„Allem Anschein nach hatte vor mir noch nie ein Schwarzer dieses kleine Schweizer Dorf betreten.“

Beitragsbild: Das Buchcover (mehr dazu im PPS) auf einem Luftbild von Leukerbad, entstanden im November 2022; Daniel Reust, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons

Heute vor einhundert Jahren wurde James Arthur Baldwin in Harlem, New York City, New York geboren. In den gut sechzig Jahren seines Lebens – und darüber hinaus – sollte Baldwin zu einem der bedeutendsten Schriftsteller werden. Dies wohlgemerkt weit über die Grenzen der USA hinaus. Was sicher sowohl daran gelegen haben mag, dass Baldwin für lange Zeit Frankreich zu seiner Wahlheimat erkiesen hatte wie auch, dass unter anderem einer seiner berühmtesten und aufsehenerregendsten Romane, Giovannis Zimmer, in Europa spielte.

In seinen Essays, Gedichten, Theaterstücken und Romanen behandelte James Baldwin immer wieder die Themen Rassismus und Sexualität, oft miteinander verknüpft, nicht selten begleitet von problematischen Themen wie unnachgiebiger Religiosität sowie (nicht selten urbaner) Provinzialität. Lange bevor wir quasi professionell und dennoch nicht immer in Kenntnis der Bedeutung mit Begriffen wie Diversität, Queerness und Identitätspolitik hantierten, setzte sich der Autor mit der Identitätskopplung von Schwarz-Sein und Homosexuell-/Schwul-Sein auseinander.

Welchen Druck dies bedeutete, vor allem, wenn man es lebte – zumal James Baldwin entscheiden konnte, ob er seine Sexualität offen zeigen wollte oder eben auch nicht, dass er Schwarz ist, nun eben einmal nicht – zeigt Baldwin auf persönlichste Weise in seinem kurzen Essay Ein Fremder im Dorf, der erstmals 1953 in Harper’s Magazine erschien und 1955 in die Essaysammlung Notes of a Native Son aufgenommen wurde. Diese erschien hierzulande in der Übersetzung von Miriam Mandelkow und mit einem Vorwort von Mithu Sanyal 2022 bei dtv.

Ein Fremder im Dorf entstand, als Baldwin im Jahr 1951 erstmals von Paris in die schweizerische Gemeinde Leukerbad aufbrach. Dort verbrachte Baldwin, „damals konfus und niedergeschlagen“ einige Zeit im Sommer und später, „zu seiner eigenen Überraschung“, im Winter Zeit im Chalet der Familie seines damaligen Partners Lucien Happersberger. Jene zitierten zeitlichen und persönlichen Einordnungen wiederum stammen aus dem Essay Schwarzer Körper des 1975 geborenen, nigerianisch-amerikanischen Autoren und Fotografen Teju Cole.

Luftbild Leukerbad, Oktober 1955, Dieses Bild stammt aus der Sammlung der ETH-Bibliothek // Datei: Werner Friedli, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons
James Baldwin / Teju Cole: Fremder im Dorf / Schwarzer Körper, S. 24; Kampa Verlag, 2024

Der wiederum verfasste seinen 2016 im Hanser Verlag im Band Vertraute Dinge, fremde Dinge veröffentlichten, von Udo Strätling übersetzten Text als eine Art Wiederbesuch sowohl des Ortes Leukerbad wie auch des Essays Baldwins. Cole besuchte das Bergdorf, nunmehr ein Touristenmagnet sondergleichen, zum 2. August 2014, also um James Baldwins 90. Geburtstag und rund siebzig Jahre nach Entstehung von Ein Fremder im Dorf. Beide Texte finden sich perfekt nebeneinander gestellt im ansprechend aufgemachten Band Fremder im Dorf / Schwarzer Körper, der kürzlich im Schweizer Kampa Verlag erschienen ist.

In seinem knappen und knarrenden Essay schreibt James Baldwin so eindrücklich wie bedrückend von Begegnungen und Erfahrungen in dem kleinen Dorf. Er schildert, wie selbst vermeintlich freundlich-freudige Neugierde natürlich von Rassismus geprägt ist. Für die einen ist er ein Fremdling, eine Art Implantat in die gewohnte Umgebung, dem allerdings der Reiz des Neuen anhaftet. Mancher wundert sich, was er in der Sonne mache, andere fürchten einen Stromschlag beim Berühren seiner Haare. Für andere ist Baldwin, dieser Schwarze, schlichtweg so etwas wie der Boogey Man. Schlimmer noch, wenn er lächelt – also die Zähne fletscht, wie es nicht zuletzt auch Teju Cole in seiner Revisiting-Hommage schreibt.

James Baldwin / Teju Cole: Fremder im Dorf / Schwarzer Körper, S. 24; Kampa Verlag, 2024

In Schwarzer Körper beschreibt Cole zunächst seine eigenen Eindrücke der Gegend. Dies wohlgemerkt in weit gestelzteren Worten als der fünfzig Jahre vor ihm geborene Baldwin sie gewählt hat. Dann geht Coles Text über in eine Beschreibung von Baldwins Situation zu der Zeit, interpretiert die von Baldwin anhand des Auftretens der Dörfler getroffenen Mutmaßungen sowie seinen Bruch im Text, der von schildernd zu einer seltsamen Mischung aus resignativ-kämpferischer Wut wechselt und in einem beinahe schon hoffnungsfrohen Blick in die nahe Zukunft mündet.

Schlussendlich vergleicht Teju Cole, auch mit Blick auf das Körperliche, das Fetischisierte bzw. Fetischisierende, das Heute mit dem Damals von Ein Fremder im Dorf. Dass dieses „Damals“ längst kein „Vergangen“ bedeutet, gehört sicherlich nicht zum Überraschendsten des zweiten Essays. Wie Cole jedoch zu seinem Schluss kommt, die USA und Europa, die Amerikaner und die Europäer in Haftung nimmt (sich dabei auf Baldwin bezieht, jedoch in eine andere Richtung argumentiert) und letztlich mit diesen Worten schließt:

James Baldwin / Teju Cole: Fremder im Dorf / Schwarzer Körper, S. 70 f.; Kampa Verlag, 2024

Das ist schon stark. Zumal eine saubere und schlüssige Herleitung, die Teju Cole mit keinem Wort zu wenig vollzieht. Parallelen trotz vermeintlich veränderter Parameter. Im Sinne des „Und nun?“ erneut Baldwin, wieder aus dem bereits oben zitierten Abschnitt:

James Baldwin / Teju Cole: Fremder im Dorf / Schwarzer Körper, S. 24; Kampa Verlag, 2024

Also – und nun? Und warten wir noch immer, dass sich Baldwins Schlussworte, die „gemeinsame Erfahrung von Schwarzen und Weißen könnte sich für unsere heutige Welt als unverzichtbar erweisen“, vollumfänglich bewahrheiten. Zu Lebzeiten des großen Autoren, der am 1. Dezember 1987 in Saint-Paul-de-Vance, ProvenceAlpesCôte d’Azur in seiner Wahlheimat Frankreich starb, war dies augenscheinlich nicht der Fall.

James Baldwin, fotografiert im September 1955 von Carl Van Vechten (1880 – 1964) // Carl Van Vechten, Public domain, via Wikimedia Commons

Wer weiß – möglicherweise dürfte das Baldwin-Jahr, das in der Literatur– und Kulturwelt hierzulande neben dem Kafka-Jahr und Wer-Weiß-Wer-Noch-Jahr 2024 begangen wird, als förderlich erweisen. So wird es im Rahmen des 24. internationalen literaturfestivals berlin, das mit Helon Habila erstmals einen Kurator hat, diverse Panels zu James Baldwins Leben und Schaffen sowie Gegenwarts- und Zukunftswirken geben. Unter anderem eines am 8. September 2024 mit dem klangvollen Titel »A Writer is by Definition a Disturber of the Peace« – The James Baldwin Centenary Panel, das von Habila moderiert wird und mit Logan February und Sasha Marianna Salzmann prominent besetzt ist.

Ebenso findet vom 6. bis zum 8. September mit What Would James Baldwin Do? im Literarischen Colloquim Berlin (LCB) und im Haus der Kulturen der Welt (HKW) ein Festival zu Ehren von dessen 100. Geburtstag statt. Neben einem interessanten und diversen Programm an beiden Orten, gibt es im LCB zeitgleich eine audiovisuelle Ausstellung zu sehen. Organisiert wird das Festival von: René Aguigah (dessen James Baldwin. Der Zeuge. Ein Porträt gerade im C.H. Beck Verlag erschienen ist), Julia Alfandari, Gürsoy Doğtaş und Sasha Marianna Salzmann.

Da beides noch einige Zeit in der Zukunft liegt, hat ein*e Jede*r also noch reichlich Zeit sich reiflich mit Baldwin zu beschäftigen. Der Kampa-Band Fremder im Dorf / Schwarzer Körper bietet einen hervorragenden Einstieg, sowohl in Baldwins Werk als auch in heutige Interpretationen.

AS

PS: Die Überschrift ist der einleitende Satz aus James Baldwins Ein Fremder im Dorf.

PPS: Für das wie immer im Kampa Verlag wunderbar gestaltete Buchcover zeichnet Lara Flues verantwortlich, das Covermotiv The Firsts – James Baldwin, Leukerbad, stammt von Sasha Huber; Foto: © Fabian Hugo

PPPS: Ebenfalls bei Kampa erschienen ist kürzlich Ich weiß, wovon ich spreche. Ein Leben in Gesprächen in der Kampa Salon-Reihe und bei dtv liegen ohnehin viele Romane und Texte Baldwins vor. Bis vor kurzem wurden die in einem sehr ansprechenden einheitlichen Design rausgegeben, dies wurde nun geändert – was nicht alle (hey!) begeistert. Mehr dazu in den folgenden einzelnen Rezensionen zu den Büchern James Baldwins.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

James Baldwin / Teju Cole: Fremder im Dorf / Schwarzer Körper; Mai 2024; James Baldwins Fremder im Dorf aus dem Englischen von Miriam Mandelkow, Teju Coles Schwarzer Körper aus dem Englischen von Udo Strätling; 80 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-311-10138-3; Kampa Verlag; 19,00 €

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert