Mensch und Macht und Raum im Bild festgehalten

In der Kaukasusregion Bergkarabach wurden vor wenigen Tagen die Grenzen neu gezogen, vielleicht für eine lange Zeit. Nach mehreren Wochen Krieg konnte Aserbaidschan das Gebiet, das seit dem Waffenstillstand vor fast 20 Jahren von Armenien verwaltet wurde, zurückerlangen. Die bisherige Line of Contact, die armenische und aserbaidschanische Truppen trennte, dürfte damit Geschichte sein und vielleicht zu einem weiteren Fotomotiv für Roger Eberhard avancieren.

Bereits im September berichteten wir über Eberhards Ausstellung Human Territoriality in der Robert Morat Galerie in Berlin. Diese basierte auf einem ganzen Bildband des Fotokünstlers, in dem er frühere Grenzlinien ablichtet. Der Bildband war nun für den Photo-Text Book Award der Recontres d‘Arles nominiert. Auch wenn er sich, wie gestern bekannt wurde, am Ende nicht gegen Zanjir von Amak Mahmoodian durchsetzen konnte, ist Human Territoriality nichtsdestoweniger ein überaus wertvoller Bildband mit eingängigen und äußerst veranschaulichenden Erläuterungen, die Eberhard gemeinsam mit Henk van Houtum verfasste, der den Sieg in jedem Fall verdient hätte.

Human Territoriality: Ein äußerst vielseitiger Text-Bildband

Neben den im Sommer in der Ausstellung des Berliner Galeristen Robert Morat gezeigten Bildern kann Human Territoriality nämlich noch mit vielen weiteren Eindrücken aufwarten. Manch alte Grenzbefestigung besteht noch als Ruine, wie in Mirleft in Marokko (S. 100/101) oder den Grenzwällen des Römischen Imperiums (Germanischer Limes, S. 88/89 sowie Hadrianswall, S. 90/91). Um manche wurde in unerbittlichen Kriegen und Auseinandersetzungen gekämpft, wie in Magersfontein in Südafrika (S. 76/77) oder am Lake Leqinat zwischen Montenegro und dem Kosovo (S. 82/83).

Die Atacamawüste ist die trockenste Wüste der Welt. // © Roger Eberhard, „Human Territoriality“, Edition Patrick Frey, 2020

Der Bildband besticht dabei mit seinen scharfen und klug ausgewählten Motiven. Weite Natur wie in der chilenischen Atacamawüste (S. 16/17), Wasser, zum Beispiel am Río Biobío im erstaunlich stark vertretenen Chile (S. 92/93) wechseln sich in beeindruckender Weise mit menschengemachten Grenzverläufen ab. Auch vor Motiven im urbanen Raum macht Eberhard keinen Halt. Das Nobistor in Hamburg (S. 68/69) ist genauso dabei, wie die Wohn- und Geschäftstürme von Shenzhen in China vor einem Feuchtbiotop, das die Stadt von Hongkong trennt (S. 28/29). Eine ganze beeindruckende Reihe zeigt den alten Grenzverlauf innerhalb der heute chinesischen Stadt Tianjin (S. 48 – 55).

Grenzen trennen, Grenzen verbinden

Wieder andere hatten ganz praktische Bedeutung und zeigen, wie sehr Grenzen unsere Politik und den Alltag der Menschen prägen. Beispielsweise der Eckerdamm an der früheren innerdeutschen Grenze (S. 12/13), die eine Wartung der Wasserrohre, die unter anderem die Städte Braunschweig und Wolfsburg versorgten, über Jahrzehnte der deutschen Teilung unmöglich machte.

100th Meridian, Teil der Grenze zwischen den USA und Mexiko. // © Roger Eberhard, „Human Territoriality“, Edition Patrick Frey, 2020

Oder die veränderten Flussläufe an der Maas zwischen, die die Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden markierte (S. 14/15). Durch die Veränderung des Flusslaufs entstanden für beide Staaten Inseln, die sie nur über das Territorium des jeweils anderen Landes erreichen konnten und somit Gebiete mit nur beschränkt durchsetzbarer Jurisdiktion.

