Über einhundert Schulen und sechzig Straßen sind nach ihm benannt, wie erst kürzlich in einem hörenswerten Feature im Deutschlandfunk Kultur zu hören war, und heute jährt sich sein Todestag zum fünfzigsten Mal: Erich Kästner. Der politische Schriftsteller und Publizist, der stets mit Verve und Witz, auf manch eine Ungereimtheit im Miteinander und gesellschaftliche Schieflagen aufmerksam zu machen wusste. Neben Kurz- und Prosatexten, Essays, Drehbüchern und Kabaretttexten machte er sich vor allem als Autor von Kinderbüchern wie Emil und die Detektive einen Namen. Hier sprachen Kinder eben wie Kinder und verhielten sich auch so.
Ebenfalls ein Meilenstein seines Schreibens und nicht nur deutschsprachiger Literaturgeschichte ist sein Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, auch bekannt als Der Gang vor die Hunde. Eine detaillierte, feinsinnig garstige, tragikomische, bitter ironische Beschreibung der (Berliner) Verhältnisse – zwischenmenschlicher wie politischer, gesellschaftlicher und kultureller – in der Weimarer Republik. Kästner selbst sagte über sein Buch, das vielen als dekadent und obszön erschien: „Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich wie alt sie sind.“
So zu lesen im vom Kästner-Experten Sven Hanuschek im Atrium Verlag herausgegebenen Band Der Gang vor die Hunde, der erstmals die Urfassung des Romans preisgibt und um diverse historische Nachworte, eine Editorische Notiz sowie ein Nachwort Hanuscheks angereichert ist. Bei Atrium liegen überhaupt viele Schriften von und über Kästner sowie diverse Anthologien vor (nach dem Verbot seiner Bücher und Texte im Jahr der ersten Bücherverbrennungen 1933 publizierte der Schweizer Verlag Kästner). Etwa die neben vielen weiteren von der Verlagslektorin, Redakteurin und Übersetzerin und Sylvia List herausgegebene Das ist Berlin!: Erich Kästner und seine Stadt. Hier lebte der 1899 in Dresden geborene Kästner von 1927 bis 1945. Wobei es 1933 einen biografischen und schöpferischen Bruch gibt.
Es finden sich in dem schmalen Büchlein, das neben einer Bereicherung für die Hausbibliothek ebenso ein wunderbarer Geschenkband ist, somit vor allem Texte aus der Zeit vor 1933 und solche, die auf jene besseren Tage zurückblicken. Zum Ende allerdings auch solche, die bereits die Ideologie der Nationalsozialisten und die boshafte Intelligenz eines Joseph Goebbels aufgreifen (etwa Marschliedchen oder Dr. Goebbels‘ weiße Mäuse).
Sehr direkt auch die Textpassage Kann man Bücher verbrennen? aus Über das Verbrennen von Büchern. Hier beschreibt Kästner, wie er einer solchen beiwohnt, angeführt von einem Studenten in einer SA-Uniform, der „den von einer Bronzebüste heruntergeschlagenen Kopf Magnus Hirschfels hoch auf einer Stange trug“ und ihn „vor der geistigen Elite des Dritten Reichs marschierend, wie eine Kampftrophäe“ trug. Wie „neu“ das die Bücher dem Feuer Anheimgeben für die Studenten gewesen sein muss, beschreibt Kästner ebenfalls an dieser Stelle:
„Dass man Bücher nicht nur lieben, sondern auch hassen kann, wussten sie. Dass man Bücher auf Kommando öffentlich verbrennt, mussten sie noch lernen.“
Dieses Beiwohnen des Verbrennens, auch seiner Bücher, wird in Wolfgang Murnbergers (Regie) und Dorothee Schöns (Drehbuch) sehenswerten biografischen Drama Kästner und der kleine Dienstag mit Florian David Fitz als Erich Kästner gezeigt. Der Film greift im Übrigen auch Kästners durchaus kritisch gesehene und eher pragmatisch-opportunistische Beziehung zum NS-Regime auf. So sehr er es verurteilte, arbeitete er doch unter Pseudonym und wohl auf ausdrücklichen Wunsch von Propagandaminister Goebbels in den Jahren ’33 bis ’45 fleißig weiter. (Dazu in einem anderen Text mehr, wenn wir uns mit der Biografie des Schriftstellers befassen.)
Der Band schließt mit einer Elegie (nein, nicht jener, die derzeit in aller Munde ist, wie auch) und einem kleinen, feinen, wieder wunderbar ironischen PS. über die Berliner. So greift Herausgeberin List abschließend wieder den Ton auf, mit dem sie uns in das Buch führte:
„Es gab viel Blühen und auch hektische Blüten. Es gab viel Verwelken und auch Verbrennungen dritten Grades. […] Es war ein Leben auf dem hohen Seil, und es war ein Leben ohne Netz.“
So pointiert treffend, diese Erinnerungen an das Berlin des Jahres 1927 gehen natürlich noch weiter, und zeitlos hat wohl kaum jemand zuvor oder später diese Stadt beschrieben. In Berlin als Film fasst Kästner seine Eindrücke des Films Berlin, die Sinfonie einer der Großstadt zusammen, in der nicht als „das Tempo und die Buntheit Berlins“ photographiert werden sollten. Dabei sei aber alles ein wenig gut groß, zu viel, zu drüber quasi. Passt doch! Damals wie heute, denken wir.
