Der Teufel steckt in den Gedankenrädchen

Vor einiger Zeit veröffentlichten wir eine Besprechung, in der es hieß: „Ähnlich entscheidend dürfte die Situation sein, in der Leserinnen und Leser sich Allein zur Hand nehmen“ und dass das Buch nach Laune sehr unterschiedlich gelesen und bewertet werden dürfte. Das kam, sagen wir mal hier und da nur bedingt gut an; auf irgendeinen Schlips hat unser Herausgeber Hans, der die Besprechung schrieb, da getreten. Schade, war es doch nur die Wiedergabe ehrlicher Empfindungen. Aber jene sind es wohl, die manche Brüche erzeugen können.

„Die Welt war ein Friedhof…“

Brüche gibt es auch in Kaśka Brylas zweitem Roman Die Eistaucher, der kürzlich im Residenz Verlag erschienen ist. Brüche im Stil, im Tempo, in der Sprache, in der Zeit, in der Moral, in den Freundschaften, in den Persönlichkeiten. Dabei ist es so ein Buch, das Leser:innen als eine spannende Herausforderung, interessante Leseexpedition und radikalen Charakterkrimi oder als überbordende Geschichte von an sich selbst und der verständnislosen Umwelt leidenden Teenies mit irgendwas Existenziellem und Romantik und ein bisschen Gewalt und so empfinden können.

Dabei kommt es nicht nur stark darauf an, aus welcher Lesewelt mensch kommt, sondern vor allem wohl auch, in welcher Situation und Stimmungslage sich dem Roman um einen mehr oder weniger unerwarteten Freund*innenkreis gewidmet wird. Iga, eine eher introvertierte, aber nicht unbedingt zurückhaltende Skaterin, die nach mehreren Schulwechseln auf einer katholischen Privatschule landet (Hey, OC, California, du durchwachsene aber weithin unterschätzte, wertvolle Soap), findet schnell die vergleichsweise unprätentiöse Klassenschönheit Jess („Guten Geschmack mit Snobismus gleichzusetzen, war ebenso unqualifiziert, wie Stil mit Stilisierung zu verwechseln.“) interessant und frisst ebenso eine Närrin an Ras, der ebenfalls neu, mit Minderwertigkeitskomplexen, Unsichtbarkeit und einem wachsendem Müllhaufen zu kämpfen hat. 

„…und Gerechtigkeit lediglich ein Konzept.“

Dazu gehören noch der Schöne Sebastian und der Rilke-Rainer, die aber eine weniger wichtige Rolle spielen werden, wenn sie auch eine durchaus notwendige Perspektive im Verlauf einer inhaltlich schwankenden und moralisch ambivalenten Handlung einbringen. Oder anders: Kaśka Bryla wird diese Figuren schon nicht aus Versehen in die Geschichte eingebunden haben. Wobei das auch witzig wäre.

Dazu gesellt sich auf einer zweiten Handlungsebene noch Saša, mit dem wir auch in Die Eistaucher einsteigen. Er lebt auf einem abgeschiedenen Campingplatz, den zum Saisonende noch ein irgendwie Fremder aufsucht, dessen Namen wir später erfahren sollen, der aber im Grunde keine Rolle spielt. Dieser Fremde dafür umso mehr, kommt er doch, um Dinge für sich ins Reine zu bringen. 

Saša ist noch immer ein enger Freund Igas, vielleicht nicht mehr deren bester Freund; früher, in der Handlungsebene zur Zeit der Privatschule war er es jedenfalls. Das ist einer der Töne des Romans, den wir mal frei nach Magnolia wiedergeben wollen: Der Mensch mag mit der Vergangenheit abgeschlossen haben, die Vergangenheit aber nicht mit ihm. 

„Aus dem Nichts heraus“

Offensichtlich springen wir also in der Zeit. Es gibt kurze Kapitel mit Saša und Co. in der Gegenwart und längere, die die Zeit des Damals abdecken. Und wie es dazu kam, dass diese Gruppe, eine Avantgarde, erschüttert und zer- und auseinandergerissen wurde. Das mag nun alles sehr kryptisch klingen, was es auch ist; der größte Teil des Romans ist kryptisch, da Bryla zu einem großen Teil auf den Ausfüll- und Interpretationswillen der Leser:innen setzt.

Darüber hinaus hält der Rezensent den Klappentext für ziemlich misslungen, da er den Eindruck einer prompt eintretenden Situation erweckt und damit eben auch eine Erwartungshaltung, die so manche:r nicht erfüllt sehen mag. Was schnell zu Missverständnissen und einer weniger guten Wahrnehmung der verschachtelten, aufwühlenden und emotional komplexen Geschichte führen kann. Wenn es auch, was in einer Story, in der es auch um Zeitreisen geht, nicht frei von Ironie ist, manches Mal Probleme mit dem Timing gibt; Vor- und Rückschau fügen sich nicht immer nahtlos, das mögen andere aber anders sehen.