Macht und Ohnmacht

Roger Eberhard zeigt in diesen Beispielen ganz eindrücklich, wie offenkundig Macht oft ist, aber wie ohnmächtig man sich gleichzeitig gegenüber einer anderen Macht fühlen kann, wenn die eigene Macht nicht durchsetzbar ist. Überaus eindrücklich und bedrückend wird das am Beispiel der 2019 eingeweihten Brücke über die Straße von Kertsch (S. 26/27). Russland baute diese, um die Krim nach dem unter illegalen Voraussetzungen abgehaltenen Referendum auch physisch in sein Land einzugliedern und mit dem Festland zu verbinden.

Sông Bến Hải
Im vietnamesischen Sông Bến Hải standen sich im Kalten Krieg Sozialismus und Kapitalismus gegenüber. // © Roger Eberhard, „Human Territoriality“, Edition Patrick Frey, 2020

In Karabach und Armenien mögen sich viele ähnlich fühlen, wie in der Ukraine ob des Landverlusts. Umgekehrt war vor fast 20 Jahren ebendieses Gefühl bei den Bewohnerinnen und Bewohnern von Aserbaidschan vorherrschend und so stark, dass die heutige Situation als eine Folge der 1994 vorgezogenen Grenzziehung betrachtet werden muss. Die Völker auf beiden Seiten durften nun erfahren, wie machtlos man sich gegenüber einer anderen Macht fühlen kann.

Wir sehen die Stille

Ähnlich seiner Ausstellung versieht Eberhard seine Bilder jeweils mit einer historischen Rückschau. Mit Henk van Houtum erläutert er, was der Betrachter oder die Betrachterin sieht. Der Fotograf gibt einen wertvollen Exkurs in die Geschichte des Ortes, den er uns zeigt. Human Territoriality liest sich daher wie ein Kurznachschlagewerk über die Konflikte der Vergangenheit.

Was allerdings in allen Bildern fehlt, ist Leben, das über Pflanzen hinaus geht. Keine Menschen, keine Tiere, kein Verkehr. Eberhard zeigt alle von ihm fotografierten Orte in Ruhe und Stille. Die Orte sollen für sich sprechen und für ihre Geschichte. Oft ist sie nicht mehr sichtbar, aber sie ist stets greifbar. Genau wie es Macht auch ist. Auch sie kann man nicht sehen, sie ist ein menschliches und eigentlich auch natürliches Konstrukt, dem wir uns in der Gesellschaft unterzuordnen haben, ob wir es wollen oder nicht. Und diese wohl bewusste Abwesenheit von mobilem Leben unterstreicht die Mobilität und Verschiebbarkeit von Grenzen.

Covadonga in Spanien. // © Roger Eberhard, „Human Territoriality“, Edition Patrick Frey, 2020

Eine Geschichte von Mensch und Menschheit auf der Erde

Human Territoriality ist somit auch ein Stück weit Zeugnis für die Geschichte der letzten zwei Jahrtausende. Kriege, Völkerwanderungen, soziale und wirtschaftliche Veränderungen spiegeln sich in den verschobenen Grenzen wider und wir sind auch heute mit ihnen konfrontiert. An vielen Stellen ist die Natur zu sehen, wie sie sich nun zurückholt, was ihr einst gehörte, die Menschen ihr entrissen und sie sich nun ohne Erbarmen zurück kämpft.

Wir haben dies kürzlich in der Dokumentation über das Leben von Sir David Attenborough gesehen und wir sehen es in anderer Form bei Roger Eberhard. In seiner ganz eigenen Version. Und die ist auf andere Art gleichsam betrüblich und ermunternd. Human Territoriality ist somit ein Bildband, der den/die Betrachter/in daran erinnert, dass er/sie sich erinnern muss und ständig durch seine Umgebung an die Vergangenheit erinnert wird. Und vor allem an die Kriege der Vergangenheit, denn sie definieren die Gegenwart. Und wo der Mensch nicht erinnert, kommt die Natur und ficht ihren ganz eigenen Kampf.

HMS

Human Territoriality – Ein Cover, das das Programm vorgibt.

Roger Eberhard: Human Territoriality; 1. Auflage 2020; Hardcover, gebunden; 116 Seiten; 51 Farbabbildungen; 24,5 x 33,5 cm; Englisch; Texte: Roger Eberhard, Henk van Houtum; Design: Giliane Cachin; ISBN: 978-3-907236-00-0; Edition Patrick Frey; 60,00 €

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