„Tatort“: „Besorgniserregende Asymmetrien“

Matthias Brandt als Tristan Grünfels im Tatort: Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blüh’n

Heute heißt’s Adieu für das seit 2014 in Frankfurt am Main ermittelnde Tatort-Team Anna Janneke (Margarita Broich), Paul Brix (Wolfram Koch) und Jonas Hauck (Isaak Dentler), der zu Beginn in Kälter als der Tod noch gar keinen Nachnamen hatte. In diesem 19. Frankfurter Tatort hat er längst einen, auch wenn Janneke und Brix ihn nach wie vor auf ihre widerstehlich uncharmante Art frotzeln. Ich hätte ja die Abteilung längst gewechselt, aber mensch kann nicht immer für sympathische Leute arbeiten.

Viele gute Köpfe

Für das Drehbuch des Team-Abschluss-Tatorts Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blüh’n, wie auch für den erwähnten Kälter als der Tod, zeichnet Michael Proehl verantwortlich, der für sein Buch zum Murot-Klassiker Im Schmerz geboren mehrfach ausgezeichnet wurde und auch am Buch von Oktoberfest 1900 mitwirkte. Als Co-Autor fungiert ein, wie es heißt, sehr kunstsinniger Dirk Morgenstern, der wiederum den im Oktober laufenden Tatort: Murot und das Tausendjährige Reich schrieb.

Tristan Grünfels (Matthias Brandt) und Tochter Senta Grünfels (Maja Bons) // © HR/Degeto/Bettina Mueller

Somit dürfen die Zuschauer*innen also durchaus einen recht besonderen Tatort erwarten. Dafür sprechen im Weiteren Regisseur Till Endemann (Lucy ist jetzt Gangster, Im Schatten der Angst) sowie die vom famosen Matthias Brandt verkörperte (!) Episodenhauptrolle des Psychologen und Opferbetreuers Tristan Grünfels. Dass weitere Nebenrollen mit Charakterköpfen wie Ronald Kukulies und Andreas Schröders besetzt sind, spricht ebenso Bände. Hier soll es einen großen Abschluss mit Knalleffekt geben!

Verwirrung und Missverständnisse plus Mord

Brandts Grünfels, dem geht es nicht so gut. Immer wieder hat er Aussetzer, führt Selbstgespräche und verliert mehr und mehr die Verbindung zu seiner ohnehin dysfunktionalen Familie. Sohn Eric (Niko Jungmann) raucht lieber Bong statt früh aufzustehen, den Künstlerfreund Ersun (Soufiane El Mesaudi) von Tochter Senta (Maja Bons) mag er ebenso wenig wie überhaupt moderne Kunst. Ehefrau Rosalie (Patrycia Ziolkowska) ist kühler als mein Wassereis und hat zudem wohl eine Affäre. (Ernsthaft: Selbstgespräche zu führen wäre hier noch meine beste Option. Allerdings sagt das Ich-Ich Grünfels‘ ihm in der ausführlichen, von Philipp Sichler fantastisch gefilmten Anfangssequenz, er entwickle eine schizophrene Psychose. Das ist wiederum nicht sooo gut.)

Ich sehe tote Menschen: Marion Schweikhardt (Melanie Straub) und Tristan Grünfels (Matthias Brandt) // © HR/Degeto

Nach dem ganzen familiären Stress am Morgen entdeckt Tristan Grünfels auf dem Sperrmüll Bilder, die ihm gefallen. Dafür parkt er… kreativ. Das ruft eine Ordnungsbeamtin (herrlich daneben: Melanie Straub) auf den Plan. Zuerst will er kurz diskutieren, zeigt ihr die schönen Bilder, über die sich sich lustig macht (und an einem kratzt sie rum, tststs) und mir nichts, dir nichts, ist die „gute Frau“ quasi versehentlich tot. Eigentlich will Grünfels nun zu der ihm bekannten Anna Janneke gehen und gestehen, doch dank (?) eines Missverständnisses denkt diese, er käme in seiner Rolle als Opferbetreuer zu ihr.

(v.l.n.r.) Jonas Hauck (Isaak Dentler), Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) begutachten Brix‘ Informanten // © HR/Degeto

Was zu der wunderbar abstrusen Situation führt, dass Grünfels wenig später Witwer Günther (Sascha Nathan) und Sohn Mick Schweikhardt (Charlie Schrein) der von ihm getöteten Frau zu beruhigen hat. Mehr und mehr ist er in den Fall involviert und obwohl sein Schizo-Ich ihm dazu rät, sich zu stellen, gelingt das nie. Was nicht zuletzt auch an Janneke liegt, die ihm irgendwie immer ins Wort fällt. In einer Parallelhandlung legt sich Brix mit der Rotlichtgröße Leonardo Muller (Ronald Kukulies) an, von dem er glaubt, dass er einen seiner Informanten hat töten lassen. Dieser Muller wiederum erpresst den Bruder Tristans, Hagen (Andreas Schröders), wegen dessen Spielschulden.

Ein Brandt-Tatort

Neben Grünfels eskalieren in Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blüh’n irgendwann auch all diese Verstrickungen. Witzig ist, wenn wir kurz darüber nachdenken, dass es zu keiner Eskalation hätte kommen müssen, wenn Janneke Grünfels zu Beginn hätte ausreden lassen. Andererseits scheint der Psychologe nicht so ganz sicher, ob er sich wirklich stellen sollte. Womöglich lässt sich das ja alles irgendwie gütlich klären?

Spoiler Alert: Tut es nicht.

Dieser Tatort ist voll und ganz auf Matthias Brandt zugeschnitten, was ihm guttut. Da, wie so oft, vor allem die Szenen, die Janneke und Brix gemeinsam im Fokus haben, eher cringe als binge sind. Brandt hingegen füllt seine Rolle oder Rollen vollkommen aus, fungiert zudem als Erzähler der Geschichte. Hier glänzt das Drehbuch von Proehl und Morgenstern, ist pointiert, feinsinnig, bissig, clever und weiß mit Ahnung und Befürchtungen zu spielen.

Leonardo Muller (Ronald Kukulies) // © HR/Degeto/Bettina Mueller

Auch die Verknüpfung der beiden Handlungsebenen um Tristan Grünfels und sein Dilemma sowie Muller und Hagen und dessen Dilemma funktioniert gut. Janneke und Brix sind eher im Abseits, ermitteln auch kaum. Sie werden an Tatorte gerufen, schließlich helfen Fingerabdrücke und den Rotlicht-Muller stalkt Brix eigentlich nur. Der Tipp, wie er ihn hochgehen lassen kann, kommt von auswärts.

Eskalation in der Kunst

Das Erste kündigt einen großen Showdown an und den gibt es in der Tat. Nach einer zwar ruhigen aber wichtigen und doch unterhaltsamen ersten halben Stunde mäandert der Tatort: Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blüh’n eine Zeit lang, nimmt im letzten Drittel seine abstruse Fahrt aber wieder mit guter Geschwindigkeit auf und wird besser und besser, je mehr Grünfels eskaliert. Zwar wohnt dem auch eine gewisse Tragik inne, doch letztlich schafft Grünfels es, inmitten der an Caspar David Friedrichs „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ angelehnten Videoinstallation Ersuns die langersehnte Ruhe zu finden.

Tristan Grünfels (Matthias Brandt) und Hagen Grünfels (Andreas Schröders) eskalieren deluxe // © HR/Degeto/Bettina Mueller

Vorher aber werden noch Nasen gebrochen, es wird geschossen, geprügelt, gelogen und gestorben. Am Ende darf die wunderbare Zazie de Paris noch kurz singen. Es gibt eine allzu gewollte und irgendwie peinliche Hommage an Lauren Bacall und Humphrey Bogart sowie die letzten, wirklich, wirklich schlecht gespielten Momente und leider auch schwach geschriebenen Dialoge von Anna Janneke und Paul Brix und boom, das war’s dann mit diesem Team Frankfurt, mit dem ich nie so recht warm werden konnte.

Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) – cringe, cringe, cringe // © HR/Degeto/Bettina Mueller

Ein Freund, dem es ähnlich geht, meinte kürzlich zu mir, wenn das oft so eher plump geschrieben und übertrieben theatralisch gespielt ist (Broich und Koch kommen halt auch vom Theater, das mag reinspielen) und Nuancen eher selten sind in diesen 19 Fällen – ob die ganze Nummer gegebenenfalls als eine Art Persiflage angelegt gewesen sei? Das denke ich nicht, dafür nehmen sich die Beteiligten in Gesprächen zum Tatort sowie auf Premieren, Festivals etc. doch zu ernst. Vermutlich meint mensch, da würden Krimi-Kunst oder Kunst-Krimis geschaffen (zu dem Thema gibt es demnächst die Rezension zu einem formvollendeten Roman). Was komisch ist, denn mit Ulrich Tukur und dessen Murot hat der Hessische Rundfunk seine Kunstnummer doch längst.

JW

PS: „Wie der is‘ im Winterurlaub? Wie lange? … Na, das hört sich ja eher an wie Winterschlaf.“

PPS: Co-Autor Dirk Morgenstern zum „Wanderer über dem Nebelmeer“: „Lustigerweise gab es das Bild in dem Buch schon, bevor der ganze Hype um Caspar David Friedrich mit den Ausstellungen und Florian Illies‘ Buch aufgekommen ist. Das hat uns in dem Gefühl bestätigt, wie stark das Bedürfnis der Menschen momentan nach Ruhe, Ausgeglichenheit und Stabilität ist und wie sehr Unsicherheit, Lärm und Wut in uns zurzeit tobt.“

Krisenstimmung: (v.l.n.r.) Anna Janneke (Margarita Broich), Paul Brix (Wolfram Koch), Rosalie Grünfels (Patrycia Ziolkowska) und Senta Grünfels (Maja Bons) // © HR/Degeto

PPPS: Ab 2025 startet ein neues Team beim hr-Tatort: Melika Foroutan (u. a. Die Kaiserin) und Edin Hasanović (zuletzt in NetflixSpieleabend) ermitteln künftig gemeinsam mit dem Fokus auf Cold Cases, ungeklärten Mordfällen und Tötungsdelikten aus der Vergangenheit. Neues Terrain also für die Tatort-Reihe. Wir sind gespannt!

PPPPS: Und kommende Woche schon der nächste Abschied: Dagmar Manzel verlässt mit dem Tatort: Trotzdem die Krimireihe auf eigenen Wunsch. Anschließend geht es im Polizeiruf 110: Wasserwege von Frankfurt an der Oder nach Eberswalde und dann begegnen wir Murot im Tausendjährigen Reich. Spannende und etwas andere Sonntagskrimiwochen!

Tristan Grünfels (Matthias Brandt) // © HR/Degeto/Bettina Mueller

Das Erste zeigt den Janneke-Brix-Abschieds-Tatort: Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blüh’n am Sonntag, 29. September 2024, um 20:15 Uhr; anschließend ist er für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blüh’n; Deutschland 2024; Regie: Till Endemann; Drehbuch: Michael Proehl, Dirk Morgenstern; Bildgestaltung: Philipp Sichler; Musik: Raffael Seyfried; Darsteller*innen: Margarita Broich, Wolfram Koch, Matthias Brandt, Patrycia Ziolkowska, Isaak Dentler, Maja Bons, Niko Jungmann, Andreas Schröders, Soufiane El Mesaudi, Ronald Kukulies, Zazie de Paris, Sascha Nathan, Melanie Straub, Charlie Schrein, als Gast Timothy Chandler; Laufzeit ca. 89 Minuten; eine Produktion des Hessischen Rundfunks (hr) im Auftrag der ARD Degeto Film für die ARD.

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