Scheitern mit und an Arroganz

Welches Zitat fällt einem ein, wenn man an Martin Schulz denkt? Richtig: keines. Ist das etwa schon ein Indiz dafür, wie unfassbar wenig einprägsam die Zeit des 100-Prozent-Mannes an der Spitze der einstmals stolzen Volkspartei SPD ist (Link?)? Das nach Willy Brandt ausgebrochene Chaos geht bekanntermaßen auch heute noch weiter.

Von Schulz bleibt also quasi nichts. Nur über Schulz bleibt etwas: nämlich diverse Einlassungen des Spiegel-Journalisten Markus Feldenkirchen über die „Ära Schulz“ und einen nahezu unfreiwillig satirisch geprägten Kanzlerwahlkampf 2017. In mehreren Episoden haben wir seine Beobachtungen aus Die Schulz-Story: Ein Jahr zwischen Höhenflug und Absturz als Hörbuch verfolgt und mussten nicht selten die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Dankenswerterweise wurde es von Helmut Winkelmann eingelesen, der eine gesunde Süffisanz, auch gegenüber dem Autor, durchhören lässt. Sein letztes Hörbuch allerdings, denn Helmut Winkelmann verstarb kurz nach der Aufnahme.

Feldenkirchen und der Mann aus Würselen

Zur Story: Feldenkirchen begleitete den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz 2017 etwa ein halbes Jahr lang. Von der verstolperten Personalrochade im Januar 2017 (zur Erinnerung: Außenminister Frank-Walter Steinmeier sollte Bundespräsident werden, der Wirtschaftsminister und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel wollte Steinmeier beerben und sowohl Parteivorsitz als auch Kanzlerkandidatur an den zuvor vielen eher unbekannten, dann aber schlagartig beliebten, mit seinem Sitz im EU-Parlament unterforderten, Martin Schulz, abgeben) über den 100-Prozent-Parteitag in Berlin im März und die lange Tour des Wahlkampfs bis zum Wahltag am 24. September 2017 begleitete Feldenkirchen den Mann aus Würselen und schrieb seine Beobachtungen in besagtem Buch nieder.

Auch wenn das Projekt damit eigentlich abgeschlossen sein sollte, geht es aber wegen des Scheiterns der Jamaika-Verhandlungen und dem durch den zwischenzeitlich zum Bundespräsidenten gewählten Steinmeier ausgeübten Druck noch weiter bis zum Ende der Koalitionsverhandlungen. Diese führten erneut zur Bildung einer Großen Koalition und zum anschließenden Rückzug von Schulz als grandios, beinahe dramatisch, gescheitertem Parteivorsitzenden, der noch am Tag nach der Wahl lautstark verkündete: „In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nie eintreten!“ (ok, dieses Zitat könnte vermutlich lange in Erinnerung bleiben), denn entgegen dieser Worte wollte Schulz nun doch Außenminister in der aktuellen Großen Koalition werden.

Feldenkirchen schafft es, trotz aller „Ich-bin-dabei-Selbstbeweihräucherung“, derer viele politische Beobachter anheimfallen, dabei sehr gut, wesentliche Schwachstellen von Schulz‘ Kandidatur und seiner Kampagne herauszuarbeiten.

Schwachstelle Nummer 1: Der Kandidat und sein Team

Über den Lauf der Kampagne hinweg wird ziemlich klar, dass Martin Schulz nicht der richtige Kandidat für die SPD war. Das sah zu Beginn der Kampagne ganz und gar nicht danach aus, vom „Schulz-Hype“ war die Rede und die CDU lag mit ihrer Kandidatin Angela Merkel in den Umfragen deutlich hinter dem Mann aus Würselen. Dies ging so lange gut, bis die drei für die SPD aussichtsreichen Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und im Stammland Nordrhein-Westfalen teils sehr überraschend verloren gingen. Schulz als die große Unbekannte in der Bundespolitik und sein Ergebnis bei der Wahl zum Parteivorsitzenden ohne eine einzige Gegenstimme hatten nahezu unerfüllbare Erwartungen geweckt.

