„Gefühle lassen sich leichter ausschalten, wenn man betrunken ist, […]. Erst manchmal zu viel. Dann immer zu viel. Bei mir waren es nach meinem ersten Schluck nur wenige Monate von >>manchmal zu viel<< bis >>immer zu viel<<. Ich habe mit vierzehn angefangen und fast dreißig Jahre lang getrunken. Ganz gleich, wie sehr und wie oft ich versucht habe, den Alkoholkonsum einzugrenzen, mein Trinkverhalten hat sich nie wirklich verändert.“
Mimi: Trinkerbelle, S. 15
So Mimi im Prolog ihres Buches Trinkerbelle. Mein Leben im Rausch, das im Knaur Verlag erschienen ist. Mit diesen Worten eröffnet sie nicht nur das, sondern öffnet sich auch direkt den Leser*innen. Jenen, die es lesen, weil sie selbst Alkoholiker*innen sind. Jenen, die es lesen, weil Angehörige oder Freund*innen dies sind. Jenen, die es lesen, weil sie sich aus anderen Gründen mit dem Thema befassen. Auch jenen, die es lesen, weil sie an Mimi, die Mimi Fiedler heißt und lange Jahre als Schauspielerin unter anderem im Stuttgarter Tatort als Kriminaltechnikerin Nika Banovic tätig war, und ihrer Geschichte interessiert sind.
„Mein Zustand ermüdet mich so unendlich“
Hier schreibt jemand, der sich alles in allem mit den Zeilen des obigen Zitats identifizieren kann. Wenn es auch keine dreißig Jahre sind. Wie gesagt: alles in allem. Ebenso mit vielem anderen, das die 1975 in Split, Kroatien, geborene, seit ihrem zweiten Lebensjahr allerdings in einem hessischen Dorf aufgewachsene Mimi in ihrem beeindruckend offenen, oft berührenden, kaum kitschigen, dafür sehr greifbaren Buch schreibt.
Dieses beginnt mit der Geschichte ihrer Familie im Königreich Dalmatien, in einem Dorf „hinter Gottes Rücken“, im ehemaligen „sozialistischen Jugoslawien“. Auf knapp siebzig Seiten erzählt sie von ihren Ahnen und ihren Schicksalen, manche schier unglaublich, andere absurd, einige unglücklich, manche geprägt vom Glück im Unglück. Warum sie das tut, erschließt sich ebenfalls aus dem Prolog:
„Die Betäubung von seelischen Schmerzen ist auch in meiner Familie ein epigenetischer roter Faden, der sich von Generation zu Generation weitergesponnen hat. Die Schmerzen meiner Ahnen waren nicht alle gleich, aber alle waren sie tief.“
Mimi: Trinkerbelle, S. 17
Nun ist es (mittlerweile) nichts Neues mehr, dass Trauma vererbt wird – über mehrere Generationen hinweg. Darum soll es hier nun nicht gehen. Erneut: Auch diesen von Mimi Fiedler formulierten Punkt kann ich nur allzu gut nachvollziehen.
„Mein Drang zu trinken treibt sich selbst auf die Spitze“
Im zweiten, längsten und wesentlichen Teil von Trinkerbelle mit dem Titel „Scham“ beschreibt, erläutert, analysiert, entblößt, hinterfragt und erklärt sie ihr „Leben im Rausch“. Das lässt sich bei aller offenen Härte sehr gut lesen. Mimi kann schreiben, das steht außer Frage. So absurd und widersprüchlich das klingen mag: Teils macht es Freude, ihre Geschichte zu lesen.
Was für jemanden, der den Alkoholismus kennt, der verschiedene Geschichten, die sie in diesem Zusammenhang wiedergibt, so oder so ähnlich kennt, der ebenfalls an dem Punkt ist, an dem Mimi auf den Seiten 239 und 240 angelangt ist (wenn auch durch einen weniger positiv geprägten Moment, als jenen für Mimi Fiedler), sicherlich etwas anderes ist, als für Menschen, deren Weg erst beginnt. Der Weg ist lang.
Mimi Fiedler wurde 2010 quasi qua Amt attestiert, dass sie Alkoholikerin ist. Familie, Freund*innen, auch Kolleg*innen wussten nach und nach Bescheid. Regelmäßig besuchte sie Treffen der Anonymen Alkoholiker. War in einer Klinik in Behandlung. Wünschte sich, früh aufzustehen, auf den Wochenendmarkt zu gehen, im Haus rumzuwuseln. Wollte für ihre Tochter wieder und wieder zu trinken aufhören (was sie beispielsweise während ihrer Schwangerschaft eisern durchhielt; das war schon vor 2010). Und doch brauchte es noch gut acht Jahre, bis sie es in die Nüchternheit schaffte.
„Der tägliche Mord an meiner Seele“
Das vermittelt sie auch immer wieder in Trinkerbelle: Versuche wird es viele geben. Scheitern wird man ebenso häufig. Sich grämen und schämen. Viele harte Sätze finden sich in ihrem Buch. Sätze, die sie über sich dachte, zu sich selbst sagte. Sätze, die so manchen bekannt vorkommen dürften. Genauso der Punkt, (wieder) niemandem zu erzählen, was eine*n umtreibt, wie sie es auf Seite 108 ausführt.
Darüber hinaus berichtet sie von einem Missbrauch. Einer Missbrauchsepisode, an die sie sich Jahre später in der Wanne eines Hotels erinnern und die sie noch weiter und tiefer ins maßlose Trinken führen wird. Wohl aber auch den Pfad ebnet, sich – zusätzlich zu vermeintlich auf sich geladener Schuld als Kind – mit den tieferliegenden Ursachen, verdrängten Erinnerungen und eigenen Traumata auseinanderzusetzen. Auch hier: Alles keine Unbekannten.
„>>Du darfst loslassen<<“
All das und mehr (etwas Gefühle von Abhängigkeit, Ohnmacht, Saufdruck, Schuld, …) findet sich in Trinkerbelle. So werden sich eben viele in manchem in diesem Buch, in Mimi Fiedlers Geschichte finden. Jedenfalls in Teilen, so wie ich. Nun bin ich jünger, keine Frau, kinderlos. Dennoch gibt es – neben der Krankheit des Alkoholismus – diverse Parallelen. Und seien es „nur“ Gedankenstrukturen, Schuldgefühl und Schammuster. Allerdings ebenfalls Gedanken wie Verantwortung, Würde, zumindest in der Theorie auch Vergebung.
Es ist kein leichtes Buch, wenn es auch, wie geschrieben, an mancher Stelle durchaus Freude bringt, dem Stil Mimis zu folgen. Definitiv ist es doch eines der wahrhaftigsten und stärksten Bücher, die ich aus Sicht einer betroffenen Person, die mittlerweile nüchterne Alkoholikerin ist, gelesen habe. Es gibt so viele wichtigtuerische, verfälschende, effektheischende Stimmen, die weder hilfreich noch ehrlich sind.
Das ist in Trinkerbelle anders. Welches Buch, welches Thema, könnte somit nun besser zum heutigen Tag der großen Veränderungen in letzter Minute passen?
Anonym [der Autor ist der Redaktion bekannt]
PS: Zum Klinikaufenthalt (im Rahmen dessen es zu einer interessanten Begegnung und Erkenntnis kommt, das lest ihr dann aber selbst): Ihre Krankenkasse übernimmt einen Teil der nicht unwesentlichen Kosten der Behandlung. Irgendwann teilt ihr der Arzt mit, dass diese ihre Kostenbeteiligung einstellen werde, wenn Mimi sich weiter weigere Medikamente (bspw. Valium, Xanax, Rohypnol) zu nehmen. Das ist doch gestört! Abgesehen davon, dass eine Krankenkasse sicherlich nicht über die Entfernung über Zustand und Behandlungsnotwendigkeiten entscheiden kann, ist es doch schlicht absurd, einer süchtigen Person zu sagen: „Hey, schluck doch mal ein paar Tabletten, die dich zusätzlich abhängig machen können.“ Für manche mag dies helfen, der richtige Weg sein. Es kann und darf doch aber keine Voraussetzung zur Beteiligung im Sinne der Fortsetzung einer dringend benötigten Therapie sein. Mimi Fiedler verließ die Klinik, traf zwei Tage später auf eine wohl nicht sonderlich zuverlässige „Freundin“ und wurde erneut rückfällig.
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Mimi: Trinkerbelle. Mein Leben im Rausch; Mit einem Vorwort von Nathalie Stüben; März 2023; 256 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-426-79148-6; Knaur Verlag; 18,00 €
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