„Ein Wollen, das sie nicht gekannt hatte“

Ansonsten sind diese zu füllenden Lücken uns überlassen. Es geht darum, wie wir die Dinge wahrnehmen; Iga, die mehr oder weniger unglücklich aber eigentlich doch zufrieden und irgendwie auch selbstbestimmt und vor allem forciert in Franziska Fellbaum verliebt ist, richtet mehr Fragen an sich selbst und damit uns, als dass sie sie zu beantworten bereit oder in der Lage wäre. 

Was interessant ist, da gerade Iga ein Logik-Genie ist und sich eher kaum in die Schranken weisen lässt, eine Persönlichkeit besitzt, die Leute einzunehmen scheint (was zu einem hochgradig spannenden, eher unterschwellig stattfindenden Dauerkonflikt mit dem Rilke-Rainer führt), Menschen aus der Reserve lockt und sie mit längst vergessen geglaubten Traumata konfrontiert.

Hmpf. Schon wieder etwas kryptisch?! Stimmt, stimmt. Das Problem hierbei ist, zu viel von dem preiszugeben, was in Die Eistaucher geschieht, wie sich Ereignisse anbahnen, andeuten und immer wieder metaphorisch eingerahmt werden und wie der Rezensent all das interpretieren würde, verdürbe eben die mögliche Spannung und freudige Herausforderung beim Lesen. Etwas, das, wenn Die Eistaucher hier richtig verstanden worden sind, auch keiner der allesamt verschrobenen Figuren gefallen dürfte.

„Solange es jemanden zu beschützen gibt,…“

Dazu bringt Bryla noch einiges an Literatur und Schreibkunst ein, siehe Rilke-Rainer, erweitert dies gern dezent süffisant kommentiert um nicht wenige psychologische Komponenten und verschmilzt das Ganze zu einer recht zeitlosen Bestandsaufnahme des Wesens von Jugendlichen, die eigentlich schon einen Ticken zu reif für ihre Umgebung und den ihnen von oft nicht sonderlich brauchbaren Erwachsenen zugeschriebenen Eigenschaften sind. Was das Existieren um einiges schwieriger und Ausbrüche auf die eine oder andere Art nur umso nachvollziehbarer machen.

Die Frage jedoch, ob ein Verbrechen mit einem Verbrechen gesühnt werden sollte, nun, diese beantworten sie sich zum Teil künstlich-moralisch aufgeladen und nehmen hier je nach Perspektive der Leser:innen entweder die einzig richtige oder die heuchlerische Ausfahrt. Dass dies noch mit einer Eifersuchtstat kombiniert wird, die sich das ganze Buch über andeutet, dann recht unvermittelt ausformuliert und schließlich noch etwas fadenscheinig begründet wird, mag die moralische Komponente des Ganzen unterlaufen. Menschen sind eben, auch wenn in Die Eistaucher immer wieder von Recht, Moral und Schutz die Rede ist, nicht per se objektiv moralische Wesen. Und eine jede Schandtat lässt sich im Zweifel moralisch, menschlich, emotional und so weiter rechtfertigen.

„…brauche ich auf mich nicht zu achten“

Das alles ist vergleichsweise harter Tobak; erstaunlich dabei ist, dass die Geschichte dennoch nie zu einer defätistischen oder statisch verkopften Nummer wird. Stil und Aufbau sind flüssig, leicht und nicht Weniges dürfte für manch einen Lacher sorgen. Kaśka Bryla ist eine sehr genaue Beobachterin, die uns die Figuren fein ausgearbeitet und in sich schlüssig vermittelt. Dabei wechselt sie als Erzählerin immer wieder auf die Perspektiven der einzelnen Charaktere, was natürlich ein feiner Kniff ist, der gleiche Situationen mit unterschiedlichen Wahrnehmungen wiedergibt; bei Saša finden wir eine Ich-Perspektive.

Das größte Manko dieser mysteriösen, größtenteils spannenden und durchaus einnehmenden Geschichte ist ein Übererklären am Ende, das auch nicht so recht zum interpretationsfreudigen Rest passen will und leider den Eindruck erweckt, die Autorin wollte, dass wir hier auch ganz sicher die gewünschte Moral der Geschichte verstehen. Das ist etwas schade, nimmt den Eistauchern ein wenig die Wucht, lässt sich aber im Gesamten verschmerzen, es reißt die Erzählung nicht ein.

Unterm Strich hat Kaśka Bryla mit Die Eistaucher eine Erzählung geschaffen, die im Kleinen große Themen behandelt, sprachlich magisch ist, echte Menschen hervorbringt und vierdimensional funktioniert. Ein Buch, das in diesem Frühjahr durchaus gelesen werden sollte. 

AS

PS: Es mag nur auf das Vorab-Leseexemplar zutreffen: In diesem jedenfalls gibt es noch einige Namens- und Buchstabendreher und diverse Schreib- und Interpunktionsfehler; wir gehen aber davon aus, dass hier für die eigentliche Veröffentlichung nochmals korrigiert und ausgebessert wurde.

Hinweis: Am 12. April liest Kaśka Bryla im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin. Ebenso schaut euch mal PS – Politisch Schreiben an.

Eine Leseprobe findet ihr hier

Kaśka Bryla: Die Eistaucher; März 2022; Hardcover; 320 Seiten; ISBN: 978-3-7017-1751-4; Residenz Verlag; 24,00 €, auch als eBook erhältlich

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