Der Kandidat war lange vage geblieben, ohne scharfes Profil, ohne Inhalte, für die er stand. Diese Problematik wurde laut Feldenkirchens Bericht zwar erkannt, aber es wurde nichts daraus gemacht. Schulz wollte Schulz sein, ganz anders als „das Establishment“, auf die Leute zugehen und ihnen zuhören. Feldenkirchen schreibt an vielen Stellen, dass Schulz zunehmend unzufrieden damit war, wie die Kampagne geführt wurde, geführt werden musste. Dass Schulz nicht er selbst sein konnte. Dass ihm von seinem Team immer entscheidende und die Persönlichkeit prägende Formulierungen aus Reden gestrichen wurden oder Schulz in seiner Wahrnehmung auf die falschen Termine geschickt wurde. Wie könne man auch nach den Krawallen beim G20-Gipfel in Hamburg nur wenige Tage später einen regulären Wahlkampfauftritt in der Hansestadt planen? Stattdessen gab es eine Bootsfahrt, die jedoch ebenfalls zum kommunikativen Desaster geriet.

Das ist ein allgemeines Problem der SPD – es wird ein Programm entwickelt, aus einer Kommission heraus, die alle befrieden soll und dann gibt es die kandierende Person (machen wir uns nichts vor – es sind bisher immer Männer gewesen, Frauen, die zu weit nach vorne drängten, wurden gern weggebasht. Da kann die Partei auch noch so oft „Gleichstellung“ rufen), die dies zu vermitteln hat.

Allerdings ist Führungs- und Durchsetzungsstärke ebenfalls eine Qualität, die ein Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat unter Beweis stellen muss. Schulz jedoch, darauf lassen Feldenkirchens Schilderungen schließen, konnte diese nicht unter Beweis stellen. Stattdessen fühlte er sich immer von allen missverstanden, empfand sich als Opfer und Fremdkörper, und das schlug sich zunehmend auf seine Kampagne und sein öffentliches Auftreten durch. 

Der Druck schien in dem Moment von Schulz abgefallen zu sein, als die Wahllokale geschlossen hatten. Sein Auftritt in der Berliner Runde reicht zwar nicht an den von Gerhard Schröder aus dem Jahr 2005 heran, aber gewisse Parallelen wurden deutlich; er hat an diesem Abend Druck ablassen können. Diese Episode zeigt in aller Deutlichkeit, wie Schulz seine Wut auf Angela Merkel projiziert.

Wer jedoch mit öffentlichem Druck nicht umgehen kann und sich nicht mit kompetenten Beratern umgibt (und deren Kompetenz und Ratschläge auch regelmäßig hinterfragt), der ist wohl dem höchsten Exekutivamt der Bundesrepublik Deutschland nicht gewachsen. Schulz war also der falsche Kandidat für die SPD. Zugegeben, die Verfasser dieser Zeilen sind und waren nie Schulz-Fans, aber die auditive Lektüre von Feldenkirchens Schilderungen trug nicht unbedingt zur Ausbildung von Sympathie gegenüber dem „Mann mit den Haaren im Gesicht“ bei.

Schwachstelle Nummer 2: Es ist immer wieder Sigmar Gabriel

Und bei diesem Stichwort sind wir bei einer zweiten Schwäche des Wahlkampfs, die sich wie ein sozialdemokratenroter Faden durch die Kampagne ziehen soll: Schulz‘ Vorgänger im Amt des Parteivorsitzenden und Neu-Außenminister Sigmar Gabriel. Als Schulz verkündete, dass er nun doch Außenminister werden und damit Gabriel aufs Altenteil schieben wolle, konterte letzterer mit einem bösen Foul. Er zitierte seine Tochter öffentlich mit den Worten: „Papa, jetzt hast du doch mehr Zeit mit uns. Das ist doch besser als mit dem Mann mit den Haaren im Gesicht“, und verunglimpfte Schulz auf Basis seiner Erscheinung.

