Bollerhomos

Der Verlust der Mutter als Teenager ist dramatisch. Anschließend zum nahezu unbekannten Vater, der die Familie vor etwa einer Dekade verlassen hat, um sein schwules Selbst zu leben und mittlerweile in einer Beziehung mit einem anderen Mann lebt, zu gehen ist sicherlich herausfordernd. Außerdem ist Pubertät. So sieht es aus, in Eine fremde Tochter der bereits 2019 gedreht worden ist, seine Premiere auf dem Filmfest Hamburg 2019 feierte und nun, zweieinhalb Jahre später, als Erstausstrahlung an diesem Mittwoch um 20:15 Uhr im Ersten zu sehen sein wird.

Neue Dynamik und Konflikte

Die 15-Jährige Alma (Hannah Schiller, Tatort: Parasomnia; Bis zum letzten Tropfen) funktioniert mit ihrer Mutter Carolin (Maja Schöne) auf Kumpelbasis, bis diese ihr sehr überraschend von der Seite gerissen wird. Durch das Engagement ihrer patenten Tante Franziska (Franziska Hartmann, Tatort: Tödliche Flut) zieht Alma statt zu den dezent reaktionären Großeltern zu ihrem Vater Oliver (Mark Waschke) und dessen Partner Felix (Wanja Mues; Tatort: Parasomnia). Mit ihr kommt all die Verlorenheit und Wut nach dem Verlust der Mutter, dem Herausgerissensein aus ihrem Leben, den Vater, der sich gegen sie, Mama und für das falsche Leben entschied. Dass bei dieser emotional komplizierten, aufgeladenen und dramatischen Gemengelage dennoch eine zwar nicht flapsige, aber doch leichtfüßige Erzählweise vorherrscht, ist einer der großen Pluspunkte von Eine fremde Tochter.

Alma (Hannah Schiller) macht Vater Oliver (Mark Waschke) und dessen Freund Felix (Wanja Mues) das Leben schwer // © NDR/Georges Pauly

Im Rahmen dieser werden natürlich große zwischenmenschliche Konflikte erzählt, es kommt auch ein Religionsfaktor hinzu, und klar ist, dass die Geschichte von Eine fremde Tochter eine universelle ist. Beziehung mit Aufs und Abs, Verlust, Annäherung, all dies sind Dinge, die in verschiedenen Konstellationen existieren. Partikular wird zwar auf diese eine schwule Beziehung von Oliver und Felix geblickt, in die die Tochter Alma tritt; das Hinzukommen eines neuen Familienmitglieds, das die Dynamik verändert, Konflikte offenlegt und auch für Brüche sorgt wiederum ist ein universelles Thema. Das an diesem auch noch Dinge wie sexuelle Selbstverleugnung und Abwertung von Menschen, die ja auch nicht nur nicht-heterosexuelle Personen betrifft, erzählt wird, ist wieder ein Pluspunkt.

Sorge, Neid und Wut

Wie das sichere Drehbuch von Daniel Nocke zu Beginn schnell einen Eindruck der Mutter-Tochter-Beziehung vermittelt, bevor uns der Rest dieser erzählt werden muss, ist ein weiterer. Bei Oliver und Felix gibt es mehr Momente, in denen wir die zwei miteinander agieren sehen und wir ein Gefühl für ihre Beziehung bekommen bevor Alma in ihr Alltagsleben tritt. In diesem ist es zuerst Felix, den sie als Bezugsperson wählt. Vermutlich, weil sie hier keine Rechnung offen hat und ihn als Kumpel sehen kann. 

Ihrem bemühten Vater gegenüber ist sie abweisend bis feindselig. Da spielen wohl natürlich der Verlust der Mutter, als auch die Wut, von ihm verlassen worden zu sein mit rein. Ebenso der Neid, Glück an anderer Stelle gefunden zu haben und, dadurch würde sich zum Teil auch ihre ausgeprägte, im Lauf des Films stärker hervortretende – oder sich entwickelnde – Abneigung gegen seine Homosexualität erklären, Sorge und Frust, nur das Alibi-Kind eines damals heimlich schwulen Profisportlers gewesen zu sein.

„Aber wenn man einzelne Situationen erlebt, ob die nun in Berlin oder in Dresden stattfinden, dann sind wir mit Sicherheit noch meilenweit entfernt von einer Gesellschaft, in der es keine Diskriminierung oder Gewalt gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung gibt. Der Film zeigt ja auch, wie Oliver als Leistungssportler seine Homosexualität verleugnen musste. Die Angst vor einem Coming-Out ist auch heute noch für viele Profi-Sportler ein Thema.“ – Mark Waschke im Presseheft auf die Frage: „Wie homophob ist denn unsere Gesellschaft?“

Mark Waschke

Der verlorene Vater

Früh in Eine fremde Tochter macht Alma klar, dass sie ihrem Vater nicht glaube, wenn er sagt, er habe es zuerst nicht gewusst oder nicht gesehen. Nun muss von einer 15-Jährigen nicht erwartet werden, dass sie die Verdrängungsmechanismen von Menschen, die in einem homofeindlich geprägten Umfeld, dazu noch im Leistungssport, aufwachsen und leben, durchdringt. Dennoch trägt Alma zuweilen eine Weltfremdheit wie eine Auszeichnung vor sich her, dass es schwerfällt, sie nicht einfach zu den entsetzlichen Großeltern zurückzuwünschen. Das ist schon bevor sie sich von ihrem Vater Unmögliches zum Geburtstag wünscht der Fall.

