Weite Wildnis

Kasachstan – ein Land, so groß und so weit weg, dass wir kaum etwas darüber wissen, es nur wenige Menschen auf ihrer persönlichen Landkarte haben dürften. Und doch hat die weite Wildnis wohl viel mehr zu bieten als wir uns vorstellen können. Die bekannte Autorin Carmen Rohrbach hat ein Faible für abgelegene Regionen und Abenteuer und ist gemeinsam mit ihrem Bruder Holger nach Kasachstan gereist, um sich dort einen Traum Holgers zu verwirklichen: eine Jagd in den Steppen Kasachstans und dort einen Sibirischen Steinbock zu erlegen.

© Carmen Rohrbach

Über die Reise und die Erfahrungen hat Carmen Rohrbach mit Holgers Unterstützung ein Buch geschrieben: Wildes Kasachstan – Auf der Fährte des Sibirischen Steinbocks ist im Mai im Malik Verlag erschienen und ist weit mehr als ein Reisebericht, da er auch viele persönliche Elemente und Geschichten von und über Carmen Rohrbach enthält. Gleichzeitig sammelt die Autorin wichtige Informationen, wie zur Geschichte Kasachstans, die viele dunkle und nur wenig beachtete Kapitel hat, beispielsweise als Ziel von massenhaften Deportationen von Tschetschenen, Wolgadeutschen oder anderen Minderheiten unter Stalin.

Eine Jagd in der Steppe

Natürlich zieht sich die Jagd durch das Buch hindurch und wirkt als Roter Faden für die Erzählung, aber im Prinzip gibt sie nur den Anlass zur Reise und ist so eher Rahmen für die Geschichte von Carmen Rohrbach. Sie ergänzt dieses Erlebnis nämlich um viele weitere Aspekte, auf die zu stoßen man in einem Buch wie Wildes Kasachstan nicht unbedingt erwartet.

© Carmen Rohrbach

Carmen Rohrbach berichtet neben der wunderbaren Landschaft, der Flora und Fauna, den vielen Vögeln, Insekten und Pflanzen, die sie als Biologin und Ornithologin mehr oder weniger alle aus dem Stegreif benennen kann. Sie erzählt von auch bei uns heimischen Tierarten, von solchen, die wir importiert haben – zum Beispiel den Dsungarischen Zwerghamster, der auch einen Auftritt hat – und davon, welche von den von ihr vorgefundenen Schmetterlingen beispielsweise kurz vor dem Aussterben stehen. Sie berichtet von bereits verlorenen kasachischen Apfelsorten, die menschlichen Eingriffen zum Opfer fielen. Und sie schildert ganz eindrücklich ihre Liebe für die Natur, ganz egal, ob im Dsungarischen Alatau (der kasachischen Region, in der sie unterwegs sind), in Deutschland oder sonstwo auf der Erde.

Kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Jagd

Für viele Menschen mag das mit dem Anlass der Reise, der Jagd auf den Sibirischen Steinbock, nicht ganz zusammenpassen. Das scheint auch Carmen Rohrbach bewusst zu sein, denn sehr gekonnt und auch nicht aus einer Grundhaltung der Defensive heraus erläutert sie zu Beginn, wie gut und wichtig die gezielte Jagd auf Wild sein kann, wenn sie unter bestimmten Rahmenbedingungen erfolgt. Dazu zählen entsprechende Abschussquoten und -zeiten, die Bejagung von alten Tieren, die sich jenseits der Geschlechtsreife befinden und somit das spärliche Futter der Jungtiere fressen oder eben die geschickte Zusammenführung von Jagd, Naturschutz und Tourismus, um die natürlichen Lebensgrundlagen und die Artenvielfalt zu erhalten und gleichzeitig den Menschen in Kasachstan ihren Lebensunterhalt zu ermöglichen.

© Carmen Rohrbach

Dabei ist klar, dass die Jagd eine männerdominierte Aktivität ist. Sie selbst beschreibt eindrücklich, dass sie wohl die erste Frau sei, die ihre kasachischen Reisebegleiter bei der Jagd begrüßen dürfen und allein das war schon für viele Kasachen ein kleines Kuriosum. Umso mehr zeigt sich aber, dass die Kasachen und vor allem die beiden Begleiter von Carmen und Holger Rohrbach, Aslan und Sarik, nicht wissen, wie sie mit ihr umgehen sollen. Das Frauenbild in Kasachstan ist ein vollkommen anderes als das, das wir in Deutschland und Westeuropa haben. Julia Finkernagel berichtet in ihrem Buch Immer wieder Ostwärts davon und Carmen Rohrbach scheint ähnliche Erfahrungen zu machen.

Ein vollkommen anderes Frauenbild

Ein Unterschied ist, dass Finkernagel stets mit ihrem Kamerateam unterwegs und auf der Durchreise ist. Carmen Rohrbach aber ist an die beiden Jagdführer gebunden. Sie macht zwar in der Regel das Beste aus der Situation, genießt Stille, Natur, Panorama und Abgeschiedenheit, aber das… sagen wir mal traditionelle Frauenbild, auf das sie bei vielen Kasachen trifft, irritiert sie sehr und das aus unserer westlichen Sicht auch zurecht. Gerade dadurch wird einem recht schnell bewusst, mit welchen Problemen Frauen in Gesellschaften wie der kasachischen noch immer zu kämpfen haben.

