Wollhaus statt Waikiki

Hawaii ist als 50. Bundesstaat erst seit etwa 60 Jahren Teil der USA. Hula-Tänzerinnen, Vulkane und tiefblaues Meer am Waikiki-Beach kommen einem beim Gedanken an Hawaii in den Sinn. Vom Waikiki-Beach geht es aber nun zum Heilbronner Wollhaus, auch wenn die wenigsten Menschen bei Hawaii an die Neckarmetropole denken dürften. Dabei gibt es dort einen Problemstadtteil, der vor Ort zwar ebenfalls als Hawaii bezeichnet wird, mit Inselidyll allerdings etwa so viel zu tun hat wie die SPD seit geraumer Zeit mit einer erfolgreichen Kanzlerkandidatur.

Protagonist Kemal ist mit vielen Fragen konfrontiert

Der 1986 geborene Cihan Acar hat nun seinen ersten Roman vorgelegt, der den Namen des Heilbronner Stadtteils trägt. Es geht darin um den jungen Kemal Arslan, der nach einem Unfall seine Karriere als Profifußballer in der Türkei an den Nagel hängen musste. Er ist de facto pleite, streift im Hochsommer durch die Stadt und versucht, während der sich über vier Tage ziehenden Handlung, zentrale Fragen seines Lebens zu beantworten: Was soll ich machen? Wie soll es weitergehen? Gibt es noch eine Chance für mich und meine Ex-Freundin Sina?

Dabei begleitet der Leser Kemal auf verschiedenen Stationen. Von der türkischen Hochzeit, über eine Spielbar, das Volksfest und eine Privatparty von Sinas stinkreichen Eltern ist alles dabei. Die besonderen Problemfelder von Menschen mit Migrationshintergrund, einer Welt von kleinen Parallelgesellschaften und auch von Rassismus und Neo-National(sozial)ismus werden von Acar durchgehend angesprochen.

Das Buch kommt nur langsam zum Punkt…

Im Text auf dem Buchrücken zu Hawaii heißt es: „Schon bald merkt er [Kemal]: Auf den Straßen braut sich was zusammen. Und er ist mittendrin.“ Dieser Satz ist sehr klug gewählt, denn er sorgt dafür, dass die Spannung des Lesers aufrechterhalten wird. Auf den 254 Seiten des Buches ist Kemal viel in der Stadt unterwegs, trifft Freunde und Bekannte, läuft von Station zu Station. Aber was braut sich da zusammen? Es gibt hin und wieder Andeutungen, aber das Ende ist sehr lange nicht abzusehen. Man mag sagen, dass das große Erzählkunst ist, denn das Überraschungsmoment ist relativ hoch.

Man kann aber auch sagen, dass sich die Lektüre auf den ersten ca. 170 Seiten arg zieht. Der eine oder andere Leser wird sich vermutlich irgendwann in dieser ersten Hälfte fragen: „Wie lange geht diese Odyssee denn jetzt noch?“ Dies gilt auch, obwohl durchaus wichtige Themen wie Integration oder die Probleme von Menschen mit Migrationshintergrund im heutigen Deutschland immer wieder deutlich werden und einen spannenden Einblick für Menschen liefern, die in der Regel eher unter „Bio-Deutschen“ bleiben.

… aber dann gibt es den Rundumschlag, der bis in die reale Gegenwart reicht

Besonders erstaunlich ist, dass im Anschluss an diesen ersten Teil innerhalb von zehn Seiten gleich ein ganzes Füllhorn an Themen angerissen wird – leider ohne überall in die Tiefe zu gehen. Es geht um Fremdenhass und Rassismus, um Gewalt gegen Polizisten und Selbstjustiz und vermutlich auch (zumindest in Andeutungen) um den NSU und seine Morde. Einige dieser Themen ziehen sich durch die restliche Handlung, andere werden leider mit wenigen Zeilen abgespeist.

Nicht nur die USA werden derzeit durch die vom Tode George Floyds hervorgerufenen Proteste dominiert. Auch im Pazifik, auf Hawaii, wird protestiert. Und vieles, was man bei den Protesten heute sieht, hätte man vor kurzem nicht für möglich gehalten. Manche Szenen gleichen fast einem Bürgerkrieg. Und auch bei meiner Lektüre von Acars Buch, die genau in die Zeit der ersten Proteste fiel, eskaliert am Ende die Situation, weil ein junger Mann mit Migrationshintergrund angegriffen wird.

Der erste Impuls beim Lesen war, dass eine Eskalation, wie sie um Kemal herum stattfindet, doch vollkommen übertrieben ist und so nicht stattfinden wird. Die Realität hat uns zwischenzeitlich aber eines Besseren belehrt. Ohne es zu wissen, hat Acar daher ein Buch geschrieben, das in der Rückbetrachtung die aktuelle Situation in den USA wohl besser schildert, als viele hochwertige TV-Dokumentationen dies tun können. Hawaii ist also trotz aller Schwächen so etwas wie das Buch der Stunde und daher zu empfehlen, wenn man herausfinden will, wie ein kleiner Funke auf mehr oder eher weniger verdeckten gesellschaftlichen Sprengstoff Gewissheiten von heute auf morgen schon als obsolet entlarven kann.  

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Cihan Acar: Hawaii; 1. Auflage 2020; Hardcover, 254 Seiten; ISBN: 978-3-446-26586-8; Hanser Berlin; 22,00€

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