Auf Krawall gebürstet: Oliver (Mark Waschke, Mitte) (mit Wanja Mues, links) provoziert Almas Freund Johannes (Oskar Wohlgemuth, rechts) // © NDR/Georges Pauly

Allerdings wird auch nur angedeutet, welchen Einfluss die verletzte Mutter Carolin, Ex-Frau von Oliver, hier gehabt haben mag. Es klingt an, dass sie ihn, damit seine Lebensweise und somit nicht-heterosexuelles Leben per se verdammt und das weitergegeben hat; sein spätes Coming out definitiv nicht akzeptierend. So ist es nur folgerichtig, wenn Alma im Lauf des Films mit ihrem Mitschüler Johannes anbandelt, der sie über seine intakte Vater-Mutter-Kind-Familie an die Zeugen Jehovas und deren „Denk-“ und Lebensweise heranführt. Hier nun findet Alma quasi das ausformulierte Leitbild, um das sündige und verantwortungslose Leben ihres Vaters ablehnen UND begründen zu können, aber auch eines, um den Verlust der Mutter besser verarbeiten zu können. Mensch, toll. (Um übrigens mal kurz bei der Religion zu bleiben: Statt der Geschichte des verlorenen Sohnes, der heimkehrt, sich zu den Fehlern bekennt und um Verzeihung und Wiederaufnahme bittet, kann es hier der verlorene Vater sein, der in den Augen der Tochter in ihr Leben zurückkehrt, seine Fehler er- und sich zu diesen bekennen soll, um sich nun dem richtigen Leben zuzuwenden; daher auch erwähnter unmöglicher Wunsch, der an dieser Stelle nicht vorweggenommen werden soll.)

Schauspielerin Hannah Schiller meint im Presseheft übrigens: „Ich persönlich finde es sehr traurig, dass die Zeugen Jehovas und auch die katholische Kirche Homosexualität ablehnen, weil es das Gegenteil von dem ist, was Kirche tun sollte. Die Kirche sollte eigentlich ein Zufluchtsort sein für die Menschen, die von Teilen der Gesellschaft immer noch nicht akzeptiert werden.“ – Hannah Schiller

Alltägliche Sexualität

Dass ausgerechnet Felix, der selbst Almas Zuneigung zum Zeugen-Jehovas-Boy akzeptiert, der immer versucht Pfeiler zu sein, den verständnisvollen Part übernimmt, der geduldige Vermittler zwischen allem ist und den ganzen Kram toleriert, derjenige ist, der am Ende zwischen der Wutenergie von Vater, der seiner Tochter und der toten Ex-Frau gegenüber Schuldgefühle hegt, und Tochter zu zerbersten droht, ist spannend, dies geschieht schleichend, dann aber konsequent, ohne hier den Boden des Realistischen zu verlassen. Felix ist also nicht nur einfach diese dritte Person, die es für eine solche Erzählung braucht.

Den Boden des Realistischen verlassen wir nur in jenen Momenten, in denen Alma sich in eine Fantasiewelt flüchtet, die an die Ästhetik der biblischen Bilderwelt angelehnt ist, die in den Broschüren der Zeugen Jehovas zu finden sind, wie Regisseur Stefan Krohmer angibt. Das führt auch zu einem recht assoziativen Schluss, der im Rahmen der Erzählung Sinn ergibt, jedoch nicht alle Zuschauer:innen zufrieden machen dürfte.

Wobei, bei einem Film, der zur Hauptsendezeit eine homosexuelle Paarbeziehung, in der, wie Mark Waschke sagt „Sexualität auch einen Platz im Alltag hat“, selbstverständlich in die Wohnzimmer der Republik trägt, dabei eine Geschichte voller ambivalenter Figuren erzählt, vermutlich ohnehin verschiedene Menschen aus unterschiedlichen Gründen unzufrieden sein dürften. Oder um mit Wanja Mues zu schließen: „Wir Deutschen sind lange nicht so tolerant und weltoffen, wie wir denken.“

AS

PS: XXL-Glas-Oliven, gab’s auch letzte Woche bei Penny im Angebot.

Eine fremde Tochter wird am 9. März 2022 im Ersten ausgestrahlt, am 13. März um 20:15 Uhr auf one und ist noch bis zum 9. Juni 2022 in der ARD-Mediathek zu sehen.

Eine fremde Tochter; Deutschland 2019; Regie: Stefan Krohmer; Drehbuch: Daniel Nocke; Kamera: Armin Dierolf; Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas; Darstellende: Mark Waschke, Wanja Mues, Hannah Schiller, Franziska Hartmann, Maja Schöne, Oskar Wohlgemuth; Laufzeit: ca. 89 Minuten

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