© Carmen Rohrbach

Das zeigt sich umso mehr, als die Reise zum Schluss noch eine kleine Wendung nimmt: Am letzten Tag kann Carmen Rohrbach (ohne ihren Bruder) Zeit mit einer kasachischen Familie verbringen, von ihren früheren Abenteuern erzählen und so auch die traditionsliebende Welt der Kasachen bereichern. Hier merkt man förmlich, wie Carmen Rohrbach aufblüht, von Adlerjagden in der Mongolei berichtet und sich viel mehr auf die Kasachen einlassen kann, als ihr dies zuvor möglich war – auch weil sie ihrem Bruder das Jagderlebnis nicht verderben wollte und vieles an Frust in sich hineinfraß (die Nahrungsversorgung hatten die beiden Reiseführer ohnehin mehr als schlecht geplant).

Ein verzichtbares Nachwort, aber ein wertvoller Anhang

Holger Rohrbachs regelmäßige Erläuterungen und Einschübe übrigens geben dem Erlebnisbericht seiner Schwester stets noch eine andere, etwas ausgleichende Perspektive, was der Erzählung wirklich guttut. Das gilt leider nicht für Nachwort, das er verfasst hat. Dass Holger Rohrbach dieses übernehmen durfte, ist zwar eine nette Geste, aber rein erzählerisch hätte man darauf gut verzichten können.

© Carmen Rohrbach

Weitaus informativer und wertvoller hingegen ist der abschließende Infoteil, in dem Carmen Rohrbach eine Reihe von Daten und Fakten zu Kasachstan zusammengestellt hat. Das ist weit mehr als nur Copy-and-Paste von Wikipedia, sondern eine wertvolle Zusammenstellung und Recherche von geografischen, ökologischen und historischen Fakten zu Kasachstan, die Carmen Rohrbach mit einer kleinen persönlichen Note und abschließenden weiterführenden Literaturempfehlungen gekonnt garniert. Trotz allem bleibt festzuhalten, dass die Reise nur in eine Gegend eines riesigen Landes führte. Viele der individuellen Eindrücke der Rohrbachs stellen also wohl nur einen kleinen Ausschnitt aus einem extrem weitläufigen und vermutlich diversen Land dar.

Ein sehr persönlicher Rückblick

Ein letzter, sehr wertvoller Aspekt zieht sich aber durch Wildes Kasachstan und bereichert dieses noch weiter: Carmen Rohrbachs persönliche Erfahrungen mit ihrer Familie und der Jugend in der DDR. Ihre Geschichte hat Carmen Rohrbach bereits an anderer Stelle erzählt (zum Beispiel hier). Da sie aufgrund von Studium, zeitweiser Inhaftierung und späterem Gefangenenfreikauf durch die Bundesrepublik (mit Umsiedlung nach Westdeutschland) nie eine sehr enge Beziehung mit ihrem Bruder Holger aufbauen konnte, war es ihr auch ein Anliegen, diese Reise gemeinsam mit ihm zu unternehmen.

© Carmen Rohrbach

Diese Erfahrung fügt Wildes Kasachstan somit eine weitere, sehr persönliche Facette hinzu, die aber nicht dazu führt, dass es sich dabei um eine schmalzige Familienzusammenführungsgeschichte handelt, ganz im Gegenteil. Aber Carmen Rohrbach stellt unter Einbeziehung ihrer eigenen Geschichte sehr eindrücklich heraus, wie sehr die Menschen in der DDR unter dem SED-Regime leiden mussten. Wie sie erst später herausfand und in ihrem jetzigen Buch berichtet, war es nicht zuletzt ihr Bruder Holger, der zum Beispiel durch ein staatlich verordnetes Studienverbot drangsaliert und stellvertretend für Carmens „Taten“ bestraft wurde. Oder, wie sie im Gespräch mit ihrem anfänglichen Dolmetscher Telmann (benannt nach dem Sozialisten Ernst Thälmann) schreibt (S. 36):

(Telmann): „[…] Schade, die DDR gab es zu meiner Studienzeit nicht mehr, das bedaure ich sehr. Ich hätte sie gerne erlebt.“

(Carmen Rohrbach): Oje, denke ich. Wenn er wüsste oder auch nur wahrhaben wollte, wie viele Opfer dieses Experiment des Kommunismus gekostet hat, wie viele Leben zerstört worden sind.

Somit ist nicht nur zum Jahrestag des Arbeiteraufstands in der DDR, dem heutigen 17. Juni, festzuhalten, dass Wildes Kasachstan von Carmen und Holger Rohrbach ein sehr anschaulicher und spannender Reisebericht ist. Er berichtet von einer etwas anderen Reise, einer Jagd in den Weiten der kasachischen Berge und Steppe. Er informiert aber auch sehr gut über die Natur, den Umgang der Menschen mit ihr und das Leben der nomadischen und der sesshaften Bevölkerung in einem Land, das vielen von uns höchstens von der Landkarte bekannt sein dürfte. Und er setzt sich kritisch mit einer Reihe von wichtigen Punkten auseinander, die man in einem klassischen Reisebericht nicht erwarten würde, ganz egal, ob es die sozialistische Vergangenheit ist oder das „traditionelle“ Frauenbild, das noch immer in vielen Gegenden Zentralasiens vorherrscht.

HMS

Carmen Rohrbach, mit Holger Rohrbach: Wildes Kasachstan – Auf der Fährte des Sibirischen Steinbocks; 1. Auflage, Mai 2021; 256 Seiten; mit 33 farbigen Abbildungen und einer Karte; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-492-40646-8; Malik Verlag; 16,00 €; auch als eBook erhältlich

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