Alle Zeit den ausgewogenen Debatten

Sachbücher — wir lieben sie (okay, nicht alle….) In diesem Jahr nun Teil von #sachbuchpreisbloggen sein zu dürfen freut uns also sehr, wie unser Herausgeber Hans erst Ende letzter Woche festhielt. Uns dabei in bester Gesellschaft zu finden sowieso. Heute Vormittag war es endlich soweit und die acht für den Deutschen Sachbuchpreis 2023 nominierten Autor*innen und Titel wurden bekanntgegeben. Und ja, wir haben in der Nacht unruhig geschlafen und uns am Morgen mit diversen Fleißmails und Einkäufen zu beschäftigen und abzulenken versucht.

Wobei „Deutscher Sachbuchpreis“ irgendwie beinahe ein wenig irreführend ist — natürlich im besten Sinne meinen jedenfalls wir. Eingereicht worden sind nebst Titel von einhundert Verlagen aus Deutschland auch welche von jeweils 13 Verlagen aus Österreich und der Schweiz sowie einem aus Liechtenstein und Großbritannien. Europa mal anders, quasi. Von den Verlage können jeweils maximal zwei Monografien eingereicht werden (d. h. Sammelbände herausgegeben von XYZ sind ebenso ausgeschlossen wie bspw. Autobiografien, Ratgeber und derlei. Wobei letztgenannte genau wie Kochbücher oder Bildbände ohnehin separat laufen und auch im Buchhandel sowie auf den meisten Bestsellerlisten anders erfasst werden.)

Acht und acht macht Achtsamkeit

Aus insgesamt 231 Titeln von, wie geneigte Leser*innen bereits ausgerechnet haben, 128 Verlagen hat die achtköpfige Jury — Julika Griem (Kulturwissenschaftliches Institut Essen), Stefan Koldehoff (Deutschlandfunk), Michael Lemling (Buchhandlung Lehmkuhl), Markus Rex (Alfred-Wegener-Institut), Jeanne Rubner (Jurysprecherin, Technische Universität München), Adam Soboczynski (Die ZEIT), Mirjam Zadoff (NS-Dokumentationszentrum München) — nun acht Titel ausgewählt.

Die Jury, v. l. n. r.: Jurysprecherin Dr. Jeanne Rubner, Michael Lemling, Stefan Koldehoff, Dr. Adam Soboczynski, Dr. Mirjam Zadoff, Prof. Dr. Julika Griem, Prof. Dr. Markus Rex // Foto: © vtnr.media

Bevor wir uns kurz daran machen, ein, zwei Gedanken zu den einzelnen Titeln loszuwerden, hier nun die nominierten Bücher und Autor*innen in alphabetischer Reihenfolge:

  • Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität (Propyläen, September 2022)
  • Teresa Bücker: Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit (Ullstein, Oktober 2022)
  • Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland (C.H. Beck, Februar 2023)
  • Judith Kohlenberger: Das Fluchtparadox. Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen (Kremayr & Scheriau, August 2022)
  • Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte (Kiepenheuer & Witsch, März 2023)
  • Hanno Sauer: Moral. Die Erfindung von Gut und Böse (Piper, März 2023)
  • Martin Schulze Wessel: Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte (C.H. Beck, März 2023)
  • Elisabeth Wellershaus: Wo die Fremde beginnt. Über Identität in der fragilen Gegenwart (C.H. eck, Januar 2023)

Drei Dinge fallen uns sofort auf: Zum Ersten ist es eine Liste, die für Debattenfreude, Streitfragen und im Zeichen eines konstanten gesellschaftlichen Wandels steht. Dazu passt, was Jurypsrecherin Jeanne Rubner erklärt:

„Sachbücher, die ihre Leser*innen zum Weiterdenken und Perspektivwechsel anregen: das war der Jury jederzeit wichtig. Den Autor*innen der nominierten Titel gelingt das grandios. Sie erhellen aktuelle Debatten und Krisen, schaffen neue Sichtweisen und machen Lösungsvorschläge: Wie viel Individualität des Einzelnen hält eine Gesellschaft aus? Kann Arbeit gerechter organisiert werden? Warum tun wir uns so schwer, mit Geflüchteten menschlich umzugehen? Die nominierten Autor*innen schauen zurück in die Geschichte und erklären Konflikte wie den Russland-Ukraine-Krieg. Sie schlagen Brücken zwischen Fachdisziplinen und fragen: Wie ist Moral entstanden und wie weit reicht die Kooperationsfähigkeit der Menschen? Sie nehmen sehr persönliche, autobiographische Standpunkte ein und liefern Erklärungen für Fremdsein, für die Gegensätze von Stadt und Land, für Antisemitismus. Klug, weitsichtig, engagiert, kenntnisreich – das zeichnet die nominierten Titel aus.“

Imperialistische und innerdeutsche Identitäten

Zum Zweiten fällt auf, dass wir bei acht Titeln auf fünf Verlage treffen. Gleich drei Mal darf sich der Münchener C.H. Beck Verlag über eine Nominierung freuen — von sehr unterschiedlichen Titeln. Da geht es bei Ewald Frie etwa um Landwirtschaft, das Verlorengehen eines Lebensgefühls, einer Wertschöpfung und die zunehmende Verstädterung. Diesen Dingen geht der 60-jährige Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen in Gesprächen mit seinen Geschwistern in Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland nach.

Ganz anderen Identitätsfragen widmet sich die Autorin und Journalistin Elisabeth Wellershaus in Wo die Fremde beginnt, zu dem es heißt: „Fremdheit ist ein Phänomen, das Elisabeth Wellershaus seit frühester Kindheit aus den Zuschreibungen anderer kennt. In ihrem Buch zeichnet sie nach, wie viel komplexer, allgegenwärtiger und bereichernder sie die Fremde selbst wahrnimmt – und warum sie uns verbindet.“ Ein Titel, der so erkenntnisreich wie dringlich sein dürfte. Die Stimme der Sachbuchpreis-Jury jedenfalls lässt dies deutlich anklingen: „Es ist der Versuch, die Debatten um Rassismus und Identitätspolitik hinter sich zu lassen und trotzdem nicht zu ignorieren.“ 

Fremd scheint uns auch mehr und mehr Putins Russland. Dass in Anbetracht des andauernden Angriffskrieges gegen die Ukraine ein Buch mit irgendwas Russischem im Titel nominiert würde, überrascht uns kaum. Dass es Der Fluch des Imperiums von Martin Schulze Wessel, Professor für die Geschichte Ost– und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, ist, freut uns. In dem vorliegenden Band, möchte Schulze Wessel den Krieg in den Kontext der russischen Expansion nach Osteuropa stellen und zeigen, wie Russlands imperiale Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt. Ein Buch, welches wohl auch von manch vermeintlichen Putinversteher*innen aka -verklärer*innen gelesen werden sollte: „Es ist eine beklemmende Geschichtsstunde, die die Augen öffnet für das Gedankengut Putins und seines Regimes, für die Verachtung einer westlichen, diversen Zivilgesellschaft“, so die Jury. 

Forderung nach Zeit und Raum

Ebenso ist Ullstein zwei Mal nominiert, wenn auch einmal über den zur Ullstein Verlage GmbH gehörenden Propyläen Verlag (in dem auch der Gewinnertitel des vergangenen Jahres, Stephan Malinowskis Die Hohenzollern und die Nazis erschien). Zum Thema Wandel der Gesellschaft dürfte jedenfalls das schon heiß besprochene Alle_Zeit der Journalistin Teresa Bücker passen, die von 2014 bis 2019 als Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins EDITION F selber nicht selten Teil eines Veränderungsanstoßes war. Ein Buch über Zeitkultur fügt sich da doch ganz hervorragend. 

Mit einem Allgemeinplatz beginnt die Beschreibung zum Buch Omri Boehms, Radikaler Universalismus: „Die Frage nach der Identität hält das gesamte politische Spektrum besetzt. Und der Universalismus? Geschrumpft auf eine leere Hülle. Omri Boehm sucht in seinem Buch einen Ausweg aus der festgefahrenen Debatte.“ Das kann nun alles oder nichts heißen. Was wir wissen, ist, dass Boehm, der deutscher und israelischer Staatsbürger ist, ein so pointierter wie meinungsstarker Autor ist. Dazu passt eine Einlassung der Jury: „Sein Buch fordert; es schmiegt sich nicht an.“ Eine Lektüre, die lockt.

Die flüchtige Moral anhaltender Diskurse

Apropos Israel: Nachdem wir im vergangen Jahr Natan Sznaider mit Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus nominiert sahen, in dem es, sehr kurz gefasst, um die Debatte rund um Opferkonkurrenz in der Aufarbeitung geschehenen Unrechts geht, freuen wir uns 2023 über die Nominierung Meron Mendels für Über Israel reden. Eine deutsche Debatte. Der Titel des im KiWi Verlag erschienen Buches des Leiters der Bildungsstätte Anne Frank, der zuletzt einer großen Öffentlichkeit über seine bedachten Äußerungen zum Documenta 15-Debakel aufgefallen ist, ist im Grunde selbsterklärend. Jede*r hat eine Meinung zu Israel, die fester steht als jede Mauer in Grenzgebieten. Dazu hoch emotional verteidigt wird. Warum das so ist, dieser Frage will Mendel nachgehen und laut Jury, tut er das auf die ihm eigene Art und Weise: „Ein ruhiges Buch, das um Ausgleich in hitzigen Debatten bemüht ist.“

Dabei dürfte es sich an nicht wenigen Stellen auch um moralische Abwägungen handeln. Das Fundament, um diese gekonnt einordnen sowie die Entstehung moralischer Kategorien begreifen zu können, dürfte uns bestenfalls der 1983 geborene Philosoph Hanno Sauer mit seinem bei Piper vorliegenden Buch Moral. Die Erfindung von Gut und Böse liefern. So jedenfalls klingt es in der Jurybegründung zur Nominierung: „Sauers umfassende Kulturgeschichte der Moral von den Anfängen der Menschheit bis heute verleiht den hochaktuellen moralischen Debatten unserer Zeit eine solide Basis – klug geschrieben, unterhaltsam und eine Anregung, eigene Überzeugungen zu hinterfragen.“

Last but absolutely not least: Ebenfalls nominiert ist ein Buch aus dem von uns geschätzten österreichischen Verlag Kremayr & Scheriau und gar eines, mit dem wir, neben ein, zwei anderen auf dieser Liste, beinahe fest gerechnet hatten: Judith Kohlenberger zeigt in Das Fluchtparadox „wie wir zu einer menschlichen Asyl- und Integrationspolitik kommen, wenn wir der Stärke der Institutionen, des Rechtsstaats und der Zivilgesellschaft vertrauen.“ Laut der Jury des Deutschen Sachbuchpreises zeichnet sie sehr differenziert nach, „wie sich unser Umgang mit Flucht und Vertreibung rechtlich, gesellschaftlich und politisch im 20. und 21. Jahrhundert entwickelt hat und entlarvt die Paradoxien der aktuellen Diskurse.“ 

Was fehlt, was droht, was kommt

Zum Dritten fällt auf, dass sich kein Buch unter den Nominierten findet, welches sich dezidiert mit der Klimaproblematik oder allgemeiner mit Naturwissenschaften beschäftigt. Das wundert und irritiert uns nun doch ein wenig. Nicht nur, dass es mit Büchern wie etwa Klima außer Kontrolle von Susanne Götze und Annika Joeres oder Stefanie Arndts Expeditionen in eine schwindende Welt einige Titel gegeben hätte. Auch scheint es, dass hier trotz einer sehr feinen, ausgewogenen und thematisch wirklich breiten Auswahl die Chance vertan wurde, mit der Nominierung eines solchen Titels das Augenmerk auf die dringend notwendige Debatte zur Klimakrise zu legen und dies fernab von überemotionaler Aufregung und um sich tretenden Autofaher*innen. Ein kleiner Wermutstropfen.

Dessen unbenommen freuen wir uns natürlich und denken, dass wir diese Liste alles in allem nicht nur feiern, weil wir Sachbücher so lieben, sondern weil sich schlicht jede*r der nominierten Autor*innen mit einem Thema befasst, dem sich (eingehender) zu widmen ein Gewinn in mehrerlei Hinsicht sein dürfte. Rein thematisch dürfte also schon einmal jedes Buch eine Leseempfehlung sein. 

Wie das bei dem einen oder anderen inhaltlich aussieht, das werden wir euch in der kommenden Zeit wissen lassen. Sobald wir erfahren, welches Buch unser Patenbuch sein wird, teilen wir euch das natürlich in einem Artikel-Update mit.

Eure queer-reviewer

PS: Wer sich fragt, wieso drei Beck-Titel nominiert sind, wenn doch nur zwei pro Verlag eingereicht werden dürfen: Die Verlage konnten zusätzlich zu den ursprünglichen Einreichungen bis zu fünf weitere Titel vorschlagen. Aus dieser Liste von Empfehlungen wiederum konnte die Jury weitere Titel anfordern. 

PPS: Nachdem wir unseren Beitrag zum Deutschen Sachbuchpreis 2022 mit „Urlaub, um zu lesen?“ überschrieben hatten, fällt in diesem Jahr auf, dass es keine dicken Wälzer gibt. Hat ja auch mal was. Natürlich muss der schmalere Umfang eines Buches noch nichts über die inhaltliche Schwere aussagen. 

Ein Stapel Nominierungen // Foto: © Christof Jakob

Zum Preis: Der mit insgesamt 42.500 Euro dotierte Deutsche Sachbuchpreis wird von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vergeben. Der oder die Preisträger*in erhält 25.000 Euro, die sieben Nominierten je 2.500 Euro. Hauptförderer des Preises ist die Deutsche Bank Stiftung, darüber hinaus unterstützen die Stadt Hamburg und die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius die Auszeichnung, die am 1. Juni 2023 im Kleinen Saal der Elbphilharmonie in Hamburg vergeben wird. Tickets für die Preisverleihung können hier erworben werden

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