Weniger Diskriminierung und Blockade, mehr Schaffen

Dieses Gespräch ist Teil unserer Superdupermegawahljahr 2021-Reihe. Angemerkt sei, dass wir weder dieses noch die vergangenen Gespräche krawallig geführt haben. Es geht um die Themen, neben manchem Hinweis und der einen oder anderen Einordnung stehen diese so, wie sie geführt worden bzw. freigegeben worden sind; ihr sollt euch eine Meinung bilden können, ohne dass diese im Vorfeld allzu sehr kuratiert würde.

Mit Ulle Schauws und Sven Lehmann stehen zwei erfahrene Politiker*innen zur Wiederwahl (Schauws zum dritten Mal, Listenplatz 9; Lehmann zum zweiten Mal, Listenplatz 4) in den Bundestag. Beide kommen sie aus NRW, beide sind sie westdeutsch sozialisiert und beide sind sie Sprecher*innen der Bündnis 90/Die Grünen-Bundestagsfraktion. Ob sie es bleiben wollen? Das wissen wir nicht, wir haben es auch bewusst nicht gefragt. Dafür haben wir in unserer einstündigen Unterhaltung darüber gesprochen, was in puncto Queerpolitik nach Meinung der beiden, die  mit der queeren Community eng verknüpft sind, in der letzten Legislaturperiode (und auch darüber hinaus) versäumt wurde und was noch zu tun bleibt.

Ebenso haben wir darüber gesprochen, wie sich die zwei sozialverträgliche Klimapolitik, bezahlbares Wohnen und eine ausgewogene und weniger bürokratische Kulturpolitik vorstellen. Und natürlich ging es auch um Bücher, Filme und leckeres Essen. 

Die aktuelle Koalition – Ein queerpolitischer Totalaufall

the little queer review: Während der letzten regulären Sitzungswochen der 19. Wahlperiode wurden auch diverse queerpolitische Themen debattiert wie beispielsweise die Streichung oder Ersetzung des so genannten, vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig beschiedenen, Transsexuellengesetzes oder auch ein Aktionsplan gegen Homo- und Transfeindlichkeit. Nichts davon ging durch, die Regierungsmehrheit stimmte gegen die Änderungen und Vorschläge. Ist das aber gegebenenfalls im Wahlkampf auch ein Vorteil für die Grünen, dass man sich so nochmals besonders als progressive Kraft zeigen kann?

Schreibt EQUALITY groß: Der Bundestagsabgeordnete Sven Lehmann // © Sven Lehmann

Sven Lehman: Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass in dieser Legislaturperiode queerpolitisch mehr passiert. Das ist aber leider nicht der Fall. Wir müssen ganz klar feststellen, dass diese Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD queerpolitisch ein Totalausfall war. Die einzigen Fortschritte, die es in den letzten Jahren gegeben hat, wurden entweder gerichtlich erzwungen, wie zum Beispiel bei der dritten Option, oder wurden durch Petitionen in Gang gesetzt wie bei den Konversionstherapien. 

Wir haben durch verschiedenste Gesetzesentwürfe und Anträge zu allen Feldern deutlich gemacht, was passieren müsste – Diskriminierungsschutz im Artikel 3 des Grundgesetzes, die Ablösung des Transsexuellengesetzes (TSG) durch ein Selbstbestimmungsgesetz, das Ende der Diskriminierung bei der Blutspende, die Reform beim Abstammungsrecht, um die Diskriminierung von lesbischen Ehepaaren zu beenden und all das hat die Große Koalition in den letzten Sitzungswochen entweder abgelehnt oder verschleppt. Das zeigt sehr deutlich, dass wir eine neue Bundesregierung brauchen, die auch endlich aktive Queer- und Antidiskriminierungspolitik macht.

Ulle Schauws: Zu allem, was Sven gerade gesagt hat, kommt noch das Thema Hass und Hetze, da haben wir sehr konkrete Vorschläge gemacht. Die Forderungen in unserem parlamentarischen Antrag „Hass und Hetze gegen LSBTI wirksam bekämpfen“ hätten da konkret auf die Angriffe wie den Mord in Dresden reagieren können. Damit würde sich nicht nur das zuständige BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend), sondern auch das Innenministerium um die Dinge kümmern. 

Ulle Schauws im Berliner Regierungsviertel // © Erik Marquardt

Die Regierung war sowieso ein Totalausfall. Aber mit Blick auf die Zusammenarbeit mit Unions- und SPD-Abgeordneten, kann ich versichern, dass wir wirklich immer und immer wieder bei unseren Themen Brücken gebaut haben. Beim Artikel 3 oder bei dem Thema Blutspendeverbot gab es viele Gespräche. Auch beim Abstammungsrecht sind wir auf die Koalitionsfraktionen zugegangen; um auch interfraktionell miteinander die Wege zu suchen, wie wir parlamentarische Mehrheiten schaffen können. Und es gab wirklich viele, viele Versprechungen seitens der zwei Fraktionen. Was wirklich sehr ärgerlich ist, wenn am Ende die Bilanz ist, dass sie nichts hinbekommen haben, weil sie wirklich alles abgeschmettert haben. Wenn uns dann aber noch Vorwürfe draus gemacht werden, dass wir queerpoltische Themen auf die Agenda im Bundestag setzen, ist das perfide. Die SPD hat das gemacht, weil sie sich nicht durchsetzen konnte. Da muss man einfach Farbe bekennen und nicht denen den Vorwurf machen, die das Richtige fordern, nämlich wir Grünen.

the little queer review: Da gab es ja auch den Vorwurf Karl-Heinz Brunners, den er auch über die sozialen Medien ausgespielt hat, in Bezug auf das TSG, dass er da gar nicht hätte für einen der Anträge der Opposition stimmen können, weil es so viele unterschiedliche Entwürfe gegeben habe. Was irgendwie auch ein seltsames Verhältnis zum Parlamentarismus offenbart, aber das nur am Rande.

