„Später“ ist noch nicht das Ende

Zugegeben: Der Autor dieser Zeilen vermag es nicht mehr genau zu sagen, wann er das letzte Buch von Stephen King gelesen hat. Es muss einige Zeit her sein. Früher las er die Bücher gern – als Jugendlicher, junger Erwachsener und dann hörte das irgendwann einfach auf. Vielleicht wurden es zu viele, vielleicht schienen manche zu geschwätzig. Auf jeden Fall erinnert er sich, dass eines der eindrücklichsten Bücher Kings für ihn Das Mädchen gewesen ist, welches er in jungen Jahren an einem Strand in Ravenna las. Die Geschichte von Trisha, die sich auf einer Wanderung von ihrer Familie entfernt und schließlich neun Tage allein im Wald verbringt, verfolgt entweder nur von der Angst oder tatsächlich einem Etwas („Gott der Verirrten“). Die Geschichte, in der es auch ums Großwerden geht, ist, ohne den harten Horror auszupacken, derart stimmungsvoll, emotional berührend, spannend und im besten Sinne schauerlich. Auf ein ähnliches Terrain begibt King sich mit seinem neuen Buch Später, das dieser Tage erschienen ist.

Fein verwobene Aufdringlichkeit

Die Ausgangslage des für King-Verhältnisse mit 300 Seiten beinahe nur als Handreichung zu bezeichnenden Buches ist eine recht schlichte, die aber viel Raum für die sich entspinnende Geschichte bietet. Jamie Conklin wächst mit seiner alleinerziehenden Mutter Tia, einer erfolgreichen Literaturagentin, in der Nähe von Manhattan auf. Die beiden stehen einander sehr nah, was auch daran liegen mag, dass sie ein Geheimnis verbindet: Jamie kann kurz nach ihrem Ableben die Toten sehen, allerdings nicht so wie in dem Bruce Willis-Film und Tote sind auch keine Geister, wie der erwachsene Ich-Erzähler gleich zu Beginn festhält. Das Faszinierende: Die Toten müssen alle Fragen, die Jamie ihnen stellt, wahrheitsgemäß beantworten. Wie sehr diese Gabe Fluch und Segen ist, stellt Jamie fest, als er zwar seiner Mutter aus einer schwierigen Lage helfen kann, später aber eine vermeintlich vertraute Person, Liz, die Ex-Freundin der Mutter, seine Fähigkeiten auszunutzen sucht und damit etwas in die Welt zu holen droht, das hier nichts zu suchen hat.

In Später fällt dieses Wort auch sehr häufig. Später. In seinem Vorwort nimmt King, also Jamie, dies auch gleich vorweg und gibt sich so, als würde es ihn stören. Natürlich zieht sich dieses „Später“ als Stilmittel durch und funktioniert wie eine Art verzögerter Cliffhanger, sinngemäß nach dem Motto: „Ich sollte noch merken, dass dies ein Fehler war. Später.“; „Dass Liz doch nicht toll ist, würde mir klar werden – später.“; „Ich würde das Geheimnis meiner Mutter erfahren. Später.“ Und so weiter und so fort. Das ist manches Mal sehr charmant, ermüdet im Laufe der Zeit aber doch, da dieses „Später“ und viele der Andeutungen, die Jamie ebenfalls macht, sich doch zumeist zehn Seiten später auflösen sollen (es gibt allerdings Ausnahmen).

Interessant ist, wie Jamie, der die Geschichte mit Anfang zwanzig aufschreibt, immer mal als später 14- oder 15-Jähriger auf sein 6-jähriges Ich zurückblickt. Da merken wir Leser*innen, dass King sich durchaus nach wie vor gut in Kinder und Heranwachsende und deren ganz eigene Probleme und Sicht auf die Welt hineinzuversetzen vermag, was sein Meisterwerk Stand By Me / Die Leiche so grandios und zeitlos werden ließ. Allerdings gab King in Interviews durchaus auch an, dass er ohne seine Enkelkinder hier und da aufgeschmissen wäre, was beispielsweise Popkultur angeht. Dies erklärt wohl die Erwähnungen von The Big Bang Theory, Fringe, Torchwood, etc. Das fügt sich auch zeitlich alles, die Geschichte setzt Mitte der Nullerjahre ein und geht letztlich bis ins Heute. 

Lesbische Sichtbarkeit

Überhaupt verknüpft King seine Geschichte immer wieder mit dem echten Leben: Streitereien um (vermeintliche) Polizeigewalt zwischen Tia und ihrer Freundin Liz (die lesbische Liebesgeschichte webt er ganz selbstverständlich in seine Geschichte ein, was freut), einer Polizistin; Rassismus; die Wirtschaftskrise 2008/2009; sogar die Behauptung, Barack Obama sei kein Amerikaner findet Einzug und somit schon eine Andeutung auf das Aufkeimen der extremen Rechten in den USA. Ebenso finden sich durchaus bedenkenswerte Aussagen wie „Vorgefasste Überzeugungen sind eine hohe Hürde, die für kluge Leute vielleicht sogar noch höher ist.“ Das Buch vermag durchaus zu überraschen.

Die Story schraubt sich immer weiter hoch und liest sich in der Tat sehr flüssig, der eine oder andere Schauer wird von einem Lachen abgelöst und umgedreht. Irgendwo im Mittelteil droht sie sich kurz zu verlieren, fängt sich dann aber schnell wieder und steuert recht zielstrebig auf ein einigermaßen lautes und derbes Finale zu, bei dem King wohl noch einmal den zuvor gering ausgefallenen Ekelfaktor steigern wollte. Später ist, auch wenn Jamie das immer behauptet, keine Horrorstory. Es ist ein spannender Thriller mit einigen Grusel- und Schockmomenten, ergänzt um eine angenehm erzählte Mutter-Sohn-Geschichte und eben eine Coming-of-Age-Story. Die inhaltliche und emotionale Größe von Das Mädchen erreicht Später jedoch nie.

Natürlich lässt das Ende die Option auf eine Fortsetzung offen, die allerdings nicht unbedingt notwendig erscheint. Gerade wenn man sich vor Augen hält, dass dieses Buch schon vor Wiederholungen strotzt, als würden wir uns im siebten Teil einer Saga befinden und es müsse nochmals auf Band eins verwiesen werden. Eine große Saga spielt übrigens eine wichtige Rolle und natürlich erinnert sie nicht von ungefähr an Game of Thrones und George R.R. Martin. Darüber hinaus gibt es einige schöne Anspielungen und fein verpackte Kritik am Literaturbetrieb und der Jagd nach dem nächsten großen, eher oberflächlichen Ding. Diese Welt ist King natürlich vertraut, er ist gar ein wesentlicher Teil davon, und man möchte beim Lesen denken, dass er das mit einer gewissen Selbstironie geschrieben hat.

Später ist die Geschichte eines Aufwachsens in schwierigen Zeiten und mit einer schwierigen Gabe. Nicht jede*r Tote ist gruselig, manch eine*r dafür um so mehr; gleiches gilt für die Lebenden. Ein empfehlenswerter, unterhaltsamer und teils schauriger Thriller für zwischendurch. 

AS

Cover Später von Stephen King

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Stephen King: Später; 1. Auflage, März 2021; Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt; 304 Seiten; Hardcover, mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-453-27335-1; Heyne; 22,00 €; auch als eBook, 17,99 €

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitstzeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert