Beitragsbild: Zoë Saldaña gibt als Anwältin Rita Vollgas // © Neue Visionen Filmverleih, Wild Bunch Germany
Als ich vor etwa zehn Jahren Freunde in Mexiko besuchte, wurde mir geraten, nicht alleine draußen herumzulaufen. Es sei zu gefährlich, dass etwas passiere. Damals habe ich das nicht so recht verstanden, war einigermaßen blauäugig. Aber selbstverständlich hatten meine Freunde recht, Gewalt, Entführungen, Verbrechen und Totschlag sind leider an der Tagesordnung.
Und natürlich das Drogengeschäft. In diese Umgebung ist Emilia Pérez, der aktuelle Film des Regisseurs Jacques Audiard, der mit Thomas Bidegain auch das Drehbuch verfasste, eingebettet. Der Film erzählt von Drogenboss Juan „Manitas“ Del Monte, der diesem Leben entfliehen möchte. Und dies nutzen möchte, um endlich ihr wahres Ich zu leben.
In-Transition
Ihr? Ja. „Der“ berüchtigte Manitas ist trans*, nimmt bereits seit einiger Zeit Hormone, wünscht sich allerdings eine vollständige körperliche Transition. In diesem Wunsch vermengen sich wohl Notwendigkeit des Verschwindens und der ober erwähnte Wunsch, wirklich sie selbst sein zu können.
Manitas engagiert die junge, starke, aber unterbezahlte Anwältin Rita Moro Castro (Zoë Saldaña), um dies in die Wege zu leiten und eine sichere Heimat für seine Frau Jessi (Selena Gomez) und die gemeinsamen Kinder zu finden. Da bietet sich doch ein Chalet in der Schweiz an. In ein solches wird die in Tränen aufgelöste Jessi ihrem Vernehmen nach „verfrachtet“.
Wiederkehr im neuen Gewand
Unmittelbar nach der Transition scheiden sich die Wege, bis die dank des Jobs für Manitas reich gewordene Rita einige Jahre später in London auf die titelgebende Emilia Pérez trifft, wie Manitas nach der Transition nun heißt (beide Figuren werden grandios, famos mit überbordender Stärke, auch Wut bei gleichzeitiger Nuanciertheit von Karla Sofía Gascón gespielt). Rita soll sich darum kümmern, dass Jessi und die Kinder aus der Schweiz zu Emilia nach Mexiko zurückkehren, wo sie ein normales Leben mit „ihrer“ Familie leben möchte. Dass sie Manitas ist/war, bleibt selbstverständlich geheim.
Überdies soll Rita sich um die neuen Geschäfte von Emilia kümmern: Mit dem Geld, das Manitas vor dem fingierten Tod auf Offshore-Konten geparkt hatte, hilft sie nun Angehörigen von Vermissten des Drogenkriegs, ihre verschwundenen Verwandten zu finden oder zumindest traurige Gewissheit zu erlangen. Mit schmutzigem Geld also etwas Gutes tun.
Trans*Drogenboss
Die Story von Emilia Pérez klingt auf den ersten Blick ziemlich abgedreht – auf den zweiten Blick auch. Ein geläuterter Drogenboss, welche*r eigentlich trans* ist und als Frau das Land aus dem Drogenkrieg retten will. Da dürfte manch eine*r wohl zuerst gesagt haben: Ihr hattet doch zu viel Rattengift im Stoff! Dazu sei erwähnt, der Film basiert auf dem Roman Ecoute von Boris Razon.
Und dennoch – oder gerade aufgrund der vermeintlichen Abgedrehtheit – überzeugt die Geschichte auf voller Länge, was einerseits an den hervorragenden schauspielerischen Leistungen aller Darstellenden liegt. (Karla Sofía Gascón gewann als erste offene trans*-Schauspielerin in Cannes den Preis als beste Darstellerin, gemeinsam mit Zoë Saldaña, Selena Gomez und Adriana Paz, die später im Film die Geliebte Emilias, Epifanía, spielt.) Andererseits aber auch an Audiards Regie (Preis der Jury in Cannes), Drehbuch, Kameraführung (Paul Guilhaume), dem Schnitt (Juliette Welfling) sowie den Kostümen von Virginie Montel.