Ob laute und beinahe widerliche pompöse Etablissements wie jenes, in dem achtundvierzig Kanarienvögel zur Unterhaltung gefangen („grausame Lächerlichkeit“!) sind oder ihm noch fremde, aber weit sympathischere wie das Kü-Ka aka Künstler-Kaffe ab drei Uhr nachts, wo es „[a]b 5 Uhr früh Reis mit Huhn gab“. Die Beschreibung eines Schauspiels namens „Berlin im Lichte“, bei dem die Beleuchtungseffekte derart kläglich gerieten, dass sie „eine Heiterkeit [verursachten], die unbedingt notwendig war“, fasst herrlich formuliert, das Event-Chaos einer Stadt zusammen, die groß denkt und doch provinziell ausartet.
Es finden sich in dieser fein zusammengestellen Kästner-meets-Berlin-Anthologie Zitate und Bonmots fürs Leben, die oft knapp am Zynismus vorbeischrammen. Denn immer sind sie doch geprägt von einer beinahe schon unnachahmlichen Neugierde auf das Leben und die Menschen gepaart mit einem aufrichtigen Interesse an beidem.
Wir lernen, wie wir erfassen können, was gerade der heiße Scheiß im Kunst– und Kulturbetrieb ist, wie die literarische Revue das literarische Kabarett (verdient) ablöste und wie das eine Theater mit ein paar angemieteten Bussen die Pleite des anderen Schauspielhauses zu nutzen versteht (DIY-Theaterführung 101 sozusagen).
Wie schwer es Junggesellen haben konnten, ist in Möblierte Melancholie zu lesen, dem entgegen werden sie in Hier werden Junggesellen aufgefrischt umsorgt in diesem Irrenhaus Berlin, das wir in einem Auszug aus Fabian weiters geschildert bekommen. Und, wie so manches Mal in Das ist Berlin! Homosexuellen, genauer „parfümierte[n] homosexuelle[n] Burschen“, begegnen. Das geht allerdings auch einigermaßen rotzig-patzig, so wie im Gedicht Ragout fin de siècle (Im Hinblick auf gewisse Lokale:). Darin beschreibt er Schwule und Lesben, Travestie, sicherlich auch Transidentität, ohne dies kennen zu können, wird aber auch so harsch wie zugegeben lustig:
„Hier wurden vor lauter Perversion / vereinzelte wieder normal. / Und käme Dante in eigener Person – / er fräße vor Schreck Veronal.“
Niemand fände sich zurecht: „Die Echten sind falsch, die Falschen sind echt, und alles mischt sich im Topf […]“ – dit is Berlin, wa! Schlussendlich solle zwar jeder nach seiner Façon selig werden (das schreibt der antimilitaristische Kästner so natürlich nicht), doch:
„Nur schreit nicht dauernd wie am Spieß, was ihr für tolle Kerle wärt! / Bloß weil ihr hintenrum verkehrt, seid ihr noch nicht Genies.
Na ja, das wäre dies.“
Ja, wäre es. Ob ihm der Berliner Christopher Street Day am Wochenende wohl gefallen hätte? Wir wissen es nicht, beobachtet hätte Kästner diesen sicherlich in jedem Falle. So wie auch manch Armut in der Stadt, die er in zwar lebendigen, jedoch nicht ausschließlich bunt illuminierten Wortfarben zu beschreiben weiß. Ob in Zwanzig Autogramme, Die Weidendammer Brücke, Hauptgewin 5 Pfund Prima Weitzenmehl! (schon beinahe Aktuelles aus dem Wedding) oder Der Streichholzjunge – die Menschen sind am hustlen, um zu überleben. Auch dit is Berlin.
Ein kleiner, feiner Band, dessen Text Die >>höfische<< Kunstepoche heutzutage gut und gern auf die S- und U-Bahnen der Stadt übertragen werden dürfte. Wie bereits erwähnt, ist dieses Berlin nach Erich Kästner zeitlos, wenn auch der Zeitgeist sich ein wenig verändert haben mag. Gerade allerdings wo manche*r nicht nur rückwärts zu gehen wünscht, sondern dies auch nach vorn herausschreit, mag der von Sylvia List liebevoll und kenntnisreich aufbereitete Band sowohl spitze Erinnerung als auch scharfzüngige Mahnung für die Gegenwart sein, etwa wenn er formuliert, dass und wie aus Unzufriedenheit Ideologie wurde.

Erich Kästner starb am 29. Juli 1974 in München. Selbstredend liegt auch zu dieser Stadt ein von Sylvia List herausgegebener literarischer Streifzug vor. Mit dem Kleinen Liebesbrief an München: Erich Kästner und seine Stadt befassen wir uns in Kürze.
AS
PS: Zur Lektüre gehört: Edmund Meisels Musik zu Berlin, Sinfonie einer Großstadt.

Sylvia List (Herausgeberin), Erich Kästner (Autor): Das ist Berlin!: Erich Kästner und seine Stadt; August 2023; 112 Seiten; Gebunden; ISBN: 978-3855351381; Atrium Verlag; 11,00 €
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