Martin Schulz kämpft, irgendwie. Bei einer Wahlveranstaltung am 20. September 2017 in Gelsenkirchen, vier Tage vor der Wahl. // Bild: Ziko van Dijk, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Die Szene steht exemplarisch für eine mehr als abgekühlte Männerfreundschaft in der vermeintlichen Partei des kleinen Mannes. Noch bei der Verkündung der Personalrochade im Januar 2017 waren die beiden Best Buddies, aber nachdem Gabriel den Staffelstab an Schulz übergeben hatte, zog er sich ins Amt des Außenministers zurück, das einem traditionell hohe Beliebtheitswerte verschafft – so auch dem sich mit der SPD in einer gegenseitigen notorischen Hass-Liebe befindlichen Gabriel. Er unterwarf sich bewusst der Kabinettsdisziplin unter der CDU-Gegenkandidatin Angela Merkel und ließ Schulz die „Beinfreiheit“ (wie es der SPD-Kandidat Peer Steinbrück 2013 nannte), die er als Mann von außerhalb des Establishments brauchte.

Dennoch scheint es, dass Gabriel nicht loslassen konnte. Feldenkirchen greift immer wieder auf, wie sehr Gabriels Äußerungen den Kandidaten Schulz und sein Team beeinflusst und beeinträchtigt haben. Gabriel sorgte immer wieder für Gesprächsstoff und Schulz schaffte es mit seinem Team nicht, den Vorgänger und immer weniger verbundenen Freund einzuhegen. Gabriel wurde – wenn auch vermutlich unbeabsichtigt – mehr und mehr zur Belastung für die Kampagne. Feldenkirchen schafft es sehr gut, dieses Problem in seinem Buch mittels Berichten aus Hintergrundrunden im Wahlkampfteam einzuflechten. Er schafft es, den Niedergang einer einst großen Männerfreundschaft eindrücklicher darzustellen als das viele auf der renommierten Spiegel-Bestsellerliste vertretenen Romanautoren könnten.

Schwachstelle Nummer 3: Die Presse

Ein letzter Punkt, der sich durch den Wahlkampf zieht, ist Schulz‘ öffentliche Wahrnehmung. Oder vielmehr seine Wahrnehmung über seine Wahrnehmung. Feldenkirchen schreibt an unzählig vielen Stellen, wie Martin Schulz sich von der Presse und den Medienvertretern benachteiligt fühlte. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten leisteten aus seiner Sicht „Hofberichterstattung“ für die Kanzlerin und das Drehbuch für die jährlichen Sommerinterviews würde den Redaktionen „vom Kanzleramt diktiert“. 

Mit solchen Kommentaren und Einlassungen, oder vielmehr Ausfällen, spielt er doch leider eher den Populisten ist die Hände und gibt ihnen Sprit fürs eigene Narrativ. Dass seine eigenen Auftritte schlicht und einfach schlecht waren, er auf zu erwartende Fragen nicht vorbereitet war, lässt er einfach unter den Tisch fallen. Schulz beklagt sich wieder und wieder über die zunehmend schlechte Berichterstattung über ihn. Anstatt aber in die Offensive zu gehen, sich so zu geben, wie er tatsächlich ist, sich aber auch unangenehmen Fragen und Kritik zu stellen, auf diese Idee kommt er nicht. Stattdessen versinkt er mehr und mehr in Selbstmitleid und mit ihm sinken auch seine Kampagne und das Wahlergebnis auf die bekannten 20,5 Prozent.

