„Das Jahr der Nullen“

Das Ruhrgebiet mag den meisten Deutschen nicht gerade wie eine Perle vorkommen. Ein großer, schmutziger Moloch, Überreste des Kohlebergbaus und soziale Brennpunkte scheinen sich wie eine Perlenkette aneinanderzureihen Und wahrscheinlich gibt es hierzulande Gegenden, in denen mensch lieber leben möchte.

Dabei wird aber oft übersehen, dass die Gegend auch eine besondere Kultur hat und mehr Grün als manche sich denken mögen. Vor einem Jahrhundert aber war das Ruhrgebiet so etwas wie unser Tafelsilber. So wertvoll, dass die Franzosen beschlossen, es 1923 gemeinsam mit großen Teilen des Rheinlands zu besetzen und die ausstehenden Reparationen der Weimarer Republik beizutreiben.

Für den britischen Historiker Mark Jones ist diese Besetzung so etwas wie die Urkatastrophe des Jahres 1923 – Ein deutsches Trauma, wie er sein im Propyläen Verlag erschienenes Buch genannt hat. Die deutsche Übersetzung des an die 400 Seiten umfassenden Buchs ist von Norbert Juraschitz.

In Monatsscheiben durch das Jahr

In zwölf Kapiteln zuzüglich Pro- und Epilog führt uns Jones durch die Geschichte eines Jahres, das sich vermutlich deutlich mehr in unser Gedächtnis eingebrannt hat, als wir das mit der konkreten Jahreszahl verbinden. Ruhrbesetzung und Rentenmark, Hitler-Putsch und Hyperinflation sind Begriffe, mit denen viele etwas anfangen können. Passiver Widerstand und rheinischer Separatismus vielleicht nicht ganz so sehr.

In Monatsscheiben führt uns Mark Jones durch dieses traumatische Jahr, wobei er bereits im Sommer 1922 beim Mord an Außenminister Walther Rathenau ansetzt und uns einen ausführlichen Einblick in die damals vorherrschende Gemengelage gibt. Februar und März sind dagegen in einem der in der Regel um die 20 bis 30 Seiten zählenden Kapitel zusammengefasst – nur das einführende ist deutlich länger.

Große und kleine Geschichten

Jones ist es dabei wichtig, sowohl auf die großen, nationalen und internationalen Entwicklungen und Kausalketten einzugehen als auch auf die eine oder andere individuelle Erfahrung. Ob es der äußerst beschwerliche oder vielmehr prekäre Alltag in der Gesellschaft ist, die durch Hyperinflation geplagt ist und sich nichts zu essen leisten kann, das Leid vieler Menschen – vor allem Frauen – unter sexuellen Übergriffen der Besatzer in Westdeutschland oder der auch auf kleiner Ebene deutlich anschwellende Antisemitismus: Wir erfahren häufig auch von grausamen Einzelschicksalen, die exemplarisch für so viele weitere stehen.

Aus dieser Perspektive ist 1923 ein überaus wohl austariertes Gesamtwerk, das sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene zeigt, wie jenes Jahr Deutschland, sein Volk und seine Identität geprägt hat, zum Guten wie auch zum Schlechten. Dadurch dass Jones so viele verschiedene Probleme, Themen und Entwicklungen anspricht und häufig auch miteinander verwebt, bekommen wir hier ein sehr eindrucksvolles Abbild einer Gesellschaft, die vor hundert Jahren auf dem Boden lag – und können vielleicht umso mehr verstehen, wieso sie im Anschluss so verzweifelt versuchte, wieder aufzustehen.

Die internationale Perspektive

Auch die internationale Arena lässt Mark Jones nicht außer Acht. Das gilt selbstverständlich für Frankreich, das mit der Ruhrbesetzung und deren Auswirkungen natürlich zu einem wesentlichen Faktor in der deutschen Geschichte jenes Jahres wurde. Das gilt aber auch für das Vereinigte Königreich und ein Stückweit Italien und die Vereinigten Staaten von Amerika.

Was jedoch erstaunlicherweise kaum vorkommt – lediglich im Auftaktkapitel, als es um den Vertrag von Rapallo geht – ist das sowjetische Russland. Im Vertrag von Rapallo haben Deutschland und Russland die Welt mit einem diplomatischen Coup überrascht, ohne den viele Ereignisse des Jahres 1923 wohl nicht geschehen wären (Stichwort: Urkatastrophe). Dass aber die deutsch-russischen Beziehungen des Jahres 1923 so gar nicht mehr auftauchen mögen, erstaunt ein Stückweit. Jones könnte in diesem Bezug eine gewisse Einseitigkeit konstatiert werden.

Spaltungen

Dieses Füllhorn an Themen ist eindrucksvoll. Und neben den genannten geht es darüber hinaus um Probleme mit den schwierigen Regierungen in Sachsen und Bayern (ja, schon vor 100 Jahren war das manchmal ziemlich komplex), den damit und auch im Rheinland aufkeimenden Separatismus, der immer deutlicher zutage tretende Antisemitismus, die Folgen des Versailler Vertrags oder die Arbeitskämpfe um Achtstundentag, Generalstreik und den weitreichenden gesellschaftlichen Widerstand gegen die Franzosen.

All dies führe zu einer Ausbildung von Fliehkräften und einer politischen Gemengelage, die die Weimarer Republik und ihre drei Kanzler des Jahres in eine Krise nach der nächsten stürzte. Wie es dazu jeweils kam, welche Auswirkungen sich auch längerfristig zeigten und wie dies die deutsche Seele bis heute prägt, das arbeitet Jones in seinem Buch sehr gut und nachvollziehbar heraus.

Im Korsett

Eine weitere Schwäche findet sich dann aber doch: Sein Monatskonzept will nur bedingt aufgehen. Auch wenn er sich gerne ein bestimmtes Ereignis herausgreift, das exemplarisch oder vielleicht folgenschwer war, manche Dinge lassen sich eben nicht unbedingt in ein Monatskorsett zwingen. Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gab es in allen Monaten, antisemitische Übergriffe ebenfalls.

Gleichzeitig fällt diesem Monatsmodell einige Male zum Opfer, dass manche Entwicklungen sich eben über eine längere Dauer hinweg ziehen. Wenn er aber in einem der letzten Abschnitte seines letzten Kapitels (Dezember – welch Überraschung) ganz zum Schluss erst einmal nachholt, was im Oktober und November zu internationalen Ent- und Verwicklungen führte, die sich im Dezember ausspielen, in den jeweiligen Monatskapiteln aber keine Erwähnung finden, ist das zwar nicht schlimm, aber es führt sein Konzept ein wenig in die Irre.

Ein schicksalhaftes Jahr

Das ist schade, denn an sich haben wir mit 1923 -Ein deutsches Trauma ein sehr informatives und anschauliches Portrait eines schicksalhaften Jahres für Deutschland und die Welt vorliegen. Mark Jones informiert uns über ein Jahr, das als eines der wohl bewegten in die deutsche Geschichte eingegangen ist, selbst wenn wir vieles nicht unbedingt mit jener Jahreszahl in Verbindung bringen.

Und auch, wenn es hier die eine oder andere Schwäche gibt, ist seine Studie dennoch ein sehr lehrreiches Werk, das uns gerade in der heutigen Zeit eine Mahnung sein sollte. Die Inflation ist im Jahr 2022 auf lange ungekannte Höhen geklettert, Reichsbürger planten einen Putsch im politischen Berlin, Friktionen im internationalen System – Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie Chinas angestrebter Aufstieg zur Weltmacht –, und mit den Nachwirkungen einer Pandemie haben wir auch heute wieder zu kämpfen. Nie hätte also ein Rückblick auf das Jahr 1923 wichtiger sein können und Mark Jones gewährt uns in seinem Buch hierzu einen sehr eindrücklichen Einblick.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Mark Jones: 1923 — Ein deutsches Trauma; Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz; Mai 2022; 384 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-549-10030-1; Propyläen Verlag; 26,00 €

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