend noch ein Punkt, der ausgerechnet in Nicks Generation ein wenig sauer aufstoßen dürfte: Reisen ist oft nicht gerade emissionsarm. Nick jettet sehr viel durch die Welt und Flugverkehr ist nicht als ökologischste Variante des Reisens bekannt. Die von ihm so geliebten Meere sind mehr und mehr mit Müll verschmutzt und Reisen verursacht an vielen Stellen zusätzlichen Unrat. Vor allem die Länder des globalen Südens, die Nick intensiv bereist (außer Subsahara-Afrika, was auch schade ist, denn auch hier gibt es spannende Länder mit offenen und einladenden Völkern), leiden darunter, aber leider geht er hierauf nicht wirklich ein. 

Dennoch: mehr als der Reisebericht eines extrovertierten Mannes in seinen Zwanzigern

Gleichwohl haben all seine Erfahrungen Nick Martin zu der Person werden lassen, die er heute ist und all das macht das Buch zu mehr als nur einem Reisebericht eines etwas extrovertierten jungen Mannes in seinen Zwanzigern. Nick hat aus den positiven und den negativen Erfahrungen etwas gemacht, nämlich mittlerweile ein Buch, eine Bühnenshow, einen Podcast und ein ganzes Programm, mit dem er Reisende und Aussteigewillige bei ihrem Wunsch nach einem neuen Alltag unterstützt. Das letzte Kapitel seines Buches heißt denn auch „Shit gets real“ und beschreibt, wie er seine Passion für das Reisen zu einem Job und einem Alltag gemacht hat. Sehr zu loben ist außerdem die Arbeit, die seine Texterin Anita Vetter geleistet hat, denn das Buch liest sich sehr gut und flüssig.

Nick Martin 2019 auf einer Veranstaltung. // © Ronny Barthel

Man freut sich als Leser sehr über die Entwicklung, die Nick über die Jahre gemacht hat. Die geilste Lücke im Lebenslauf – 6 Jahre Weltreisen ist daher die lange Geschichte einer Suche und eigentlich keiner Ankunft, aber dennoch des Findens. Es ist die Geschichte von Rückschlägen und Scheitern, aber auch von Wow, von Überwältigung und Wachstum. Und es ist die Geschichte eines ganz anderen Alltags, einer ganz anderen Heimat und von sehr vielen verschiedenen Umgebungen, die aus einem jungen Reisenden einen Mann mit Ideen und dem Mut diese auch umzusetzen gemacht hat. Ich habe in der Vergangenheit selbst auch einige spannende und lehrreiche Reisen und Ausbrüche aus dem Alltag unternommen. Auf Basis dieser Erfahrung kann ich die Lektüre des Buches sehr empfehlen.

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Cover // © CONBOOK Medien GmbH / Foto: Ronny Barthel

Infos zum Buch findet ihr hier.

Nick Martin & Anita Vetter: Die geilste Lücke im Lebenslauf – 6 Jahre Weltreisen; 3. Auflage, Januar 2020; Broschur, ca. 285 Seiten, zahlreiche Abbildungen; ISBN: 978-3-95889-249-1; Conbook Verlag; 19,95 €

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