An Stalins Stromschnellen

Seit das Atomkraftwerk Saporischschja im Frühjahr 2022 in russische Hände fiel, ist das größte Kernkraftwerk Europas wohl deutlich mehr Menschen ein Begriff als zuvor. Als sich die russische Armee einige Monate später aus der Stadt Cherson zurückzog, war die Angst groß, dass der flussabwärts gelegene Kachowka-Staudamm von den abziehenden Russen gesprengt und so große Teile der Südukraine überflutet würden.

Und dann gibt es am Fluss Dnipro nahe der Stadt Saporischschja noch einen weiteren großen Staudamm. Diesen ließ Stalin ab 1929 erbauen und er wurde tatsächlich im Zweiten Weltkrieg zweimal gesprengt. Vom Bau dieses flussaufwärts gelegenen Damms handelt der historische Roman Die Rote Herzogin, der von Svetlana Lavochkina verfasst und vom Verlag Voland & Quist hierzulande veröffentlicht wurde.

Bourgeoise Blaublüterin und…

Protagonistin dieser Geschichte ist wenig überraschend eine Frau, Darja Katz, deren Ehemann Chaim die Bauleitung des Staudamms innehat, während sie sich als örtliche Chef-Propagandistin betätigen darf. Chefingenieur ist der Amerikaner Hugh Winter, den Stalin persönlich aus dem verhassten Eldorado des Kapitalismus heranschaffen lässt und ihm manch einen Genuss gewährt, der seinen Sowjetuntertaninnen und -untertanen nicht zuteilwird. Und auch wenn die Einführung der Figuren am Anfang noch eher einem groben Mosaik gleicht, fügt sich diese Palette an Personen und Charakteren am Ende zu einem schönen Ensemble zusammen.

Denn natürlich handelt es sich bei der Baustelle um nichts anderes als ein großes Arbeitslager, das den Plan eines größenwahnsinnigen Diktators in die Tat umsetzen soll. In bester sozialistischer Manier treffen wir hier auf Gestalten aller Couleur, vom einfachen russischen oder ukrainischen Bauarbeiter über jüdische Figuren oder Rom*nja bis hin zum früheren Arzt oder Akademiker und eben zum Bauleiterpaar, dessen weiblicher Teil während der zu Ende gehenden Zarenzeit noch zum Adel zählte.

…prätentiöse, promiskuitive Propagandistin

Der Fall für die Ex-Herzogin im sozialistisch-egalitären System war tief und so sind die Ansprüche auch noch immer in der Cuisine und der Couture des Vorkriegs-Paris verhaftet. Madame plant daher zu Weihnachten trotz des Verbots der Religionsausübung und der allgemein bereits vor dem sich ankündigenden Holodomor mehr als prekären Lebensumstände einen nicht nur für Lagerverhältnisse opulenten Weihnachtsball.

Von den von ihr schikanierten Schergen lässt sie sich daher Festmahl, Ballkleid, musikalische Untermalung und was mensch eben sonst so für ein zauberhaft-opulentes Pseudo-Weihnachtsfest braucht, organisieren – nicht ohne manch kopulative Gegenleistung, wie sich versteht. Selbst im Arbeitslager zeigt sich also die volle weihnachtliche Pracht des Sozialismus – ungewollte und ungeliebte späte Geschenke inklusive.

Die ganze Pracht eines sowjetischen Arbeitslagers

Prächtig ist auch diese Novelle von Svetlana Lavochkina, die als Vorgeschichte zu ihrem bekannten Roman Puschkins Erben dient. Genannter P. taucht in der Geschichte auch immer wieder auf und für Leserinnen und Leser dieses 2013 mit dem Pariser Literaturpreis ausgezeichneten Werks gibt es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die eine oder andere Überschneidung (der Roman ist bei uns bislang nicht gelesen worden, weshalb wir dies nur eingeschränkt beurteilen können).

Nichtsdestoweniger funktioniert Die Rote Herzogin auch eigenständig. Wir bekommen die ganze üble Pracht eines sowjetischen Arbeitslagers aufgezeigt. In jedem der 26 Kapitel begegnen wir verschiedenen Figuren und einem kleinen Mikrokosmos an Gestalten, die sich fast ausnahmslos in ihrer Grausamkeit das später anzustauende Dammwasser reichen können. Sympathisch wirkt in dieser Gesellschaft niemand, aber im Wissen darum, wozu Stalin sein Volk erzogen hat, erklärt sich vieles – und das spiegelt sich in dieser Geschichte ganz wunderbar wider.

Bild- und Lagersprache

Womit wir beim nächsten Stichwort wären: Bildsprache. Lavochkina (und ihre fabelhafte Übersetzerin Diana Feuerbach) versteht es meisterhaft, ihre Geschichte in Bildern zu transportieren und setzt gekonnt Metaphern ein, um ihre Story zu erzählen. Ob es die Umschreibung eines Grammophons ist oder die unterschiedlichen Stromschnellen, die den zu bändigenden Fluss Dnipro bewohnen (und als Metaphern für verschiedene Charakterausprägungen im sozialistischen System stehen dürften), die Autorin hat hier eine zauberhaft bildliche Darstellung für ihre Geschichte gewählt.

Ein Punkt allerdings, der so manch Sprachbewussten etwas sauer aufstoßen dürfte: Auch heute als rassistisch empfundene Begriffe mit N und Z tauchen in der Geschichte auf. Für viele ist das Buch damit automatisch ein No Go, aber gleichsam ordnet die Autorin den Gebrauch des heute zurecht als stigmatisierend empfundenen Vokabulars in ihrem Vorwort in die damalige Zeit ein und nutzt die besagten Begriffe auch nur an Stellen, an denen sie wirklich in den Kontext einer damals vorherrschenden Lagersprache „passen“. Ein solch umsichtiger Umgang mit der Sprache, der weder von vorauseilender Selbstzensur, noch von vorgegebener Unbekümmertheit gekennzeichnet ist, verdient Anerkennung.

Wirkmächtige Auseinandersetzung mit dem Roten Terror

So ist Die Rote Herzogin von Svetlana Lavochkina eine zwar grausame, aber gleichsam unterhaltsame und ungeschönte Illustration des tristen Alltags im stalinistischen Terror. In der bizarren und überzeichneten Figur der eigensinnigen, eigenwillig sanftmütigen und lebensbejahenden Ex-Herzogin Darja Katz finden wir so manch einen Widerspruch des Systems, aber auch die Gefahr des tiefen Falls in der Gnade des Diktators und seiner Schergen verkörpert.

Die Rote Herzogin ist somit eine wirkmächtige Auseinandersetzung mit einem Gesellschaftsbild, das Osteuropa für die nächsten rund 60 Jahre prägen sollte. Dass gerade die Energiegewinnungsanlagen am Dnipro ein knappes Jahrhundert, nachdem diese Novelle spielt, so im Fokus der Öffentlichkeit stehen, hatten vermutlich nur wenige vermutet und gehofft und doch finden wir hier wunderbar illustriert, welch grausames Gesellschaftsbild das ukrainische Volk vor rund 30 Jahren abgeschüttelt hat – und in welches es verständlicherweise nicht wieder usurpiert werden möchte.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Svetlana Lavochkina: Die rote Herzogin; Februar 2022; Aus dem Englischen übersetzt von Diana Feuerbach; Hardcover, gebunden; 128 Seiten; ISBN 978-3-8639-1323-6; Voland & Quist; 20,00 €

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