Etwas Geschmackvolles ist bei der Analyse des Wahlkampfs immerhin entstanden / Bild: © the little queer review

Erstaunlich ist aber auch, welches Verständnis Feldenkirchen über seinen eigenen Berufsstand erkennen lässt. An mehreren Stellen drängt sich auf, dass der Autor nicht allzu viel von seinen Kollegen zu halten scheint. Die Frage stellt sich schon, warum er, der selbst als Medienschaffender seine Brötchen verdient, und in der Woche nach der Bundestagswahl sein Blatt, den Spiegel, mit seiner Langzeitstory aufmachen lässt, wenn doch diese die Politiker unter Druck setzende Berichterstattung nicht hilfreich sei – wohl wissend, dass dieses Buch ein Bestseller werden könnte. Feldenkirchen beschreibt am Anfang, wie ihn die Berichte über Wahlkämpfe geprägt haben und dass er so etwas auch gern machen wollte. So sollte man hier das Ego des Autors nicht aus der Erzählung nehmen. Das Bashing von Kollegen und Umfragen, das er gern einschiebt, um sich somit als die einzig vernunftbegabte Stimme der Politberichterstattung wahrnehmen zu lassen, ist äußerst ärgerlich. 

Warum Feldenkirchen dann ein ganzes Buch daraus macht, sich im Epilog sogar noch selbst für seine Leistung lobt und sich selbst rezipiert, ist eine Frage, die er sicherlich eines Tages als Ruheständler in einem Spiegel-Exklusiv-Interview beantworten wird. Ein bisschen mehr Selbstkritik und professionelle Distanz wäre an dieser Stelle durchaus angebracht gewesen. Frei nach einer Redensart: „Niemand hat die Weisheit politsicher Berichterstattung mit Löffeln gefressen.“

Bevor die nächste Beobachtung wieder „Giftschrank“ wird

Alles in allem legt Feldenkirchen aber ein sehr informatives Werk vor, bei dem man an vielen Stellen unwillkürlich „Stimmt, das war ja auch noch“ denkt. Uns hat es jedenfalls bei einer Reihe von Kochabenden begleitet und zwar mit einer Mischung aus Vorfreude auf die nächsten Kapitel und der gleichzeitigen Erwartung, gelegentlichen enervierten Aufstöhnens während des Kochprozesses (nein, die Zutaten waren stets frisch).

Die Lektüre (schriftlich oder akustisch) sei allen politisch Interessierten empfohlen, die sich mit einem gescheiterten Wahlkampf auseinandersetzen wollen und allen, die gerne noch einmal in die jüngere Zeitgeschichte der politischen Bundesrepublik eintauchen möchten. Vor allem sei sie aber den Verantwortlichen im Willy-Brandt-Haus oder auch anderer Parteizentralen empfohlen. An einer Stelle wird Peer Steinbrück zitiert, noch missmutiger als sonst üblich, dass ihn niemand um Rat zur Fehlervermeidung in Schulz‘ Wahlkampf konsultiert habe. Feldenkirchen liefert im Gegensatz zu Schulz etwas, das bleibt, nämlich wichtige Protokolle über den graduellen Niedergang der Kampagne und über die wesentlichen Fehler, die Schulz und sein Team sich geleistet haben. Die 9 Stunden und 34 Minuten seien daher den vermutlich spätestens Anfang 2021 wieder erwachenden Wahlkämpfern der Republik als „Giftschrank-Lektüre“ sehr empfohlen.

HMS & AS

Die Schulz-Story von Markus Feldenkirchen

Hier noch ein Auszug aus dem Hörbuch: https://www.youtube.com/watch?v=LrUsxRHkTMQ

Hier könnt ihr einen Blick in das Buch werfen.

Feldenkirchen, Markus: Die Schulz-Story- Ein Jahr zwischen Höhenflug und Absturz ; 320 Seiten; Hardcover; ISBN: 978-3-421-04821-9; DVA; 20,00€; das hier besprochene Hörbuch findet ihr bspw. hier.

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitstzeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert