„Den Anfeindungen und dem Unglauben nicht nachgeben.“

Dieser Satz stammt nicht etwa von einem alten weißen Mann. Nicht von jungen Incels. Nicht aus einem Schreibwerk der 10er- oder 20er-Jahre (Jahrhundert individuell). Nein, er ist ein Zitat aus Mareike Engelhardts Regiedebüt Rabia – Der verlorene Traum, in dem es um eine von Frankreich nach Raqqa, Syrien, auswandernde Neunzehnjährige geht, die meint inmitten des sogenannten Islamischen Staats ihr Glück und ihren Seelenfrieden zu finden. Heute startet er im Kino und nicht selten wundern wir uns, mit welcher Genauigkeit dieser schockierende Film Inneres wie Äußeres zu erkunden versteht.

„So wird der politische Kontext…“

„Die UN schätzt, dass sich seit 2013 mehr als 42.000 Personen aus 110 Ländern dem Islamischen Staat in der irakisch-syrischen Zone angeschlossen haben. Fast 25.000 Kinder wurden dort geboren. Rückholversuche scheitern an der Politik der Regierungen ihrer Herkunftsländer oder an der Weigerung der Mütter, Syrien zu verlassen. Der IS profitiert davon. Eine neue Dschihadisten-Generation wächst heran“, so lesen wir es in den Pressenotizen und auf Texttafeln zum erdrückenden Ende Rabias.

Jessica (Megan Northam) und Laïla (Natacha Krief) machen mit den Terror-Twins (Klara und Maria Wördemann) ein Selfie // © 2024 FilmsGrandHuit

Die junge Frau, die später Rabia heißen soll, reist noch als Jessica (famos: Megan Northam) gemeinsam mit ihrer besten Freundin Laïla (Natacha Krief) nach Syrien, um sich dem IS anzuschließen. Angelockt vom Versprechen auf ein besseres Leben, voller Liebe, Siege und für die vermeintlich richtige Sache sitzen die beiden Altenpflegerinnen wie auf einer Klassenfahrt erwartungsfreudig im Flieger. In Raqqa angekommen, werden ihnen Pässe, Handys, Schmuck und Kleidung abgenommen und die Frauen in eine Madafa geführt.

Dieses von der „Madame“ (grandios: Lubna Azabal) geleitete Haus ist für zukünftige Ehefrauen von IS-Kämpfern bestimmt. Angesiedelt irgendwo zwischen Schullandheim, Bordell und Radikalisierungsstätte. Es gilt strenge Regeln zu befolgen: Vom Beten und Huldigen der Kämpfer sowie deren vermeintlicher Siege über die Auswahl von Halāl-Dessous zu Vorstellungsrunden. Jessica und Laïla sind bester Dinge. Doch als Akram, der Mann, dem die Mädchen versprochen waren, im Kampf fällt bzw. im Rahmen der religiösen Ideologie zum Märtyrer wird, ändert sich ihr Schicksal abrupt…

„…zu einem dramaturgischen Rahmen,…“

Dieses Schicksal der beiden jungen Frauen steht in Rabia exemplarisch für viele, die vom westlichen Alltag frustriert auf die islamistische Propaganda mit viril-charmanten Kämpfern im Netz hereinfielen. Ihre Motivation, sich dem IS anzuschließen, sei dabei weniger religiös oder politisch als psychologischer Natur, so Regisseurin Mareike Engelhardt, die um die zehn Jahre intensiv für ihr Drama recherchierte. Was jedoch nicht bedeute, dass diese Frauen nicht genauso engagierte, fanatische Verteidigerinnen dieser mörderischen Ideologie sein könnten wie die Männer.

So sprach Engelhardt über die Jahre mit mehreren aus Syrien zurückgekehrten Frauen sowie mit den beiden französischen Expertinnen für weiblichen Dschihadismus, Céline Martelet und Edith Bouvier. In den Erzählungen, den geschilderten Erlebnissen, sei es um Abschottung von der Außenwelt sowie Weltanschauungen gegangen, die auf Hass und Ausgrenzung, Rache und Angst beruhten. „Ich hatte dieses Treffen veranlasst, um herauszufinden, warum eine junge Frau, die in einer demokratischen Gesellschaft lebt, in der sie größte Freiheiten genießt, sich einem totalitären System anschließt, das eine mörderische Ideologie vertritt, die ihr alle Freiheiten nimmt.“

„…innerhalb dessen ich die menschlichen Beziehungen auslote.“

Regisseurin Mareike Engelhardt // © 2024 Starhaus

Nach und nach arbeitet Engelhardt durch diese Gespräche ihre zentralen Fragen heraus. Unter anderem danach, wie es möglich sein kann, „von einem System absorbiert zu werden, das einem die Menschlichkeit raubt? Und vor allem: Warum bleiben die Menschen dort und brechen nicht aus?“ Diesen Prozess der Absorbierung beschreibt Rabia anhand der Titelfigur so eindrücklich wie erschreckend. Die Rabia, die wir am Ende des Films sehen, ist definitiv nicht mehr die Jessica vom Anfang.

Ein weiteres wesentliches Motiv des Dramas ist es, zu zeigen, welche Gewalt Frauen Frauen antun können. Es sei ihr ein feministisches Anliegen zu zeigen, dass Frauen genauso schuldig sein könnten wie Männer. Komplexe Frauenfiguren in all ihrer Ambivalenz zu zeigen, das sei ihr wichtig. Neben Rabia und Madame sehen wir diese etwa auch in den Terror-Twins Uum Mikail (Klara Wördemann) und Uum Mansour (Maria Wördemann), bei denen es von einfühlsam lächelnd zu brutal schlagend nur einen Augenaufschlag braucht.

Die Gespräche, die Romane füllen könnten, setzten Engelhardt und ihr Co-Autor Samuel Doux schließlich in ein Drehbuch um, das zu einem recht kompakten Film wurde. Kompakt kann genauso auf die Handlungsfläche bezogen werden: Bis auf ganz wenige Ausnahmen, spielt sich alles in der Madafa ab. Ein insofern schwieriges Unterfangen, als dass keine Aufnahmen vom Inneren einer solchen existieren. So zimmerten sich die Macher*innen und Ausstatter Dan Bevan „ihre Madafa“ aus den Erzählungen der Frauen zusammen und bilden so die innere Hierarchie dieser Reproduktionsfabrik ab, die von Kamerafrau Agnès Godard staubig eingefangen wird. Vom untersten Teil, wo die jesidischen Sklav*innen hausten, bis zu den oberen Geschossen, in denen die Madame in weitläufigen, schön möblierten und edel ausgestatteten Räumen residierte.

„Indem Ihr dem Kalifat Kinder schenkt,…“

Dieser Madame liegt übrigens die real existierende, berüchtigte Fatiha Mejjati zugrunde. Diese leitete als Uum Adam Mitte der 2010er-Jahren mehrere Madafas und gewann als Witwe eines der Mitbegründer einer marokkanischislamischen Kampftruppe und Mitglied von Al-Qaida, Karim Mejjati, viel Einfluss und vor allem Geld. In Rabia heißt es, wenn es um Bestrafung von sündigen Frauen geht, etwa: „Verschone ihr Gesicht. Sie verlieren an Wert, und ich verliere Geld.“

Madame (Lubna Azabal) auf dem Dach der Madafa // © 2024 Omar-Rammal FilmsGrandHuit

Madame, die durchaus überzeugt von dieser wie jener Sache scheint, steht also exemplarisch für eine perfide Doppelmoral. Genau wie ein europäischer Dschihadist (Adranic Manet), der hier und da mal für seine Belohnung auftaucht. Übrigens ist das kammerspielartige Grauen bis in die kleinsten Nebenrollen stark besetzt und schauderhaft überzeugend gespielt. In kleinen Rollen tauchen etwa auch Lena Lauzemis sowie Lena Urzendowsky (an diesem Sonntag im Saar-Tatort zu sehen) auf.

„…werdet Ihr dieses Heilige Land zum Blühen bringen.“

Rabia – Der verlorene Traum sei weder ein Werk über den Islam noch den Dschihad, sondern über Massenmanipulation, die Mechanismen der Entmenschlichung und die Frustration einer Jugend ohne Orientierung, so Engelhardt. Ein Film, der zeige wie Opfer zu Täterinnen würden. Einer, der daran erinnere, wozu Menschen fähig seien. Der die Zuschauer*innen auffordere, das eigene Entscheiden und Handeln zu überdenken. Das kann ich alles so nur unterschreiben.

Damit trifft Rabia nicht nur zu einem Zeitpunkt ein, an dem wir vermehrt Radikalisierung diverser Individuen und Ideologien zu verzeichnen haben, sondern auch kurz vor dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Zwar gehe es Mareike Engelhardt nicht darum, Vergleiche zwischen dem islamistischen Terrorismus und dem Nationalsozialismus zu ziehen. Vielmehr solle der Film daran erinnern, „dass diese Frauen unsere Kinder, Töchter, Nachbarinnen sind und ihr Handeln nichts mit einer Religion zu tun hat, sondern eine klare Dysfunktionalität unserer Gesellschaft aufzeigt. Gemeinsam müssen wir uns dieser stellen, statt davor zu fliehen.“

Word. Rabia ist ein guter, wenn auch unangenehmer Schritt in diese Richtung.

AS (mit Pressematerial)

PS: Texttitel aus einer Propagandarede in Rabia; Zwischenüberschriften eins bis drei von Mareike Engelhardt und vier wie fünf Zitate von Madame aus dem Film.

Rabia – Der verlorene Traum startet am heutigen Donnerstag im Kino.

Rabia – Der verlorene Traum; Frankreich, Deutschland, Belgien 2024; Regie: Mareike Engelhardt; Drehbuch: Mareike Engelhart, Co-Autor Samuel Doux; Bildgestaltung: Agnès Godard; Musik: David Chalmin; Darsteller*innen: Megan Northam, Lubna Azabal, Natacha Krief, Maria Wördemann, Klara Wördemann, Lena Lauzemis, Lena Urzendowsky, Andranic Manet; Eine Produktion von FILMS GRAND HUIT in Koproduktion mit STARHAUS FILMPRODUKTION, KWASSA FILMS, ARTE FRANCE CINÉMA, RTBF, BESIDE PRODUCTIONS, F COMME FILM, MEMENTO PRODUCTION; im Verleih von Alpenrepublik

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert