Primatin inter pares

Wie wichtig uns Selbstbestimmung und Selbstbestimmtheit sind, wird uns aktuell immer wieder bewusst. Ob es Corona ist, das jeden von uns unmittelbar betrifft, oder der Wunsch nicht von äußeren Mächten dominiert zu werden – Russland und China lassen ihre Muskeln spielen – Souveränität und die Gefahren für diese rücken in letzter Zeit immer mehr in unser Bewusstsein.

Dazu passt der Wunsch, auch souverän darüber zu entscheiden, was von einem bleibt, wenn er oder sie einmal nicht mehr ist. Während sich beispielsweise die Chinesen entschlossen haben, Maos Erbe weitgehend zu tilgen, ist die Ethnologin Heike Behrend ein Mensch, der selbst darüber bestimmen möchte, wie das eigene Leben und Wirken im Text festgehalten wird. Ihr Buch ist im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienen und heißt ganz unprätentiös Menschwerdung eines Affen – Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung. Nachdem sie hierfür in der vergangenen Woche den Buchpreis der Leipziger Buchmesse gewonnen hat, ist ihr Werk auch für den Deutschen Sachbuchpreis 2021 nominiert, der am 14. Juni vergeben wird.

Eine Ethnografin ethnografiert sich selbst

Der Titel verrät bereits sehr viel über die Agenda des Buchs. Heike Behrend beschreibt ihre persönlichen Erfahrungen als Ethnologin, zuerst im Studium, dann als Forscherin und Professorin der Ethnologie. Sie verknüpft dabei ihre eigene Biografie mit der Entwicklung des Fachbereichs und das ist äußerst spannend und aufschlussreich, nicht zuletzt für diejenigen, die die Ethnologie noch eher in die Schublade „Orchideenfach“ stecken, aber auch Orchideen können bekanntermaßen zu Inspiration führen.

Der Großteil ihrer Forschungsarbeit führte Heike Behrend nach Ostafrika. In vier längeren Kapiteln beschreibt sie ihre Erlebnisse in Kenia und Uganda. Zu Beginn ethnografiert sie die Bewohnerinnen und Bewohner in den Tugenbergen im nordwestlichen Kenia. Kapitel 2 und 3 „spielen“ in Uganda, erst auf der Spur von Geistern im Norden des Landes, anschließend im Königreich Tooro in Westuganda. Den Abschluss bildet ein Kapitel über die Fotografie an der Küste Ostafrikas – also zurück in Kenia.

Behrend beschreibt dabei stets sehr genau, wie sie zu einer bestimmten Forschungsfrage kam, wie diese sich meist auf Basis der vor Ort vorgefundenen Gegebenheiten noch einmal völlig veränderte und wie sie dennoch stets einen wichtigen Beitrag zur ethnologischen Forschung leistete. Sie sah sich dabei häufig mit nicht unwesentlichen Schwierigkeiten konfrontiert, die nicht zuletzt aus den Eigenheiten jeder Kultur resultierten. Gerade diese kulturellen Unterschiede stellen sie vor eine Reihe von Herausforderungen und machen aber das Buch lehr- und aufschlussreich.

Ethno- und Fotografie im Fokus

In den Tugenbergen ist das beispielsweise der Stammesritus, den sie vorfand und der Europäerinnen und Europäern vielleicht höchstens als „Kirchturmdenken“ ansatzweise bekannt ist. In die Gesellschaft muss sie erst einmal hineinwachsen, vom „Affen“, wie sie anfangs bezeichnet wurde, zu einem menschlichen Teil der Gesellschaft werden. In Uganda wiederum ist sie mit manch okkultem und aus europäischer Sicht eher feudalem Konzept konfrontiert, mit Hexerei, Geistern und Exorzismus oder auch mit Kannibalismus, den übrigens ganz ohne Ironie die katholische Kirche dort durchaus ein wenig befeuert.

Hierbei hebt sich das letzte Kapitel ein wenig ab. Während es in den ersten drei Teilen eher um die Ethnologie und den ethnografischen Prozess in den jeweiligen Regionen geht, widmet sich der letzte Abschnitt eher dem Medium der Fotografie, welchen Einfluss und Eindruck diese in Kenia hinterlassen hat. Ähnlich wie in den anderen Abschnitten verbindet dies zwar auch philosophische Aspekte des Mediums mit der praktischen und kulturellen Anwendung, aber es geht doch weniger darum, die hierzulande oftmals als archaisch wahrgenommenen Kulturen und Strukturen zu erforschen als vielmehr das Medium und seine Rolle vor Ort selbst. Dieser Teil vereint somit vor allem soziologische und kunsthistorische Aspekte in sich, was allerdings nicht weniger spannend ist.

Affen, Hexen und Kannibalen

Menschwerdung eines Affen ist somit in Hinblick auf die Geschichte der Ethnologie sowohl eine Aufzeichnung von Behrends Forschung vor Ort als auch die Begegnung mit manch einem uns vermutlich eher fremden, archaischen, gar barbarischen Konzept. Dazu gehören wechselnde Vornamen im Lauf des Lebens – unter anderem ein so genannter „Ziegenname“ – in den Tugenbergen, die gleichzeitige Verehrung und Furcht vor Geistern und Dämonen, die im Norden Ugandas zu einer ganzen Terrorbewegung wurde (Behrend beschreibt hier sehr eindrücklich die Minderheitenperspektive aus der Bewegung heraus) oder eben Hexerei und Kannibalismus. Gleichermaßen setzt sie sich sehr intensiv mit diesen Konzepten auseinander und führt den Leserinnen und Lesern vor Augen, dass beispielsweise Kannibalismus auch bei uns vielleicht nicht so fremd sein mag, wie wir das vermuten, nicht ohne ein leichtes Schmunzeln auszulösen.

Man muss sich stets vor Augen führen, dass die Arbeit, die Behrend in Menschwerdung eines Affen leistet, in postkolonialen Gegenden stattfindet. Der Kolonialismus hat in Kenia und Uganda – und selbstverständlich auch in vielen anderen Teilen der Welt – großes Unheil angerichtet und den örtlichen Kulturen die westliche „Zivilisation“ übergestülpt. Umso spannender ist es zu sehen, wie sich die postkolonialen Kulturen nach der Souveränität der beiden Staaten entwickelten und teils in „alte“ Traditionen und Verhaltensmuster zurückzufallen schienen. Oder vielleicht einfach nur offenbar wurde, dass das koloniale Experiment nicht ganz funktioniert hat? Ganz besonders spannend ist in diesem Hinblick übrigens das Beispiel der katholischen Kirche, die manch archaisches Ritual eher verschlimmbessert haben dürfte als zum Seelenfrieden beigetragen zu haben.

Manchmal scheitert man…

Darüber hinaus ist Menschwerdung eines Affen aber eben mehr als nur eine ethnografische Betrachtung. Heike Behrend beschreibt auch ihre persönlichen Erfahrungen und auch so manches Scheitern sehr eindrücklich, aber natürlich auch, wo sie in ihrer Arbeit Erfolg hatte. Gescheitert ist sie in ihrer eigenen Einschätzung beispielsweise bei einer Zeremonie, bei der der Zeremonienmeister betrunken ankam und nach einer Stunde Beschwörung Behrend und das Filmteam bespuckte. Hier hieß es schnell alle Siebensachen packen und verschwinden.

Oder auch bei den Fotografen aus Kenia, die ihre in Österreich ausgestellten Werke in einem Bildband gemeinsam mit polnischen, homoerotisch angehauchten Fotografien von Menschen mit Behinderungen wiederfanden. Was bei uns als künstlerisch sorgfältig kuratiert durchgehen mag, stieß in Kenia auf Scham und Unverständnis (auch wenn Behrend für die Zusammenstellung des Bandes nichts konnte, den Katalog vorab aber auch nicht auf eventuelle Problemlagen durchsah). Überhaupt wird Homosexualität auch an einer anderen Stelle noch einmal erwähnt, nicht ohne uns ein royalistisches Schmunzeln auf die Lippen zu zaubern (und natürlich auch nicht, ohne dass die katholische Kirche sich hier mal wieder selten dämlich angestellt hat). Wie schwierig das Thema Homosexualität in Ostafrika und konkret in Kenia und Uganda noch heute ist, sehen wir beispielsweise in dem lesbischen Empowerment-Film Rafiki oder in dem Jugendbuch Kampala – Hamburg von Lutz van Dijk, die wir an dieser Stelle gerne zur weiteren Information empfehlen.

… und manchmal hat man wiederum Erfolg

Gleichzeitig gab es bei ihrer Forschung aber auch Erfolge, die Heike Behrend ebenfalls sehr eindrücklich herausstellt. Ob es die Möglichkeit für jene afrikanischen Künstler war, in Europa auszustellen und so ein gänzlich neues Genre afrikanischer Fotokunst zu etablieren, den interkulturellen Austausch mit der afrikanisch-ethnologischen Wissenschaft zu intensivieren oder einfach uns vor Augen zu führen, welche kulturellen Unterschiede es zwischen den Völkern gibt und was sie gleichermaßen vereint, in Menschwerdung eines Affen stellt Heike Behrend sehr griffig dar, wie gegenseitiges kulturelles Verständnis und der Dialog zwischen den Völkern zur Ausbildung von gegenseitigem Respekt beitragen kann und muss.

Die Verknüpfung dieser Inhalte mit ihrer eigenen Biografie ist zwar gewagt, aber Heike Behrend sehr gelungen, nicht zuletzt aufgrund des hohen Maßes an Selbstkritik, das sie an den Tag legt. Menschwerdung eines Affen ist somit ein Buch, das man wohl nicht jeden Tag in die Hand nimmt, aber eines, das sehr eindrücklich den Blick über den Tellerrand hinaus zulässt. Um sich die eigene Souveränität zu bewahren, muss man diesen manchmal wagen und einige Dinge auch in die eigene Hand nehmen – so wie Heike Behrend dies in ihrer Autobiografie der ethnografischen Forschung mit großem Erfolg gelungen ist.

HMS

PS: Sehr hervorzuheben ist die Aufmachung des Buchs. Es fühlt sich an, wie ein richtiges Buch, nicht zu leicht und nicht zu schwer. Es hat ohne Schutzumschlag einen aufwändig gestalteten Einband und auch der Satz – schlicht und ordentlich – tragen zu einer konstanten Lesefreude bei. Hier also ein großes Lob an den Verlag Matthes & Seitz Berlin, Judith Schalansky, Anita Beck und Tom Mrazauskas.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Heike Behrend: Menschwerdung eines Affen – Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung; 2. Auflage, 2021; 278 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-95757-955-3; Matthes & Seitz Berlin; 25,00 €; auch als eBook

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