Caipi für Populisten

Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich mit meiner damaligen Vermieterin Maria führte, als ich vor zehn Jahren für ein paar Monate in Brasilien lebte. Sie drückte die Sorge um ihr Land aus: die Fußballweltmeisterschaft stand im nächsten Jahr bevor, zwei Jahre später die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Dazu auch eine Präsidentschaftswahl, bei der die amtierende Präsidentin Dilma Rousseff erneut gewählt (und kurz darauf mit zweifelhaften Methoden mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt) werden sollte.

Sie hatte Angst vor einem permanenten Stillstand, vor einer zunehmenden Polarisierung und einer Spaltung der Gesellschaft. Und sie sollte recht behalten. Nicht durch Rousseffs Wahl und Abwahl, nicht durch den Interimspräsidenten Michel Temer, sondern spätestens durch den darauffolgenden Präsidenten, den rechtsradikalen Jair Bolsonaro, sollte diese Angst bittere Realität werden.

Ein Präsident spaltet

Bolsonaro hat das Land in seinen vier Jahren im Amt zwar nicht in einen Stillstand geführt, aber in die Spaltung, die auch sein Nachfolger (und Vorgänger Rousseffs) Luiz Ingnacio Lula da Silva nun versuchen muss zu überwinden. Wie Bolsonaro diese Spaltung des Landes vorangetrieben hat, arbeitet der Journalist und Autor Niklas Franzen in seinem Buch Brasilien über alles – Bolsonaro und die rechte Revolte auf, das im Verlag Assoziation A erschienen ist, heraus. Dieser wiederum war 2022 für den Berliner Verlagspreis nominiert.

Nun ist die Wahl des neuen Präsidenten etwa ein halbes Jahr her und Lula trat sein Amt zum Jahreswechsel an. Wieso sich also mit einem Buch beschäftigen, das bereits Anfang 2022 erschien und sich mit der Zeit beschäftigt, als noch nicht im Ansatz absehbar war, welches Ergebnis der Urnengang bringen würde? Ganz einfach: Niklas Franzen, der selbst lange Zeit in Brasilien lebte und von dort für die linkslastigen taz und nd (früher: Neues Deutschland) berichtete, illustriert sehr eindrücklich, was Bolsonaro in seiner Amtszeit angerichtet hat und wie sein Aufstieg überhaupt möglich war.

Eine Reportagensammlung

Brasilien über alles ist eine Sammlung von acht thematisch abgegrenzten, aber natürlich dennoch ineinandergreifenden Reportagen aus diesem größten Land Lateinamerikas. Er berichtet über den Weg Bolsonaros zum „Mythos“, zu dem er sich stilisiert hat, welche Rolle dabei soziale Medien oder evangelikale Fundamentalisten mit Abtreibungsaversion spielten und wie andere gesellschaftliche Gruppen wie Polizei und Sicherheitskräfte ihn unterstützten.

Gleichzeitig geht Franzen aber auf verschiedene Aspekte der brasilianischen Kultur und Gesellschaft ein, die diesen Aufstieg begünstigt haben und den Alltag vieler Menschen beherrschen. So ist Brasilien eines der Länder mit der größten gesellschaftlichen Ungleichheit, die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit. Das Erbe der portugiesischen Kolonialzeit und der daraus resultierende omnipräsente Rassismus sowie die rechte Militärdiktatur der 1960er bis 1980er-Jahre lasten schwer auf der Gesellschaft. Und dass der Amazonasregenwald dem Raubbau preisgegeben wurde, ist sogar bei uns bereits angekommen.

Bolsonaro war kein „Unfall“

All dies und noch vieles mehr arbeitet Niklas Franzen auf etwa 200 Seiten auf. Dabei schafft er es, in einem recht flüssigen Stil seine Inhalte zu vermitteln, viele unterschiedliche Facetten abzubilden und auch durch manch eine vermutlich gezielte Wiederholung Querverbindungen zwischen den einzelnen Themen zu schaffen. Bolsonaro, so wird klar, war kein „Unfall der Geschichte“ – genau so wenig wie beispielsweise Donald Trump einer in den USA war oder auch die lange unterschätzte Angela Merkel, die sich immerhin 16 Jahre an der Macht halten konnte (und politisch oder persönlich selbstverständlich nicht im Ansatz mit den beiden Populisten zu vergleichen ist). Die Wirkmechanismen des rechten Populismus arbeitet Franzen jedenfalls an diesem Beispiel aus den tropischen Breiten sehr gut nachvollziehbar heraus.

Besonders die gesellschaftliche Opposition zu Bolsonaros Zeiten – also Lulas und Rousseffs linke Arbeiterpartei PT, aber auch gesellschaftliche Akteure, Aktivistinnen und Aktivisten oder unterdrückte Einzelpersonen kommen bei Franzen immer wieder zu Wort und beispielsweise politische Morde arbeitet er gut auf. Es zeigt sich, dass er ein guter Kenner des Landes ist, der Lage, in der sich das Land befindet und viel im Land herumkam. Ach ja, dass er alle paar Seiten die unter Bolsonaro prekäre Situation von LGBTQI-Personen erwähnt und der Community somit Sichtbarkeit verschafft, ist natürlich ein sehr positiver Punkt. Frauen und andere unter dem Machismo leidende Gruppen finden natürlich ebenso stete Erwähnung.

Rasender Reporter

Allerdings sollte den Leserinnen und Lesern auch bewusst sein, dass sich Niklas Franzens persönliche Perspektive mehr oder weniger durchgängig durch Brasilien über alles zieht. Das klingt erst einmal selbstverständlich, aber bedarf dennoch einer Erklärung und Einordnung. Franzen schrieb und schreibt unter anderem für die taz; der Verlag Assoziation A versteht sich ebenfalls als Sprachrohr einer alternativen und linksaktivistischen Szene und ein Dank Franzens gilt der der Linkspartei nahestehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung – selbst wenn das Buchprojekt nicht durch diese, sondern durch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert wurde.

Das merken wir bei der Lektüre des Buches deutlich. Franzen nimmt stets die Perspektive der (tatsächlich) weniger Privilegierten ein, spricht bis auf einzelne Ausnahmen ausschließlich mit Aktivistinnen und Aktivisten aus dem linken Spektrum und Minderheiten verschiedener Couleur. Das ist per se in Ordnung, aber es ist auch ganz offen einseitig und, sorry für die Direktheit, auch tendenziös. Einordnende Stimmen von bürgerlicher oder liberaler Seite finden wir bei Franzen nicht. Und damit etwas einordnend ist, muss es nicht von der AfD oder aus Bolsonaros Beraterstab stammen.

1312!(?)

Wirklich alle, die eine andere Position vertreten als die eigene (oder die der gerade betrachteten Minderheit mit ihren in der Regel berechtigten Anliegen) werden von Franzen entweder mit Nichtbeachtung gestraft oder gar delegitimiert. Der Polizei oder allgemein Sicherheitskräften beispielsweise (und ja, Gewalt und Rassismus in der Polizei sind sowohl in Brasilien als auch im „Westen“ ein Problem – die Brutalität habe ich in meiner Zeit selbst erlebt) begegnet er mit der in der linken bzw. autonomen Szene üblichen fundamentalen Ablehnung des Systems, Kapitalismus ist ohne Wenn und Aber schlecht und die bösen Wirtschaftsbosse und Lobbyisten haben sowieso alles gekauft!

Die Argumente und Handlungsmechanismen dieses marxistischen Weltbilds sind bekannt und Niklas Franzen reproduziert sie in seinem Buch permanent – allein durch seine Auswahl an Themen, Perspektiven und Gesprächspartnern. Das ist auch in Ordnung, denn in der Tat liegt vieles in Brasilien und anderen Ländern, die unter einem populistischen Staats- oder Regierungsoberhaupt leiden, im Argen. Was das in Brasilien ist, legt Franzen auch sehr gut offen. Nur sollten Leserinnen und Leser wissen, worauf sie sich bei der Lektüre einlassen.

Aufarbeitende Ideologie

Wenn sie dies aber tun, dann erwartet sie bei Brasilien über alles eine zwar stark ideologisch gefärbte, aber deshalb nicht unbedingt schlechte Lektüre (selbst trotz der doch recht zahlreichen Tipp- und Flüchtigkeitsfehler). Niklas Franzen beschreibt, wie Brasilien in den Bolsonarismus abgleiten konnte, was dieser mit ihm gemacht hat und wo die gesellschaftlichen Bruchlinien verlaufen, die die Regierung unter Lula nun kitten muss. Dass mit diesem zu rechnen ist, hat er gleich zu Beginn seiner Amtszeit deutlich gemacht, als ein Sturm auf das Kapitol ähnlich wie in den USA (oder auch in Deutschland im Zuge der Coronapandemie) abgewehrt wurde.

Dass uns nicht unbedingt gefällt, was wir sehen, wie wir das nach vier Jahren Bolsonaro gehofft hatten, sehen wir allerdings heute auch, beispielsweise daran, dass Lula keineswegs so eindeutig auf der Seite „des Westens“ gegen Putin in dessen Krieg in der Ukraine steht. Ach ja, meine Vermieterin Maria träumte übrigens immer davon, nach Frankreich auszuwandern. Die Jahre unter Bolsonaro hätten ihr vermutlich genug Anlass dazu gegeben. Ob sie wirklich dorthin übersiedelt ist, weiß ich leider nicht – der Kontakt ist mittlerweile abgebrochen.

HMS

Niklas Franzen: Brasilien über alles – Bolsonaro und die rechte Revolte; Mai 2022; 208 Seiten; Paperback; ISBN 978-3-86241-492-5; Assoziation A; 18,00 €

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