Baldiga – der selbstbewusste Egoist?

„Schön, schräg, hart, extrem, witzig, eigen“ so beschreibt der autodidaktische Künstler Jürgen Baldiga seinen Fotoband Etwas besseres als den Tod finden wir allemal, der nicht zuletzt auch für den Wahlberliner Baldiga überraschend in der Hochphase der Aids-Pandemie erscheint. Dünner als gedacht, fügt er an, aber auch: „Es ist gut, gut zu sein.“ Mit all diesen Aussagen ist im Grunde ebenfalls der tonale Kern der Markus Stein Dokumentation Balidga – Entsichertes Herz erfasst.

Das Leben, jetzt

Diese feierte ihre, uhm, gefeierte Premiere auf der 74. Berlinale in der Sektion Panorama, ist seit dem 28. November 2024 nun im Verleih von Salzgeber regulär im Kino zu sehen und kann zudem heute im Rahmen diverser Special Screenings zum Welt-Aids-Tag geschaut werden. Und dies zu tun, sei, unabhängig davon, ob ihr einen Berlin– und/oder Kunstbezug habt, ob ihr Boomer, Millennial oder Gen-Z-ler seid und ob ihr euch schon einmal mit der Situation schwuler Männer zur Hochzeit von HIV/Aids in Deutschland befasst habt, dringend empfohlen.

© Jürgen Baldiga/Salzgeber

Baldiga, der 1959 als „strammer Achtpfünder das Licht der Welt erblickt“ (so eine Selbstdarstellung aus 1992, auch folgende Zitate in diesem Absatz), kommt als Sohn eines Bergmanns aus Essen 1979 nach Berlin. „Broterwerb als Koch / Barkeeper / Geliebter / Prostituierte / Gelegenheitsarbeiter“, seit 1980 „die ersten Gehversuche in Richtung der schönen Künste Lyrik / Musik / Film / Performance.“ 1984 schließlich „lustvoller Erwerb einer Immunschwäche“ und seit „1985 Autodidakt in der Kunst der Fotografie. Seit 1989 vollends im Bilde oder besser: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“

„Durch und durch im kaputten Umfeld der Sehnsüchte.“

In Entsichertes Herz nähern sich Regisseur Markus Stein und Autor Ringo Rösener in verschiedenen Kapiteln dem unbedingten Leben und üppigen Werk Baldigas. Als er 1993 mit nur 34 Jahren aus dem Leben geht, hinterlässt er neben tausenden Fotografien (das Archiv liegt im Schwulen Museum) und 40 durchaus poetisch zu nennende Tagebücher. Auf diese stieß Rösener nun den Kollegen Stein, der sich wiederum begeistert zeigte. So startete ein aufwendiger Sichtungs-, Transkriptions- und Rechercheprozess.

Markus Stein im Salzgeber-Gespräch zum Film

Die Macher*innen schafften es dann tatsächlich für ihr Personen- und Zeitporträt wichtige Gesprächspartner*innen zu finden, vor allem einige, die Baldiga noch aus dessen Anfangsjahren in Berlin kannten (Bernd Gaiser und Juliette Brinkmann), Personen aus dem Umfeld das damaligen SchwuZ und „Ladies Neid“ – Ichgola Androgyn (Bernd Boßmann), Kaspar Kamäleon und Tima die Göttliche (Timo Lewandowsky) – bieten, Balidgas letzten, sehr sympathischen und natürlichen Partner Ulf Reimer sowie Jürgen Baldigas Schwester Birgit, die zunächst zögerte, sich aber doch für ein Interview entschied. Nicht zuletzt kommen Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen aus dem Auguste-Viktoria-Klinikum, das Baldiga zu Beginn der 1990er-Jahre häufiger zu besuchen hatte, zu Wort. Eine seltene, wichtige Perspektive!

Baldga und Partner Ulf // © Jürgen Baldiga/Salzgeber

„Stricher, Transvestiten, Geisteskranke, Alkoholiker.“

Etwas, das in dem durchaus breit aufgestellten Film, was bei nur neunzig Minuten Laufzeit durchaus mutig ist, dann doch ein wenig zu kurz kommt, ist der Schaffensprozess des Fotografen, dessen Bildern nicht selten etwas Schnappschusshaftes innewohnt. Die häufig so authentisch wie zufällig wirken. Dass dem nicht so ist, wird in der Dokumentation lediglich angedeutet. Genauer erklärt wird es von Regisseur Stein im Interview:

Markus Stein im Salzgeber-Gespräch zum Film
© Schwules Museum Berlin, Leihgabe Aron Neubert

Das in diesen wenigen Sätzen Vermittelte hätten wir gern auch im Film wiedergefunden. Dieser zeigt zwar in einer der wenigen fiktionalen Spielszenen, wie Baldiga (hier: Franziskus Claus) eine Szenerie arragniert, derweil der famose Spracher Maurice Läbe aus einem von Baldigas Tagebüchern zitiert, dass er geträumt habe, am Grabe Caravaggios rumgegraben, die Grabplatte weg und dafür den Schädel genommen zu haben. „Er war ziemlich klein. Was Caravaggio wohl für einen Schwanz gehabt hat? Tja, ist ja auch egal. Fragen über Fragen.“

