Überleben, um zu berichten

Vielen Überlebenden des Holocaust fällt oder fiel es schwer, über das Erlebte zu sprechen, die eigene Erinnerung so wach zu halten und das erlittene Trauma nicht einfach zu verdrängen. Viele, viele sprechen oder sprachen nie darüber, und manche erst sehr spät. Die rumänisch-schwedische Psychologin und Schriftstellerin Hédi Fried hingegen hält seit über dreißig Jahren Vorträge zum Holocaust und ihrer Zeit in den Konzentrationslagern Auschwitz und Bergen-Belsen, so wie sie auch mehrere Bücher darüber verfasst hat.

Häufig besucht sie Schulen, hält dort Vorträge und steht anschließend den Schüler*innen für Fragen zur Verfügung. Sechsundvierzig dieser sehr verschiedenen, teils sehr offenen und persönlichen, Fragen hat sie in ihrem Buch Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden zusammengetragen und ihre Antworten für uns alle und die uns nachfolgenden Generationen festgehalten. 

Keine Rolle ist vorherbestimmt

In ihrem so kurzen wie prägnanten Vorwort schreibt Hédi Fried, der Sinn des Buches sei es, die Fehler der Geschichte zu vermeiden: „Ich hoffe, es hat das Potenzial, jeden Leser erkennen zu lassen, dass weder die Rolle des Täters noch des passiven Zuschauers uns vorherbestimmt ist.“ Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch das Frage-Antwort-Buch. Etwa wenn sie schreibt, wie SS-Leute sich entschieden haben, sich der Gehirnwäsche vollends hinzugeben, dass es Soldaten der Wehrmacht gegeben habe, die weniger unmenschlich gewesen seien, dass sie selber nicht wüsste, wie sie sich wohl verhalten hätte, wäre sie als deutsches Mädel in Berlin geboren worden und Teil des Bund Deutscher Mädel gewesen. 

Doch nicht alle Antworten nehmen einen beinahe philosophischen Einschlag. Auch wenn Hédi Fried durchgehend existenzialistisch klingt, sehen wir einmal davon ab, dass sie keine Atheistin ist, sondern auch nach ihrer Zeit in den Konzentrations- und Arbeitslagern dem jüdischen Glauben verhaftet blieb. Das erfahren wir zum Beispiel in der Antwort auf die Frage „Nach allem was Sie erlebt haben – glauben Sie an Gott?“ Und wie bei vielen anderen Fragen beantwortet sie diese nicht nur ganz subjektiv, sondern bemüht sich, ein erweitertes Bild anschaulich zu machen. So schildert sie kurz, dass einige sich von Gott abgewandt, andere sich ihm erst daraufhin völlig zugewandt hätten.

Das Fehlen von Logik

Andere Fragen etwa lauten „Was war das Schlimmste, das sie erlebt haben?“, „Warum hasste Hitler die Juden?“, „Waren Sie die ganze Zeit hungrig?“, „Wie war es, seine Tage zu haben?“, „Können Sie vergeben?“ und „Wie sind Sie mit ihren Traumata umgegangen?“ All diese Fragen beantwortet Hédi Fried klar, beschreibend sachlich, mit der gebotenen Distanz, aber frei von sprachlicher Kälte. Anders als beispielsweise Ginette Kolinka das in ihrem Erinnerungsbuch Rückkehr nach Birkenau macht. Was nicht heißt, dass es Hédi Frieds Buch an Deutlichkeit fehlen würde.

Viele ihrer Sätze sind prononciert und prägen sich den Leser*innen ein, was den Lernfaktor des Buches ungemein erhöht. Sie schafft es, an sich komplexe Situationen so zu erläutern, dass sie sich eben auch jüngeren Leuten erschließen, ohne dabei in Simplizität zu verfallen. Und letzten Endes ging es darum, irgendwie zu überleben, auch wenn man nicht wusste, was es dafür zu tun galt, „in der unberechenbaren, von aller Logik befreiten Welt des Nationalsozialismus“.

So beschreibt sie eindrücklich und erschreckend, was dieses Fehlen von Logik im Lageralltag bedeutete, wie wenig dadurch irgendetwas etwas bedeutete. Außer Grausamkeit auf der einen und der unbedingte Wille zu Überleben auf der anderen Seite (wenn auch nicht bei allen). Es fing doch schon mit dem Fehlen von Logik an: „Wieso hasste Hitler die Juden?“ Nach einer kurzen Erläuterung zum Entstehen von Antisemitismus und dessen Weiterverbreitung gibt Hédi Fried „eine einfache Antwort auf die Frage: Hitler hasste die Juden, weil sie Juden waren.“

Und nicht nur Juden hasste er, hassten die Nazis, hassten so viele, wie Hédi Fried hervorhebt, wenn sie auf die Frage antwortet, wie sie dazu kam, Vorträge zu halten. Sie habe überlebt, um vom Holocaust zu erzählen, so dass er nicht vergessen wird. Denn: „Wenn er vergessen wird, wird niemand mehr wissen, dass es die sechs Millionen Juden, die unzähligen Kommunisten, Homosexuellen, Menschen mit Behinderungen, Roma und andere als weniger wert betrachtete Menschen je gegeben hat.“

Der Bogen vom Damals ins Heute

Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden ist ein Zeugnis des Leidens, einer von Leid geprägten Zeit, aber auch des Weiterlebens und Verarbeitens. Und Hédi Fried überlebte, kam nach Schweden und begann dort ein neues Leben, ohne ihr altes zu verdrängen. Einige der Fragen drehen sich um dieses neue Leben, ihre Ankunft und Emigration in Schweden, die Verarbeitung des Erlebten. Auch an diesen Stellen bringt Hédi Fried das Vergangene mit dem Aktuellen zusammen, wenn sie beispielsweise über den Umgang mit den Flüchtlingen von heute schreibt und mahnt, hier nicht nur passiv zuzusehen, sich nicht unbeteiligt zu geben.

An mehreren Stellen macht Hédi Fried in ihren Antworten deutlich, wie wichtig es nicht nur ist, sich weiter zu erinnern, sondern auch, wie achtsam wir zwar aufgrund der derzeitigen Verwerfungen sein sollten, wenn sie schreibt: „Rechtsruck, wachsender Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Umweltzerstörung. Wenn man morgens die Zeitung aufschlägt, kriegt man es mit der Angst zu tun.“ Dennoch blickt sie hoffnungsvoll in die Zukunft und ist optimistisch, wenn sie die Jugendlichen von heute betrachtet, denn diese nähmen das Wissen mit dem Herz und dem Kopf auf. Empathisches Lernen wenn wir so wollen.

Dieses ist Hédi Fried ohnehin ein Anliegen: Der Geschichtsunterricht, damals wie heute, sei ein simples und kaltes Lernen von Zahlen, jedoch kein Verstehenlernen. Hier anzusetzen hält sie für richtig. Und speziell wenn es um die Nazizeit und den Holocaust geht, wünscht sie sich, dass dieser Lehrstoff fächerübergreifend vermittelt würde. Jedes Fach hat damit zu tun, sagt sie. In diesem Sinne ist Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden nicht nur den Schüler*innen, sondern auch den Lehrer*innen, Rektoren*innen und Kultus- und Bildungsminister*innen der Länder dringend empfohlen. Wie auch sonst allen: Lest dieses Buch.

Hédi Fried beantwortet die Fragen, die ihr zum Holocaust gestellt werden, offen, prägnant und rüttelt gerade durch eine klare und empathische Sprache auf. Darüber hinaus schlägt sie einen Bogen vom Damals ins Heute. Erinnert an das Grauen, mahnt, es sich nicht wiederholen zu lassen, immer wieder zu gedenken und die Erzählungen der Augenzeugen am Leben zu halten. 

AS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Hédi Fried: Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden; 1. Auflage 2020; Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann; 160 Seiten; Taschenbuch; ISBN: 978-3-8321-6560-4; DuMont Buchverlag; 10,00 €

Dazu angehört: Erwin Schulhoff: Ironien; Klavier: Monica Gutman, mit Erika Le Roux bei vierhändigen Stücken.

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