Manches muss auch anders werden

Während Deutschland und seine Bürger 2020 unter Reisebeschränkungen litten, haben sich der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak und der Journalist Georg Milde aufgemacht, um die Stimmung und die Probleme im Land zu erfassen. Es wäre allerdings mehr als plump, dies als Anlass für einen Aufreger zu nehmen, denn der Job von Politikern und Journalisten ist es doch gerade, sich auch und besonders in Krisenzeiten mit den Problemen im Land zu befassen und Lösungsansätze hierfür zu entwickeln.

Ein Reisebericht der anderen Art

Das Anfang April im Herder Verlag erschienene Buch Was anders bleibt – Reise durch ein herausgefordertes Land ist die Dokumentation dieser Reise über 3 000 Kilometer im VW-Bus durch Deutschland. Ähnlich wie Oliver Lück erzählen auch diese beiden Bulli-Reisenden von ihren Begegnungen und Erfahrungen mit Menschen. Anders als der Fotograf, der seit Jahren durch Europa tourt, befassen sich Paul Ziemiak und Georg Milde aber mit den Problemen und Perspektiven in Deutschland vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und schreiben damit einen Reisebericht der etwas anderen Art.

Ziemiak und Milde besuchen eine Reihe unterschiedlicher Orte in mehr oder weniger der gesamten Bundesrepublik und schreiben in 40 kurzen Kapiteln über ihre Begegnungen. Vom Hilfsverein für Arbeitslose in Ziemiaks Wahlkreis in Wanne-Eickel und das Stadion von Borussia Dortmund, über den Mittelständler in Schwaben, das Grab Ludwig Erhards am Tegernsee und ein Gespräch mit dem Soziologen Armin Nassehi in München ist alles dabei. Aber die beiden fahren auch in den Osten Deutschlands: zu dem Anschlagsort in Halle, besuchen einen Forschungscampus an der Grenze zu Polen. Und es geht für zum Gespräch mit der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in Berlin, in den Dialog mit der Klimaaktivistin Carla Reemtsma oder abschließend in den Hambacher Forst, ein Symbol für die vielen Übergänge und Umbrüche, vor denen Deutschland steht.

Sehr löblich: Auch ein Abstecher nach Berlin-Schöneberg und in die dort beheimatete LGBTIQ*-Community findet sich in dem Buch, dessen vermutete Hauptleserschaft tendenziell mit jener Gruppe noch immer ein wenig fremdelt. Vielleicht trägt es ja ein wenig dazu bei, deren Berührungsängste mit LSBTIQ*-Themen abzulegen.

Keine Scheu vor unangenehmen Begegnungen – meist

Sie machen natürlich auch so manche eher unangenehme Begegnung. Klar, der Arbeitslosenhilfeverein ist vermutlich auch kein Ort, an dem man unbedingt verweilen möchte, aber schlimmer ist es mit Reichsbürgern und Verschwörungstheoretikern an einer Landstraße in Sachsen oder mit Menschen, die Tipps austauschen, wie man den Hitlergruß in der Öffentlichkeit zeigen kann, ohne dafür von der Polizei belangt zu werden.

Vor allem Paul Ziemiak irritiert an dieser Stelle allerdings ein wenig, denn von einem CDU-Generalsekretär würde man hier ein energisches Einschreiten erwarten dürfen und ein Eintreten für die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Stattdessen heißt es an dieser Stelle nur: „Wir stehen auf und gehen in Richtung Ausgang. Kein Ort, an dem man länger bleiben möchte. Unsere ablehnende Reaktion interessiert die Runde nicht weiter, ungerührt stößt man mit den Biergläsern an: ‚Auf Deutschland!‘“ (S. 92). Ziemiaks Vorvorgänger Peter Tauber hätte an dieser Stelle vermutlich anders, entschlossener, reagiert. Und das zurecht. Auch wenn man den beiden zugutehalten muss, dass sie sich an anderen Stellen durchaus auch auf schwierige Diskussionen auch mit Menschen, die krude Thesen vertreten, eingelassen haben (siehe das Beispiel an der Landstraße).

Grenzen und Herausforderungen eines coronageplagten Landes

Ähnlich wie Wolfgang Schäuble begeben sich Ziemiak und Milde somit in Grenzgebiete der Gesellschaft, nur machen sie das anders als der Bundestagspräsident physisch. Sie zeigen auf, wo der Staat aktuell vor Herausforderungen steht, wo Menschen am Rechtsstaat verzweifeln oder ihn ignorieren, aber auch, wo die partizipative Demokratie im Moment und vor dem Hintergrund von Corona vor großen Herausforderungen und Umbrüchen steht. Vor mancher kruder Wortneuschöpfung wie „Prä-Corona-Hedonismus“ (S. 15) schrecken sie dabei nicht zurück (auch wenn sie das Urheberrecht zu diesem Begriff Ungenannten attributieren – die gängigen und aufkeimenden Suchmaschinen kennen diesen Begriff allerdings nicht),

Die von Ziemiak und Milde geschilderten Begegnungen sind dennoch recht eindrucksvoll und zeigen den vielfältigen Reformbedarf in Deutschland auf. Und trotz der sehr kurzen Kapitel – die Niederschriften der Begegnungen füllen in der Regel jeweils zwei bis fünf Seiten – arbeiten die beiden recht klar heraus, welche Probleme aktuell erkennbar sind. Rückstand in der Digitalisierung, Spaltung der Gesellschaft (wozu auch so mancher Unionsmann seinen Beitrag geleistet haben mag), zunehmender Extremismus und Antisemitismus, Coronamüdigkeit, soziale Schieflagen, Schwächen in der sozialen Marktwirtschaft, und viele weitere.

Ziemiak und Milde schildern recht klar, welche Herausforderungen seitens der Politik angegangen werden müssen. Am Ende schaffen sie es trotz der Vielfältigkeit der Probleme, die angesprochenen Punkte mit einem gehörigen Schuss christdemokratischer Programmatik zu verknüpfen. Sie zeichnen das Grundgerüst eines herausgeforderten Landes und gleichzeitig aber auch, welche Lösungsansätze wir bereits heute haben oder zumindest entwickeln müssen.

Zuhören ist gut, antworten noch besser

Denn Ziemiak, das darf man vermuten, ist nicht zuletzt durch seine Position als CDU-Generalsekretär darauf bedacht, die Stimmung im Land korrekt einschätzen zu können. Eine Reise durch das Land scheint dafür eine angemessene Maßnahme zu sein und erinnert stark an die „Zuhörtour“ seiner Amtsvorgängerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Diese hatte 2018 ihre Tour gestartet, auf die eine „Antwort-T17our“ folgen sollte und darauf ein neues Grundsatzprogramm für ihre Partei.

Dieser Plan wurde durch ihren kurzzeitigen Parteivorsitz zunichtegemacht und es scheint, dass auch Ziemiak bislang kein gesteigertes Interesse daran hat, diesen Prozess in der Form wieder aufzugreifen. Akuter dürfte aktuell ein Wahlprogramm für CDU und CSU für die bevorstehende Bundestagswahl sein. Und genau für dieses liefert Was anders bleibt trotz des nicht alle Fragen abschließend erklärenden Titels möglicherweise einen wichtigen Ansatzpunkt. Es wird nun darauf ankommen, wie vor allem Ziemiak diese innerhalb seiner Parteienfamilie in ein solch konsistentes und überzeugendes Wahlprogramm und vielleicht später auch in ein Regierungsprogramm aka Koalitionsvertrag übersetzen können wird.

Wenn dies gelingt, dann ist Was anders bleibt vielleicht mehr als nur ein Buch, das zur typischen inhaltlichen Profilbildung im Vorwahlkampf beitragen kann. Wenn nicht, dann wird es vermutlich rückblickend nicht als mehr als ein Staubfänger in so manchem Regal enden (zu mehr als einem…). Wichtig wäre nämlich, dass so einiges nicht anders bleibt, sondern anders wird. Politik darf ihren Gestaltungsanspruch nie verlieren.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Paul Ziemiak, Georg Milde: Was anders bleibt – Reise durch ein herausgefordertes Land; 1. Auflage, April 2020; 192 Seiten; Gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-451-38981-8; Herder Verlag; 20,00 €; auch als eBook

Hinweis: Heute Abend, 3.5.2021, findet von 20:00 – 21:00 Uhr ein Online-Gespräch zum Buch zwischen Paul Ziemiak und dem Soziologieprofessor Armin Nassehi, ausgerichtet von der Konrad-Adenauer-Stiftung statt. Alle Infos hier.

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