Die SPD hätte Verschlechterungen ein Kauf genommen

Sven Lehman: Also ganz konkret auf das Selbstbestimmungsgesetz bezogen muss man erstmal sagen, die Regierung selbst hat es einfach über Jahre nicht hingekriegt. Sie hat immer einzelne Gesetzesentwürfe in die Welt hinausgeschickt, die von den Verbänden, von den Betroffenen und von der Community massiv kritisiert und abgelehnt wurden, weil dort die Fremdbestimmung, die Fremdbegutachtung und Pathologisierung von Transgeschlechtlichkeit fortgeschrieben wurde. Und auch Karl-Heinz Brunner als in der SPD-Fraktion für die Queerpolitik Zuständiger hat es nicht geschafft, intern so Druck auszuüben, dass es zu einer Reform des TSG kommt. 

Und dann ist es anscheinend eine beliebte Methode, denjenigen, die gute Gesetzesentwürfe vorgelegt haben – unser Entwurf ist von der Community ganz breit unterstützt worden, sogar von den großen Verbänden öffentlich mit vorgestellt worden – entgegenzuhalten, das sei nicht gut oder nicht weitgehend genug. Das ist schon ehrlich gesagt ziemlich peinlich, vor allem weil die SPD es überhaupt nicht geschafft hat, queerpolitisch irgendwas hinzubekommen. Aber ich glaube, dass die Menschen, die es betrifft und die Community da sehr gut beurteilen können, wer hier gute Arbeit geleistet hat und wer nicht.

Ulle Schauws: Es ist ein übliches parlamentarisches Verfahren, dass man die Initiativen, die man in den Bundestag einbringt und über die man sich dann auch im Parlament verständigt hat, dann auch zum Abschluss bringt.

Ulle Schauws und Sven Lehmann

Wenn wir da die letzten Einlassungen des für seine außenpolitische Kompetenz geschätzten CDU-Politikers Norbert Röttgen hören, der sieht das wohl anders, sagte er doch, dass es sich dabei immer nur im Scheinanträge handeln könne. Auch eine gruselige Haltung, wie wir meinen, Anm. d. Red.

Ulle Schauws: Vielleicht noch ein Beispiel, das ich mir nicht verkneifen kann: Beim Abstammungsrecht gab es in dieser Wahlperiode eine ganz interessante Entwicklung. Die Bemühungen aus unserer Fraktion wurden permanent abgeschmettert, von der SPD kamen immer wieder Lippenbekenntnisse – übrigens nicht von Karl-Heinz Brunner, dem zuständigen Abgeordneten, der hat sich bei dem Thema komplett rausgehalten, sondern in Form von halbgaren Entwürfen aus dem Justizministerium

Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, hätte die SPD durch das Adoptionshilfegesetz fast noch ein zusätzliches Pflichtberatungsgespräch für lesbische Paare bei der Stiefkindadoption eingeführt. Also dieses Gesetz hätte aktiv die schlechte Situation noch weiter verschlechtert. Das wurde nur durch den Widerstand der Grünen auf Länderebene im Bundesrat verhindert. Sehr enttäuschend. Die zuständigen Ministerinnen der SPD, Giffey und Lambrecht, wollten das so umsetzen – es ist wie Familienpolitik zweiter Klasse. Und das unter einer SPD Familienministerin.

Hass und Hetze nehmen wieder zu

the little queer review: Krass. Apropos Verschlechterungen, wagen wir man einen gesamtgesellschaftlichen Blick. Habt ihr das Gefühl, dass es wieder rückwärts geht? In Berlin nehmen die Übergriffe wieder stark zu, Du, Ulle, hast den Mord in Dresden erwähnt; die homo- und queerfeindlichen Stimmen werden, nicht nur in den sozialen Netzwerken, wieder lauter, und sei es nur ein „Jetzt muss es auch mal gut sein mit dem Regenbogen“. Und auch wenn man den SPD Spott-Spot nicht goutieren muss, ist es ja doch so, dass mit einem Nathanael Liminski im Zweifel jemand Kanzleramtsminister würde, der queerpolitischen Fortschritt sicher nicht auf der Fahne hat. Gibt es also einen Ruck rückwärts, ist das real oder nehmen wir das nur bewusster wahr?

Ulle Schauws: Ich würd’s schon so beschreiben, dass es da eine Zunahme gibt. Natürlich ist auch die öffentliche Aufmerksamkeit größer geworden und das ist auch gut so. Umso wichtiger ist, wie wir es konkret in unserem Wahlprogramm sagen, dass die Bundes- mit der Länderebene an einem Strang zieht, um so zur Aufklärung beizutragen. 

Ulle Schauws, Sven Lehman und Claudia Roth auf dem CSD in Köln. Hier gibt es noch einige feine Bilder // © Sven Lehmann

An so einer Stelle ist es bedenklich, wenn es – wie beim Mord in Dresden – stark um die Frage ging „Wer ist hier das Opfer“ und „Warum ist er Opfer geworden, dann jedoch die sexuelle Identität des Opfers von den ermittelnden Behörden anfangs nicht mal zum Thema gemacht wurde. Aus dem Innenministerium gab es, anders als wir es bei anderen Anschlägen erlebt haben, eben keine Haltung dazu. Das ist natürlich ein Signal.

Oder dass sich die Ludwig-Maximilians-Universität in München jetzt mit Liminski trifft und sich nicht kritisch oder zumindest aus meiner Sicht nicht kritisch genug mit seinem Positionen zur Homosexualität auseinandersetzt, ist ebenso ein schlechtes Zeichen. Also nicht differenziert da ranzugehen und nicht auch mal jemandem auf den Zahn zu fühlen, der der engste Berater von Armin Laschet ist, das ist ein totales Versäumnis. Also die Äußerungen von Liminski sind so homofeindlich, auch wenn sie 21 Jahre her sind. Aber wenn man sich anguckt, wo Liminski sich verortet, dürfte das heute so anders nicht aussehen. Wenn man ihn den zu Konverstionstherapien befragt, wird der das sicherlich nicht so beantworten wie ein Herr Spahn (Jens Spahn, CDU, Gesundheitsminister, Anm. d. Red.). Und damit muss sich aber auch die Union und auch eine amtierende Bundesregierung auseinandersetzen und das tun sie halt nicht. 

Also kann ich nur sagen, ja, der Ton ist rauer und die Antwort darauf ist vonseiten der Regierung nicht klar. Die kommt von uns Grünen – wir sind sehr klar.

the little queer review: Im Wahlprogramm findet sich eine Aufklärungskampagne für den ländlichen Raum (Seite 80 unter „Queerfeindlichkeit bekämpfen“ im Kapitel 5 „Zusammen leben“; auf der Homepage in einem semi-kurzen Überblick zu dem Kapitel finden sich die queeren Themen übrigens leider nicht, Anm. d. Red.). Wie sähe das aus? Soll das über Schulen laufen oder einfach das ganze Jahr über am Rathaus eine Regenbogenflagge wehen?

„Es ist ein Teil von Demokratieförderung, ganz einfach“

Sven Lehmann: Also, was wir da im Wahlprogramm und in der Legislaturperiode jetzt erarbeitet haben ist ein Aktionsplan gegen Homo- und Transfeindlichkeit für die Anerkennung von Vielfalt. Was man wissen muss, ist, dass 15 von 16 Bundesländern bereits solche Aktionspläne haben. Bayern ist das einzige Land, das keinen hat. Die anderen laufen machmal eher schlecht als recht. Wir waren in Nordrhein-Westfalen mit die Ersten, die so einen Plan aufgesetzt haben, als die Grünen damals mitregiert hatten (Sven Lehmann war von 2010 bis 2018 Landesvorsitzender der Grünen und Mitglied im rot-grünen Koalitionsausschuss in NRW, Anm. d. Red.). Jetzt haben wir auch einen für die Bundesebene erarbeitet, weil es hierfür noch keinen gibt. 

Flagge zeigen für einen Aktiopnsplan // © Sven Lehmann

Zentral bei diesem Aktionsplan ist, dass wirklich alle Ressorts, also von Justiz über Inneres, beispielsweise die Polizei, bis hin zu Schulen und Hochschulen, Pflege und Gesundheitseinrichtungen und so weiter, sich damit befassen müssen, was gegen Homo- und Transfeindlichkeit zu tun ist. Das fängt natürlich bei der Aufklärungsarbeit an, also Broschüren und Materialien für die Kitas und Schulen, geht über eine gender-sensible Pflege- und Gesundheitspolitik, auch queere Wohnprojekte fördern oder queer-sensible Pflegeausbildung, dass Menschen, die im Alter gepflegt werden, nicht re-traumatisiert werden und dass das, was sie in der Jugend oder auch als Erwachsene an Ausgrenzung oder auch Strafverfolgung erlebt haben, nicht wieder aktiviert wird. Natürlich auch Sensibilisierung der Justiz, der Polizei.

Und wir sagen auch, dass besonders Strukturen im ländlichen Raum, aber auch in den Städten gefördert werden müssen. Das haben wir jetzt während Corona gesehen, wenn Jugendzentren oder Beratungsstellen nicht öffnen konnten, dass da massiv was fehlt. Es gibt ja auch Studien, die belegen, dass queere Menschen besonders hart von den Auswirkungen durch Corona betroffen waren, weil wie gesagt Räume fehlen, als dann auch noch Kneipen und Gastronomie geschlossen hatten, wo sie so anerkannt werden, wie sie sind, wurde das noch deutlicher. Die Community Strukturen müssen finanziert und ausgebaut werden. Dass der Bund das mit fördert fordern wir auch in unserem Aktionsplan. 

Aktive Arbeit gegen Diskriminierung ist nicht nur die Abwesenheit von diskriminierenden Gesetzen, sondern es müssen sich aktiv alle Ministerien damit befassen und die Strukturen ausgebaut werden. 

Ulle Schauws: Es ist ein Teil von Demokratieförderung, ganz einfach. 

the little queer review: Ebenfalls im Wahlprogramm findet sich die Forderung einen „Entschädigungsfonds für die Opfer aus dem Kreis der trans*- und inter*geschlechtlichen Personen, deren körperliche Unversehrtheit verletzt wurde oder deren Ehen zwangsgeschieden wurden“ einzurichten (S. 81). Unabhängig davon, dass das eine zwar komplexe, aber wünschenswerte Sache ist: In welcher Koalitionskonstellation wäre das denn eurer Meinung nach am ehesten machbar? Unabhängig davon, wer Junior- und wer Seniorpartner wäre, mit jeder Partei wäre das vielleicht nicht machbar (die AfD ist hier schon raus gerechnet, klar).

„Die CDU ist Hemmschuh und Blockadepartei“

Sven Lehmann: Also, auch wenn du jetzt konkret auf Transmenschen bezogen gefragt hast, beziehe ich mich mal allgemein auf alle queeren Anliegen, besonders aber, was die Rechte von trans*, nicht-binären und intersexuellen Menschen angeht, siehe eben das TSG, das weg muss, oder eben die genannte Entschädigung, wäre die beste Koalition, dass die Grünen die Regierung anführen, also die Kanzlerin stellen und eine Koalition, in der die Union nicht unbedingt Teil davon ist [er und Ulle Schauws lachen]. Ich glaube, die Union ist einfach… also wenn wir uns was wünschen dürfen… Die CDU/CSU ist tatsächlich einfach, Ulle hat das eben in Bezug auf Liminski nochmal ausgeführt, aber das kann man auch gern auf alle übertragen, in allen queerpolitischen Themen der größte Hemmschuh und die größte Blockadepartei. Das ist einfach so. Und wenn die Wähler*innen ermöglichen, dass es eine Option gibt, wo die Union nicht Teil der Regierung ist und die Grünen womöglich sogar die Regierung anführen, wäre das für die Queerpolitik aus unserer Sicht die beste Koalition [Ulle Schauws nickt während der Ausführung beständig bestätigend].

the little queer review: Dann lasst uns mal einen Blick auf den europäischen Raum werfen, auch da wird ja gut und gern diskriminiert. Stichworte: Polen und Ungarn. Das Referendum, das Viktor Orbán abhalten möchte, um alle total fair zu fragen, wie widerlich sie Homosexualität und Co. eigentlich finden. Könnte in Bezug auf diese Entwicklungen mehr aus Deutschland kommen? Also eben nicht nur von queeren Verbänden und Publikationen, sondern eben zum Beispiel aus dem SPD-geführten Außenministerium? Oder speziell jetzt im Wahlkampf, der ja doch noch einmal andere Möglichkeit bietet sich zu äußern, als es während der regulären Legislaturperiode oft möglich ist, von den Politiker*innen, die wieder- und neugewählt werden wollen. Es kommt uns irgendwie recht still vor alles in allem. So, als würde man denken „Ja, passt, läuft schon…“

Ulle Schauws: [lächelt etwas resigniert] Ja, nee, läuft nicht. Das ist genau der Punkt. Eine gute Frage. In unserer Community ist die Wahrnehmung und auch die berechtigte Sorge da, dass solche Entwicklungen wie in Polen und auch in Ungarn massiv negative Auswirkungen nach sich ziehen können. Nun hat natürlich die Fußballeuropameisterschaft dazu beigetragen, dass die Problematik in der Breite der Gesellschaft angekommen ist, das ist auch gut. Aber nichtsdestotrotz muss man sich ja angucken: Was macht denn ein Orbán da? Was macht denn die polnische Regierung da? Was wird hingenommen? Auch wenn die EU sich dazu durchaus deutlicher verhält, aber die Bundesregierung und das Außenministerium machen zu wenig.

Ulle Schauws engagiert sich für queere Belange // © Erik Marquardt

Sven und ich haben im letzten Jahr genau wegen der Entwicklungen und der sog. „LGBT-freien Zonen“ eine Reise nach Krakau gemacht, um unsere Solidarität mit der polnischen Community und den Aktivist*innen zu bekunden (siehe auch unser Titelbild, Anm. d. Red.). Als Oppositionspolitiker*innen haben unsere Stimme eine andere Bedeutung. Aber trotzdem ist es wichtig in den Ländern und für die Aktivist*innen, dass wir zeigen: Wir bekommen mit, was bei euch passiert. Der Alltag von queeren Menschen, vor allem jüngeren, in Polen ist krass von der Angst geprägt, angegriffen zu werden. Das kann man sich nur schwer vorstellen. Auch in Ungarn ist es schlimmer geworden. Übergriffe sind inzwischen an der Tagesordnung und  das wird von „oben“ vollkommen legitimiert.

Es fehlt eine klare Haltung des Außenministerium

Ohne Regulativ wird es dort schwer. Relevante und klare Stimmen aus dem Ausland und aus Deutschland, insbesondere aus dem Außenministerium wären so wichtig. Sven und ich haben das in unseren Pressegesprächen immer wieder aufgebracht und eingefordert. Unverständlich, warum das Außenministerium sich hier so defensiv verhält. Herr Maas und die SPD sagen etwas anderes als sie tun. Und das ist ein Schlag für alle, die diese Solidarität so dringend brauchen. 

the little queer review: Da fehlt vermutlich auch dieses Verständnis, was nun im Grunde so ein Aktionsplan an Wirkung mit sich brächte. Also im ganzen Haus. Siehe auch die Zwangsoutings, die kürzlich ans Licht kamen und die ja auch mehr oder weniger ein Versehen gewesen sein sollen, nach dem Motto: „Hoppala, das ist uns so rausgerutscht“ …das spricht ja mindestens für eine mangelnde Sensibilität und einen großen Verständnismangel. Das haut auch ins Kontor.

Ulle Schauws: Absolut. Aber diese Zurückhaltung „Wir können uns in innere Angelegenheiten anderer Länder nicht einmischen“ kann doch bei solchen Menschenrechtsfragen, die hier sensibel und massiv berührt werden, nicht sein. Diese Fragen muss doch ein Außenministerium beantworten. Das würden wir bei jedem anderen Land auch erwarten und dass wir das in den europäischen Nachbarländern und in direkter Umgebung mit so einer Zurückhaltung angehen, geht nicht. Wenn eine klare Haltung vonseiten des deutschen Außenministeriums käme, dann würde etwas passieren. Ich bin sicher. 

the little queer review: Ja, sehr gut möglich. Und mit dieser fröhlichen Botschaft verlassen wir das queere Feld und schauen mal auf ein, zwei anderen Polit-Bereiche, die ihr auch beackert, denn queere Menschen wählen ja auch nicht nur der Queerpolitik wegen. 

Die große Frage oder eine der großen Fragen, die immer wieder aufploppt, wenn’s drum geht, wählt man die Grünen oder nicht, dreht sich um die CO2-Preis-Debatte, die ja auch gern ein wenig pauschal verkürzt geführt wird. Sei es so komplex, wie es ist, machen wir’s auch mal pauschal in diesem einen Punkt: Wenn es heißt, das solle sozial gerecht verteilt werden. Ist das nicht nur eine wählerverträglichere Formulierung für eine Umverteilung von oben nach unten, gestützt durch das große Vorhaben wirksamer Klimapolitik?

„Der CO2-Preis muss steigen“

Sven Lehmann: Ganz klar nein. Weil, was die Klimapolitik angeht, das klingt dann immer so banal, aber die letzten Ereignisse in diesem Sommer haben das noch mal sehr plastisch deutlich gemacht, also die Starkregenfälle, die Überschwemmungen, die Brände weltweit und die neuen Zahlen vom Weltklimareport, dass das 1,5-Grad-Ziel wahrscheinlich zehn Jahre früher erreicht wird, da gibt es einfach keine Ausreden mehr und es muss gehandelt werden. Und was die Bundesregierung gerade macht, ist einen CO2-Preis einzuführen, das haben die ja immerhin gemacht, aber die Einnahmen daraus nicht zu verteilen. Aktuell ist es so, dass bei steigenden Benzin- oder Ölpreisen, diese besonders Menschen mit geringem Einkommen treffen und dafür sind CDU, CSU und SPD verantwortlich. 

Wir Grüne haben immer ein anderes Konzept gehabt und wir haben immer gesagt, dass wenn der CO2-Preis kommt und er steigt – und wir wollen dass er steigt, denn er muss steigen, um dieses schlimme klimafeindliche Verhalten auch mit einem Preis zu versehen – die Einnahmen komplett an die Bürger zurückgegeben werden. Damit eben gerade Menschen mit geringem Einkommen nicht belastet werden. Nach unserem Modell ist der CO2-Preis also keine staatliche Einnahme, sondern er wird wie ein Pro-Kopf-Einkommen zurückverteilt. Und wir senken auch die Erneuerbare-Energien-Umlage. Das bedeutet, dass eben auch günstiger Storm wiederum günstiger wird, als er es heute ist. 

Das ist glaube ich eine kluge Kombination aus ökologischer Lenkung und sozialem Bewusstsein und Sensibilität. Es ist ja nun mal so: Menschen, die sehr viel Einkommen haben, haben auch einen sehr hohen Verbrauch – große Autos, große Wohnungen und, und, und – und Menschen mit geringerem Einkommen verbrauchen gar nicht so viel CO2 und über diese CO2-Dividende, wie wir sie nennen, haben sie am Schluss dann sogar mehr im Portmonee, weil sie nicht so viel verbrauchen. Das ist sozial durchdacht und das ist das, was die Bundesregierung eben gerade nicht macht. 

Ulle Schauws: Ich würde noch einen Satz ergänzen wollen, denn das Konzept, das Sven gerade erläutert hat, muss man oft erklären, weil es von bestimmten Seiten genau andersherum erzählt wird. Als Grüne wollen wir mit unseren Vorschlägen Menschen entlasten. Die jetzt erforderlichen Klimaschutz-Maßnahmen gehen aus grüner Sicht nur dann, wenn sie sozial gerecht und mit der Gesellschaft zusammen gestaltet werden. Geringe Einkommen zu belalsten wäre unfair. Wir müssen als Staat Geld in die Hand nehmen, um die Maßnahmen zu bezahlen. Das kann nicht aus dem Portemonnaie der Leute kommen. Sven hat gerade erklärt, wie wir das machen wollen.

Das klingt alles gut, was die beiden sagen, dennoch ist das Geld des Staates nicht einfach da, sondern wird durch Steuern und Abgaben der Bürger*innen eingenommen, Anm. d. Red.

Sven Lehmann: Frankreich zum Beispiel hat es einfach falsch gemacht, dadurch sind auch die Gelbwesten-Proteste mit entstanden. Die haben die Mineralölsteuer erhöht und ich glaube sogar im selben Jahr die Vermögenssteuer abgeschafft, sodass halt auch ganz plastisch der Eindruck entstanden ist, für die Klimakrise und die Klimaschutzpolitik zahlen die ganz normalen Menschen und die Vermögenden werden sogar noch entlastet. Das haben wir sehr bewusst anders angelegt, weswegen wir ja auch für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer sind und gleichzeitig Menschen, die wenig haben, entlasten wollen. Sogar bei der Einkommenssteuer, wo wir höhere Freibeträge fordern und Menschen, die weniger haben, also von der Grundsicherung leben, Wohngeldbeziehende, die bekommen sogar mehr bei uns, dass eben genau das nicht passiert, dass Klimaschutz zu einer sozialen Spaltung führt, sondern ganz im Gegenteil die sozialen Probleme direkt mit angepackt werden. 

Sven Lehmann am Clodwigplatz in Köln // © Cornelis Gollhardt

the little queer review: Spaltung ist ein „gutes“ Stichwort. Nun ist, Sven du hast es angesprochen, der neue IPCC-Sachstandsbericht (den Annalena Baerbock in ihrem Buch „Jetzt“ übrigens mit dem IPPC, dem Internationalen Pflanzenschutzübereinkommen, verwechselt, Anm. d. Red.), also der Bericht des Weltklimarats, veröffentlicht worden, der sicher auch nochmal dazu beiträgt, auch einige der letzten Zweifler zu überzeugen, wenn in diesem Bericht aus einem „es könnte“ ein deutliches „es wird“ geworden ist. Jedenfalls sind sich dessen heute einige der Kommentator*innen und Leitartikler*innen in den Zeitungen sicher. Ist das so? Wer Klimawandel halt leugnet, der lehnt den Bericht und den Weltklimarat ohnehin als nicht legitimiert und böse ab. Aber das mal so halb beiseite. 

Und was ist mit der Spaltung der Gesellschaft?

Vor allem aber: Ja, klar, Klimaschutz und erneuerbare Energien juchhe! Aber was darf es kosten? Oder auch: Was bin ich bereit zu tun? Windräder sind toll, aber nicht in Sichtweite meines Hauses, nicht bei mir im Ort. Was würde ich aufgeben wollen oder müssen und was erwarte ich, dass mein Nachbar aufzugeben oder zu investieren hat? Verknüpft sich das nicht alles zu der großen Frage: Ist „Klimaschutz, ja, aber wie?“ das Thema mit Spaltungspotenzial, auch über die nächste Wahlperiode hinaus, unserer Zeit?

Sven Lehmann: Also, die Klimakrise ist bereits die Schicksalsfrage der Menschheit. Also ob wir einen Planeten erhalten, auf dem man einigermaßen gut leben kann. Das können ja übrigens jetzt schon viele Menschen nicht mehr. Klimaflüchtlinge gibt es bereits. Es ist für viele Menschen schon sehr dramatisch und es wird dramatisch auch für uns, wenn wir jetzt nicht massiv und radikal gegensteuern. Ich glaube, dass viele Menschen das wissen, aber nicht wahrhaben wollen, dass das bedeutet, dass wir ganz anders produzieren müssen, dass wir anders Landwirtschaft betreiben müssen, dass wir rausmüssen aus der Kohle und zwar schneller als es die Kommission es beschlossen hat, nämlich spätestens 2030, dass wir Wind- und Solarenergie ausbauen müssen. 

Dann muss man eben drüber reden wie man das macht, wir haben ja eben drüber gesprochen, dass das sozialverträglich laufen muss, dass die Kosten solidarisch finanziert werden müssen. Wir schlagen ja auch vor, die Schuldenbremse zu verändern, dass also im nächsten Jahrzehnt die massiven Investitionen in klimagerechte Infrastruktur, Ausbau von Netzen und so weiter, Investitionen sind, die der Staat tätigen muss. Das ist die Frage des Wie, aber Nichtstun ist keine Alternative, weil das verschärft die sozialen Spaltungen und die Klimakrise. 

Und was die ganzen Institute, wie das Institut für Neue Soziale Marktwirtschaft, wo die ganzen neoliberalen Think-Tanks hinter stehen, bis zur CDU/CSU sagen, ist, wenn wir Klimaschutz machen, dann gefährde das den Industriestandort Deutschland. Das Gegenteil ist der Fall. Es gefährdet den Industriestandort und die Marktfähigkeit der Autoindustrie, wenn wir nichts tun. Das ist die entscheidende Frage. Und ich kann es mittlerweile ehrlich gesagt nicht mehr hören, wenn es heißt, alle wollen ja Klimaschutz. In den Zielen, ja; aber in den Maßnahmen… da haben wir einen Bundesverkehrsminister (Andreas Scheuer, CSU, Anm. d. Red.), der immer noch neue Autobahnen bauen will. Und genau darüber wird am 26. September entschieden: Ob wir einfach immer so weiter machen und weiter in diese Krise reinlaufen oder ob wir den Mut haben umzusteuern.

Ulle Schauws: Das ist absolut richtig. Und ich glaube, dass viele Menschen viel weiter sind als es die Regierung suggeriert. Natürlich ist es immer eine Diskussion, wenn Windräder gebaut werden. Es geht aber nicht immer nur darum, neue zu bauen, sondern auch bestehende mit neuer Technologie zu verbessern.

Aber du hast die Frage gestellt, spaltet das unsere Gesellschaft. Es ist immer so, dass Veränderung erfordert, dass man viel miteinander spricht. Dass man Menschen einfach mitnimmt bei diesem ganzen Projekt. Wenn man keinen Widerstand oder auch die Politikverdrossenheit produzieren will, müssen wir versuchen es so transparent zu machen, dass der Prozess offengelegt ist und die Menschen auch die Möglichkeit haben, dazu etwas zu sagen, dann gehen da die Menschen auch mit. Das ist die Erfahrung, die wir auch in allen Bundesländern haben.

Robert Habeck hat das als Umweltminister in Schleswig-Holstein bei der Windkraft und Solarenergie par excellence gemacht. Deswegen wollen wir zum Beispiel auch Bürger*innenräte, die bei den politischen Entscheidungen Mitspracherecht haben, damit Veränderungen, die für alle gut sind, eben auch von allen gemeinsam im größtmöglichen Dialog entschieden werden können. 

„Das Recht auf Wohnen muss ins Grundgesetz“

the little queer review: Wahlkampf ist Dialog. Was habt ihr für ein Gefühl, läuft es einigermaßen gut. Also speziell bei euch, nicht der allgemeine Wahlkampfzustand.

Ulle Schauws: Also wir haben hier bei uns in Krefeld und am Niederrhein extrem motivierte Leute. Es geht natürlich viel um Klimaschutz aber auch um Aufbruch und eine andere, offenere Politik.

Sven Lehman: Ja, auch so.

the little queer review: Schön. Punkt Wohngeld, also supergeschmeidige Überleitung… wobei, das Wort fiel ja eben. Wohnen wird teurer und das nicht nur, weil ach so böse Kapitalisten gnadenlos entmieten und Luxusimmobilien umsetzen, sondern auch, weil auf der einen Seite hier und dort zu wenig neu gebaut wird und auf der anderen Bauen auch immer teurer wird (wir werden übrigens versuchen noch vor der Wahl das Buch „Räuber“ von Eva Lapido zu besprechen, Anm. d. Red.). Da könnte man sicherlich auch beim Thema aufwändiger und bürokratischer Genehmigungsverfahren ansetzen, das aber ja nur ein kleiner Baustein. Wie lässt sich Wohnen, vielleicht gar gut wohnen, denn sozialverträglich gestalten? Auch so, dass, um mal kurz städtisch zu bleiben, Menschen nicht von der Innenstadt in einen Randbezirk, in den Speckgürtel, also nun natürlich nicht Kleinmachnow, müssen. Dabei geht es ja nicht nur um ein vermeintlich hippes Innenstadtleben, sondern da sind eben ggf. die Arbeit, die Kita, an die das Kind gewöhnt ist, die Freunde und so weiter. Das ergänzt um den Gedanken, dass ja viele Wähler*innen der Grünen eben jene Leute sind, die tendenziell eher die neuen Mieter in den sanierten Wohnungen sind, als jene, die zuvor ausziehen mussten. 

Ulle Schauws: Das würde ich so nicht sehen. Es ist eine gängige Erzählung: „Ah, die Gutverdienenden wählen die Grünen.“ Das ist überhaupt nicht meine Wahrnehmung. Ich sitze hier in Nordrhein-Westfalen, in Krefeld, in einer mittelgroßen Stadt mit 230 000 Einwohnern und hier lebt ein ziemlicher Querschnitt von Menschen die sagen: „Ich wähle die Grünen.“ Da sind z.B. Alleinerziehende, Familien, die überhaupt kein dickes Einkommen haben, ältere Menschen. Die Auseinandersetzung „Was sind die Grünen und wer wählt sie?“ findet glaub ich gerade intensiv statt… 

Die eigene Wahrnehmung mag das eine sein, nicht von der Hand zu weisen sind aber auch die Ergebnisse einiger Untersuchungen und Studien, die die Wähler*innenschaft von Bündnis 90/Die Grünen eben doch als überdurchschnittlich verdienend und mit den höchsten Bildungsabschlüssen ausgestattet verorten; gut zusammengefasst ist das u. a. hier in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, Anm. d. Red.

…was du aber gerade total richtig genannt hast, ist eine dringende Regelung für das Wohnen. Das Recht auf Wohnen ins Grundgesetz aufzunehmen, ist eine sehr klare Forderung, die wir haben. Es ist wie das Recht auf gute Ernährung oder gute Gesundheitsversorgung. Die Ziele, faire Mieten und starke Rechte für Mieterinnen und Mieter haben wir im Wahlprogramm. Es geht darum, dass es etwas anderes ist, wenn Privatleute ein Haus kaufen oder bauen und vermieten, als wenn Spekulationsobjekte, die vermehrt in den Städten wie Berlin, Köln, München, Frankfurt (am Main) und in Hamburg hoch im Kurs stehen.

Hat ein Herz für Queers und viele andere: Ulle Schauws // © Erik Marquardt

Darum sprechen wir Grünen uns für klare Regelungen, ein Recht auf Wohnen und kein Recht aufs Spekulieren aus. Das ist die Linie, wie wir das angehen wollen. 

Der Wille ist bei denen, die Wohnraum schaffen, durchaus da. Wir haben hier einen ausgewogenen Vorschlag, der vor allem diesen Spekulationsmöglichkeiten etwas entgegenhält. Leider ist in Berlin ja der Mietendeckel gekippt worden. Das haben wir im Bundestag die letzten Jahre intensiv diskutiert, dass sich dies durchsetzen muss, weil es sich ansonsten niemand mehr leisten kann, irgendwo in der Stadt zu wohnen. 

„Die Wohnraumgemeinnützigkeit muss wieder her“

Sven Lehmann: Was ein großes Problem war, war, dass die Mietpreisbremse, die es schon seit ein paar Jahren gab, total löchrig war, genau in Bezug auf solche energetischen Sanierungen. Also es gab die, dann hat man das Bad total aufwendig saniert und dann galt die Mietpreisbremse plötzlich nicht mehr. Das haben viele Vermieter*innen natürlich auch gemacht. Da haben wir gesagt, das muss verschärft werden, dass eben so etwas nicht mehr passiert.

Das viel größere Problem aber ist, dass schon Anfang der 90er, das haben CDU und FDP zu verantworten, dass die Wohnraumgemeinnützigkeit weggefallen ist. Damit sind Millionen Wohnungen aus der Mietpreisbindung gefallen und wurden auch nach und nach privatisiert. Da sagen wir auch ganz klar: Das muss wieder eingeführt werden. Wir brauchen neue Wohnraumgemeinnützigkeit, damit auch langfristige Bindungen von sozialorientiertem, öffentlich gefördertem Wohnraum möglich sind und die nicht einfach irgendwann rausfallen. Wir haben faktisch einen massiven Verlust von öffentlich gefördertem sozialen Wohnraum, den müssen wir im Grunde nach und nach wiederherstellen. 

Sven Lehmann am 02. Februar 2018 bei einer Rede im Plenum des Deutschen Bundestages // © Deutscher Bundestags/Achim Melde

the little queer review: Was ja allein für eine gute soziale Durchmischung wichtig wäre. Wenn sich immer neue Ghettos oder Bubbles bilden, bringt es ja auch nichts. 

Ulle Schauws: Übrigens, neben allem Genannten wollen wir natürlich mit Blick auf klimafreundliches Wohnen und das Leben in der Stadt und im ländlichen Raum, mehr. Wir wollen mehr Quartierentwicklung auch mit den Menschen, die dort leben. Die Bürger*innen einbeziehen und mitsprechen lassen, was müssen wir zum Beispiel unter Vielfalts- oder Geschlechtergerechtigkeitsaspekten bei der Entwicklung von Wohnraum und Quartieren mitbedenken? Menschen, die dort auch alt werden wollen, Punkt Betreuung und Wohnen im Alter. Das sind alles Konzepte, die wir Grünen entwickelt haben.

the little queer review: Auch Infrastruktur spielt da sicher eine Rolle…

Ulle Schauws: …ja genau.

Royal agierende Kultur-Förderungs-Kultur

the little queer review: Gut, gut. Kultur, auch die schätzt man sicher noch im Alter, wird gerne ein bisschen stiefmütterlich behandelt, nicht nur, wenn Pandemie ist. Auch wenn es hier und da regional Unterschiede gibt. In eurem Wahlprogramm steht: „Die öffentliche Kulturförderung soll künftig partizipativ, inklusiv und geschlechtergerecht abgestimmt sowie nach transparenten Kriterien angelegt sein“ (S. 86). Etwas, das ich, das wir hier, für dringend notwendig und geboten halten. Ist das denn machbar? So, wie das derzeit ausgestaltet ist, handelt es sich ja um Strukturen, die sich gefühlt über Generationen festgefahren haben in so einer teils royal agierenden Kultur-Förderungs-Kultur. Da müsste man das ganze Ding eigentlich einmal auf links drehen und da ist die Frage: Machen die Leute, die es dafür auch braucht, das überhaupt mit? Und dazu kommt, dass auch speziell kurzfristig und kurzzeitig Dinge gefördert werden, die gerade der heiße Scheiß oder für eine Bürgermeisterwahl wichtig sind.

Ulle Schauws: Also, ich will mal vorwegschicken, dass Sven und ich sehr kulturaffin sind. Mal davon abgesehen, dass ich in der letzten Wahlperiode kulturpolitische Sprecherin war (darum fragen wir ja, *hihi*, Anm. d. Red.). Es ist tatsächlich so, dass es bei der Kulturpolitik, von Bundesebene aus nur gewisse Möglichkeiten der Einflussnahme gibt, weil Kulturförderung in der Tat vor allem Länderangelegenheit oder auch Sache der Kommunen ist. Nichtsdestotrotz find ich „royal agierende Kultur-Förderungs-Kultur“ einen sehr schönen Begriff [Sven Lehmann lacht], also ja, es ist schon richtig. Ich hab mich in den vier Jahren als kulturpolitische Sprecherin an den Fragen, die du eben gestellt hast, orientiert und solche Themen abgearbeitet. 

Ulle Schauws am 18. Januar 2018 bei einer Rede im Plenum des Deutschen Bundestages // © Deutscher Bundestags/Achim Melde

Es muss um zwei Sachen gehen: Die Frage der Kulturförderung muss weg von der so genannten „Projektitis“ – also weg von reiner Projektförderung. Wir müssen die strukturelle Förderung von Kultur als Teil der Daseinsvorsorge anders finanzieren. Das bringt die Kulturförderung nirgendwo hin [Sven Lehmann lacht wieder und sagt: „Ja, es ist so.“]…ja, is so. Sagen wir mal, mindestens ein Drittel der Zeit, eher weit mehr, verbringen Menschen, die Förderung von der öffentlichen Hand bekommen, damit, wieder Förderung zu bekommen. Da geht so viel Zeit drauf, in der man sich um die eigentliche, die inhaltliche Arbeit kümmern könnte. Das ist bei sozialen Projekten übrigens leider auch oft so. Da müssen wir andere Entscheidungen treffen, das heißt wir müssen es, wie du gerade gesagt hast, vom Kopf auf die Füße stellen. Kulturförderung ist eine Grundsatzentscheidung, es muss auch von Bundesebene möglich sein, Kultur für alle möglich zu machen. 

Wir haben zurzeit eine sehr starke Orientierung und Konzentrierung der Kulturförderung in Berlin. Frau Grütters (CDU) als Kulturstaatsministerin hat Berlin besonders im Fokus, was wir ihr vorwerfen. Wir wollen bei der Kulturförderung die grundsätzliche Struktur verändern, das geht einher mit mehr Transparenz und das muss natürlich auch begleitet werden von den Fragen: Wer bekommt denn diese Förderung für was? Wir als Grüne sagen: das muss mit einem erweiterten Blick auf mehr Vielfalt, auf intersektionale Kulturförderung, möglich sein. Dann sind wir von „royal“ mal relativ schnell weg. Könnten von Bundesebene in andere Kulturbereiche finanzieren – nicht immer nur  die großen Theater und Museen, die viel Geld brauchen und viel Geld von Bund und Land bekommen.

Der andere Punkt ist, dass grundsätzlich auch die Partizipation wichtig ist. Wer hat eigentlich was von der Kulturförderung und wer fällt immer wieder durchs Raster? Dass wir sowas wie die Förderung von Quoten diskutieren wollen und Jurys intersektionaler und geschlechtergerechter besetzen wollen. All diese Fragen stehe auf unserer grünen Agenda.

Das verändert was. Das zieht sich übrigens auch weit bis rein in den Bereich Film und Fernsehen. Auch hier geht es darum zu sagen: Es kann nicht royal oder einspurig weitergehen. Wir brauchen Transparenz, wer trifft Entscheidungen, wer bekommt Geld und warum bekommt jemand Geld und diese Kriterien zu verändern und diese Projektfinanzierung zu beenden. 

Mal persönlich: Hören, Schauen, Schlemmen…

the little queer review: Kultur ist Teil der Umgebung und die prägt. Nun zu den Fragen, die naturgemäß auch die the little queer review prägen: Ein Film, ein Buch, ein Musikstück und eine Speise die ganz weit oben bei euch stehen und ein Ort, an dem ihr noch nicht wart, aber an den ihr möchtet. Da könnt ihr nacheinander durch oder euch abwechseln, wie ihr mögt.

Ulle Schauws: [zu Sven Lehmann] Du zuerst.

Sven Lehmann: Ah, das sind immer so krasse Gretchenfragen. Also ein Film, auch wenn ich damit ein schwules Klischee erfülle, ist Call Me By Your Name, das ist einfach ein ganz toller Film. Buch hab ich vor kurzem verschlungen von Juli Zeh, das heißt Neujahr, und ich hab noch nie ein Buch gelesen, bei dem ich so atemlos war, die Luft beim Lesen angehalten habe, das ist unfassbar spannend und toll. Musikstück oder Artist, das find ich unglaublich schwierig, ich hab so einen breiten Musikgeschmack… Was ich aber seit neuestem wieder sehr gern höre, gerade angesichts all der Krisen und Katastrophen, ist ganz banal Schlager. So alles aus den 70ern, 80ern an gutem altem deutschen Schlager, der einfach ein gutes Gefühl gibt. Liebste Speise, oh, ich esse einfach unfassbar gern und auch sehr viel, aber, ähm, Muscheln. Tatsächlich, mag ich die seit neuestem. Jetzt nicht so im Sommer, aber im Herbst, da hab ich die auch sehr gern selber gekocht. Und Ort, der unbedingt noch besucht werden muss… Hab ich eben nochmal drüber nachgedacht und ich denke, ich werde das nie machen in meinem Leben, weil ich eigentlich nicht mehr Langstrecke fliegen will, aber Fire Island, in der Nähe von New York, was auch in den 70ern und danach auch noch so ein Gay-Paradise war und so ein ganz freier Ort. Hätte ich mir gern angeschaut, möglicherweise wird das aber nichts. Außer wir haben irgendwann Flugtechniken, die klimaneutral sind oder so, also mal gucken.

the little queer review: Anton Hofreiter arbeitet ja daran [lachen]. Bei Film, Call Me By Your Name – hast du das Buch auch mal gelesen?

Sven Lehmann: Ja, zehnmal. Ich les das immer, wenn ich irgendwie gute Gefühle brauch.

the little queer review: Ja, cool. Ulle, bitte…

Ulle Schauws: Tja, ich als Filmwissenschaftlerin… Ich hab ja wirklich schon ne Menge Filme in meinem Leben gesehen, aber ich greife einfach mal einen raus, auch wenn es so viele gibt, die ich gut finde. Die Kategorie British Humour mag ich sehr und einer der besten Filme ist Trainspotting bizarre Bildsprache, das mag ich sehr. Bücher, da finde ich viele sehr, sehr gut, aber eins, was auch wirklich ne Initialzündung bei mir war, war Carolin Emckes Wie wir begehren. Das nehme ich, wenn ich zu einer Lesung angefragt werde. Wenn man daraus liest, die Leute sind richtig geflasht. Carolin Emcke trifft einfach den Punkt, gerade auch für uns als queere Menschen. Liebstes Musikstück, ja auch ich hab einen diversen Musikgeschmack, mag auch gern so ein bisschen retro. Gerade höre ich sehr gern Gianna Nannini [Begeisterung von allen Seiten], auch wenn ich kein Italienisch kann, schmettere ich jedes Stück mit. Liebste Speise, Bio-Spaghetti Bolognese, muss natürlich gut gemacht sein, also am besten selbstgemacht. Und der Ort, den ich noch besucht muss, ist ein lange gehegter Traum von mir: Ich möchte sehr gern nach Sankt Petersburg fahren, diese alte Stadt sehen. Ich hab ja mal Geschichte studiert, daher ist das ein sehr interessanter Ort. Ich will natürlich die Eremitage sehen. 

the little queer review: Ach, sehr schön, das ist ein feiner Traum. Wunderbar, vielen Dank für eure Zeit und das Gespräch. Euch einen schönen Tag und alles Gute.

Sven Lehmann: Ja, sehr gern, sehr cool. Bis bald.

Ulle Schauws: Ja genau, gern. Tschüss.

Hier findet die Homepage von Ulle Schauws und hier die von Sven Lehmann. Ebenso ist es nicht nur interessant, sondern macht sogar Freude auf bundestag.de unter „Abgeordneten“ nach ihnen (und anderen) zu suchen. Dort findet ihr nicht nur weitere Infos, sondern auch ihre Reden als Videos, das Abstimmungsverhalten, etc. 

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