Ganz besonders jedoch sind es die Musikelemente, die aus diesem Film zumindest zur Hälfte ein Musical machen. Die Kompositionen von Camille und Clément Ducol sind grandios und die Umsetzung durch die Schauspieler*innen könnte besser kaum sein. Angelegt irgendwo zwsichen Bodenständigkeit und Fantasie, Gesellschaftskritik und Utopie.
Stimm- und Sprachgewalt
Nur zwei Szenen gibt es, die Fragen offenlassen und nicht ganz in den Rest der Erzählung passen: Das dramatische, druchaus spannende Ende wirkt im Gegensatz zu dem bis dato erfolgten Filmaufbau etwas gehetzt und verhältnismäßig wenig durchdacht. Und bei einem Fundraising Dinner gibt Rita ihre Abneigung gegen das schmutzige Geld der korrupten Eliten stimmgewaltig zu Protokoll, aber gegen die Drogen-Millionen von Manitas hat sie nichts einzuwenden. Wobei Letzteres auch durch eine persönlich-freundschaftliche Zuneigung zu erklären sein könnte oder dadurch, dass Manitas als Drogenboss offen für „das Böse“ stand, wohingegen bspw. der korrupte Staatsanwalt das vermeintlich Gute verkörpert.
In einem ansonsten sehr stimmigen Film ist das nicht ganz einzuordnen, im Vergleich zu manch anderem Problem diverser Filme ist dies allerdings eine Kleinigkeit. Keine Kleinigkeit jedoch sind die deutschen Untertiel. Gerade solch kreative Elemente wie Musicalsongs passabel ins Deutsche zu übertragen, ist eine Kunst für sich und auch wenn das an manchen Stellen etwas freier umgesetzt ist, ist es in der Regel doch sehr auf Punkt.
Eine eigenwillige Melange, die aber schmeckt
Emilia Pérez ist der französische Anwärter für den Auslandsoscar 2025 und das mehr als verdient. Der Film erzählt die unwahrscheinliche und doch berührende Geschichte einer trans*Frau, die aus den wohl unwirtlichsten Umständen kommt, die wir uns vorstellen können. Der Film ist grandios gemacht, vereint vom Leben einer trans*Frau über den Drogenkrieg in Mexiko bis zum Leid der Angehörigen eine Reihe von Themen, die so zunächst einmal gar nicht zueinander zu passen scheinen.
Die Erzählform in Teilen als Musical setzt dem Ganzen die Krone auf, denn die Musik und die Einlagen der Akteure sind auf den Punkt. Dass mit Karla Sofía Gascón eine spanische trans*Schauspielerin, die selbst einen Bezug zu Mexiko hat, eine der beiden Hauptrollen spielt, gibt dem gesamten Film noch einmal eine zusätzliche Wirkung. Ein wahrlich großer Film mit gewaltiger Wucht, der nahezu durchgängig zu überzeugen weiß.
HMS, AS
PS: Ein kleiner Auftritt von Die Zweiflers‚ Mark Ivanir freut sehr!
Emilia Pérez startet am Donnerstag, 28. November 2024, im Kino.
Emilia Pérez; Frankreich 2024; Regie: Jacques Audiard; Drehbuch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain, basierend auf dem Roman Ecoute von Boris Razon; Bildgestaltung: Paul Guilhaume; Musik: Camille, Clément Ducol; Darsteller*innen: Zoë Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz, Édgar Ramírez, Mark Ivanir.; Laufzeit ca. 130 Minuten; FSK: 12;
Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun. Vielen Dank!
Comments