„Dort fühle ich mich zu Hause.“

Eben auch jene, warum der Arbeitsprozess Jürgen Baldigas nicht mehr Einzug in Entsichertes Herz gehalten hat (auch wenn wir mit dem Künstler Salomé einem auslösenden Faktor begegnen). Dies aber nur ein kleiner Wermutstropfen in einer ansonsten sehr runden, beeindruckend vielfältigen Dokumentation. Die, wie erwähnt, zwar nach Kapiteln und im Kern auch chronologisch angeordnet ist, in der sich aber natürlich letztlich alles mit allem überschneidet und vieles einander bedingt. Selbstredend bekommen wir zahlreiche der Fotografien wie auch Originalseiten der Tagebüchere zu sehen.

© Jürgen Baldiga/Salzgeber

Hätte Baldiga ohne seine Erkrankung (der „Klarheit des Endes“) zu dieser Art semi-authentischer, doch absolut offener und sicherlich auch radikaler Form von Kunst gefunden (er bezeichnet es als „aggressive Art zu fotografieren“)? Im Teil „Triebe“, der ausschleißlich Läube als Baldigas Tagebuchstimme zu Wort kommen lässt, schreibt/spricht dieser davon, dass sein toller Arsch nun eine „Fallgrube des Todes“ ist, er am Leben festhalte (auch fotografiere um Zeit und Leben einzufrieren), nicht nachgebe. Der Mann sei für ihn Nahrung. (Was er nicht nur auf seine frühere große Liebe Eros bezieht, sondern auf die mann-männlich gelebte, versaute Sexualität im Allgemeinen.)

„Dort ist die Welt, die festgehalten werden muss.“

Baldiga hatte weiter Sex, auch ungeschützt, Safer-Sex-Partys und Kondome (die ihm und Partnern oft rissen) hin oder her. Allerdings, so betont er im Tagebuch, habe er diesen Sex nicht initiiert und immer mit offenen Karten gespielt. Dennoch mögen den engagierten Aktivisten, der später vom damals neugegründeten HIV e. V. betreut würde, derlei Aussagen für manche in ein schattiges Licht rücken. (Auch zu diesem und der Nptwendigkeit eines solchen Vereins wie der Angst teils schlecht informierten Krankenhaus- und Pflegepersonals gibt es Interessantes im Film.)

© Jürgen Baldiga/Salzgeber

So ist Baldiga – Entsichertes Herz auch in diesem Zusammenhang ein wichtiger Film, da er uns Grautöne nicht nur in den Fotografien der sagenumwobenen schwulen Szene (Westberlins) der wilden 80er– und irritierenden 90er-Jahre zeigt, sondern auch in den Menschen. Dazu darf diese Dokumentation als eine der ersten Aufarbeitungen der frühen HIV-Geschichte Deutschlands gesehen werden.

Zu Beginn der Dokumentation wird über Jürgen Baldiga und seine Fotografie gesagt, dass er sich einem Realismus verschriebe habe, „der natürlich auch dem einen oder anderen wehtat.“ Und insbesondere schwulen Männern „eine Wirklichkeit offenbarte, die sie wahrscheinlich in dieser Radikalität nicht wollten“. Ähnliches gilt auch für diese Dokumentation und gleichartig den Fotografien ist Konfrontation die beste Therapie. Also ab ins Kino!

JW

PS: Natürlich wird immer wieder Melitta Sundström erwähnt und gezeigt, bei einem Zitat aus den Tagebüchern bricht’s einem, einer beinahe das Herz.

Baldiga – Entsichertes Herz ist seit dem 28. November 2024 im Kino zu sehen. Zum heutigen Welt-Aids-Tag finden deutschlandweit diverse Special Screenings statt, Termine gibt es hier.

Baldiga – Entsichertes Herz, Deutschland 2024; Regie: Markus Stein; Buch: Ringo Rösener; Bildgestaltung: Florian Lampersberger; Mit: Bernd Gaiser, Juliette Brinkmann, Birgit Baldiga, Tima die Göttliche (Timo Lewandowsky), Ichgola Androgyn (Bernd Boßmann), Kaspar Kamäleon, Keikawus Arastéh, Volker Wierz, Manuela Merkel, Sakine Meral, Hermann Jansen, Ulf Reimer, Ingo Taubhorn sowie Maurice Läbe (Sprecher), Franziskus Claus (Baldiga), Jannis Veihelmann (junger Baldiga), Raphael Kaballo (Eros); Laufzeit ca.: 92 Minuten; FSK: 16; Eine Koproduktion der Hoferichter & Jacobs GmbH mit dem rbb gefördert von Mitteldeutsche Medienförderung, Medienboard Berlin-Brandenburg, Kulturelle Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern, BKM, DFFF, im Verleih von Salzgeber

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert