Standardwerk mit subjektiven Schwächen

Beitragsbild: © the little queer review // Hintergrundfoto: Eisenbahnlinie am Grenzzaun Mazedonien – Griechenland, © BalkansCat

Der so renommierte, wie streitbare Welt-Journalist und Theodor-Wolff-Preisträger Robin Alexander hat sein erstes Buch Die Getriebenen zur Flüchtlingskrise aus dem Jahr 2015 bereits 2017 vorgelegt. In diesem Jahr lief in der ARD die mehr schlecht, als recht gestaltete Verfilmung. Das und der Umstand, dass sich die so genannte Grenzöffnung 2020 zum fünften Mal jährt, war Anlass das Buch nochmals in Ruhe zu lesen und zu besprechen. Nun geschah auch noch der Brand in Moria und die Europäische Union zeigt sich erneut unflexibel, unversöhnt und unwillig. Ein Szenario, wie es der Autor bereits aus den Jahren 2015 und 2016 skizziert und als künftig kaum veränderbar prophezeit. 

Was passiert: Robin Alexander beschreibt in 17 Kapiteln, was sich in den rund 180 Tagen während der „heißen Phase“ der Flüchtlingskrise zwischen September 2015 und März 2016 abspielte. Er rekonstruiert teilweise minutiös, was hinter den Kulissen geschah: Wer wann mit wem sprach oder gesprochen habe könnte; wer wen auszustechen oder zu überlisten versuchte; welche Loyalitäten verletzt und welche Bündnisse neu geschmiedet wurden. Anfangs eher chronologisch, später dann detaillierter thematisch. So widmet er beispielsweise dem Teil „Die drei Rollen des Horst Seehofer“ gut zwanzig Seiten und die Anbahnung und Ausgestaltung des EU-Türkei-Deals nimmt das letzte Drittel des Buches ein. Das Ganze wird von Alexander einsortiert, kommentiert und bewertet.

Was passt: Egal wie man derzeit oder grundsätzlich zu ihm stehen mag, Christian Lindner hat völlig recht, wenn er Die Getriebenen mit den Worten „Dieses Buch ersetzt fast einen Untersuchungsausschuss und liest sich so spannend wie ein Roman“, beschreibt. Robin Alexander schreibt sein Buch in dem von seinen Leserinnen und Lesern geschätzten Ton, es ist eine bewegte Chronik, die nahezu dazu einlädt verfilmt zu werden. An den wenigsten Stellen werden Situationen unnötig ausgeschmückt, was insbesondere bei diesem Themenkomplex auch geboten ist. Die eine oder andere süffisante Anmerkung (den Bürgerdialog nennt er „Wanderzirkus“; Merkel „wird als wandelnder Sachzwang, fleischgewordene Verlässlichkeit bürokratischer Abläufe inszeniert“; […] damit können ‚Pakete geschnürt werden‘, wie im politischen Berlin sachfremde Kompromisse genannt werden.“…) gehören genauso zu seinem Stil, wie die Wertungen einzelner Handlungen der verschiedenen Akteure. Das kann man, wie der Rezensent, mögen, oder auch nicht. 

Robin Alexander // © Gudrun Senger

Die Getriebenen ist geballte Information auf 280 Seiten und nicht nur, aber sicherlich insbesondere, für Political Animals hoch interessant. Denn Alexander vermittelt neben o. g. Abläufen reichlich Hintergrundwissen. Ob es nun eher in die Kategorie wissenswerter Klatsch fällt, wie die verschleppte Erkrankung des damaligen Innenministers Thomas de Maizière – das ganze Drama um den Satz „Ein Teil der Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“ fehlt natürlich auch nicht – oder die Herkunft der ikonischen Raute der Kanzlerin. Aber auch wer arbeitete wann wo, kam ursprünglich aus Ressort, Amt, Abteilung xyz; wer kennt wen und wer wollte wen kennenlernen. Welche Rolle spielten Gerald Knaus und sein Thinktank ESI (Europäische Stabilitätsinitiative e. V.)? Welchen Streit gab es um welche Formulierungen im Klein-Klein? Diese Verbindungen für die Lesenden aufzudröseln und sie nachvollziehbar zu machen, ist so spannend wie informativ. 

Beinahe kunstvoll hält Alexander in Kapitel 13 den Deutschen den Spiegel vor, wenn er herleitet, wie es dazu kam, dass die Stimmung im Wesentlichen erst wirklich kippte, als es zur Schmähgedicht-Affäre um Jan Böhmermann kam. „Bei Böhmermann hört für die Deutschen der Spaß auf.“ 

Ebenfalls macht der Blickwinkel, aus dem er die Vorgänge innerhalb der Europäischen Union und in den Brüsseler Räumen beschreibt, das Buch sehr lesenswert, gerade im Lichte der jüngsten Ereignisse auf Lesbos und der nun vermeintlich in Entstehung befindlichen Kompromisse zwischen den Staaten.

Was passt nicht so: So sehr sein lakonischer Tonfall häufig passt und einen auch mal Schmunzeln lässt, sind seine Einlassungen manches Mal beinahe von einem launigen Defätismus geprägt, der dann so herablassend wie übertrieben scheint. Ebenso machte es auf den Rezensenten einen störenden Eindruck, dass es mehr um eine Art Schuldfaktor Merkels und der Bundesregierung geht, die sie nach Meinung Robin Alexanders fest im (Würge-)Griff zu haben schien, und kaum mal betrachtet wird, wie die Regierung dann doch in einem – sicherlich vermeidbaren – Chaos einigermaßen solide agiert hat. Das mag Alexander als naiv abtun, aber bei allen gemachten Fehlern, es hätte schlimmer kommen können und auf Zeit zu spielen, ist nicht immer verkehrt. Man stelle sich eine solche Situation mit einem Kanzler Robert Habeck, Innenminister Bodo Ramelow und Außenminister… naja… Heiko Maas vor. 

Vieles, was Alexander in seinem Buch schreibt, ist unzweifelhaft nachweisbar und schlicht meist noch nicht groß bekannt gewesen. Es gibt aber auch Stellen, an denen auch er nur vermuten kann, was genau geschah oder gesagt wurde. Diese sollten im Stil dann auch entsprechend anders dargestellt werden. Manches Mal verschwimmen definitiver Fakt und wohl begründete Vermutung ein wenig zu sehr.

An anderer Stelle kann schnell der Eindruck entstehen, dass Alexander sich auf zwei, drei Personen eingeschossen hat und Die Getriebenen nun nutzen will, um mit ihnen mal ordentlich den Boden zu wischen und am besten gleich noch das Parkett abzuziehen. Das hat nichts mehr mit süffisanten Anmerkungen und Handlungsbewertungen zu tun, sondern sieht nach Agenda aus. Das kann er natürlich machen, aber es hinterlässt einen teils sehr bitteren Beigeschmack.

Fazit: Mit Die Getriebenen liegt eine spannende, auch heute noch hoch interessante, informative und größtenteils im besten Sinne subjektive Chronik der Ereignisse vom Herbst und Winter 2015/2016 vor, die vor allem Political Animals begeistern dürfte. In der Kategorie „Politisches Buch“ sticht dieser „Report aus dem Innern der Macht“ bei weitem positiv heraus und man wünscht sich lediglich, dass Robin Alexander in seinem nächsten Buch ein wenig ausgewogener auf einzelne Momente und Protagonisten blicken möge.

AS

Die Getriebenen von Robin Alexander

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Wir haben die aktualisierte Auflage gelesen, die bspw. via Amazon oder – bevorzugt – über die Buchhandlung eures Vertrauens verfügbar ist. Der aktualisierte Teil beträgt circa zweieinhalb Seiten, man kann also besten Gewissens zur Hardcover-Ausgabe greifen. Auf der Verlagsseite finden sich derzeit die gebundene Ausgabe und das eBook. Hier Angaben zu beiden Druckausgaben:

Alexander, Robin: Die Getriebenen – Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht; 2. Auflage 2018; 288 Seiten; Taschenbuch; ISBN: 978-3-328-10290-8; Penguin Verlag; 12,00 €

Alexander, Robin: Die Getriebenen – Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht; 288 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-8275-0093-9; Siedler Verlag; 10,00 €

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitstzeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun. Vielen Dank!

About the author