Beitragsbild: Kelly-Anne (Juliette Gariépy) taucht in eine befremdliche Welt ein // © 24 Bilder
Kann sich noch jemand an den Riesen-Hype um Joel Schumachers Snuff-Thriller 8MM erinnern? Wie es hieß, dort würden grausamste Dinge nicht nur angedeuetet, sondern auch gezeigt? Bei uns auf dem Schulhof ging es hoch her und plötzlich konnte mensch total beliebt werden, wenn dieser es irgendwie ins Kino geschafft hatte (da wurde vermutlich eher viel geschwindelt) und vom Film erzählen konnte (ergo das weitergeben, was ältere Geschwister zu berichten wussten). Als 8MM schließlich auf VHS rauskam, sah das schon anders aus. Bei mir jedenfalls stand er dank guter Verbindungen in eine Videothek schnell im Regal.
Menschliche Dämonen
Schon bevor ich den neuen mysteriösen Psychothriller Red Rooms – Zeugin des Bösen von Pascal Plante sah, musste ich nach erstem Blick auf die, zugegeben etwas kryptische, Handlungsbeschreibung an den Film aus dem Jahr 1999 denken. Im frankokanadischen Thriller wird dem stillen Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos), auch „Dämon von Rosemont“ genannt, der Prozess gemacht. Zu Last gelegt wird ihm, drei minderjährige Mädchen entführt, missbraucht und vergewaltigt, gefoltert und ermodet sowie zerstückelt zu haben. 8MM meets A Serbian Film in Court sozusagen.
Es sollen Videos zu allen drei Taten existieren. Zwei davon, so entnehmen wir es den ausführlichen, einleitenden Worten der Staatsanwältin Maître Chedid (Natalie Tannous), sind in der Welt. Anhand dieser konnte Chevalier trotz Sturmmaske identifiziert werden. Das dritte Video allerdings, das die Ermordung Camille Beaulieus zeigen soll, ist noch nicht aufgetaucht.
Ungleich vereint
Zuschauerin im Prozess ist die undurchsichtige Kelly-Anne (famos: Juliette Gariépy), die, einem Groupie gleich und trotz luxuriöser Penthousewohnng mit bestem Blick über Montreal, vor dem Gerichtsgebäude nächtigt, um an den Prozesstagen als eine der Ersten im Gericht zu sein. Dort trifft sie auch die etwas jüngere, scheinbar sehr labile Clementine (auch famos, aber anders: Laurie Babin), die hart verliebt in den vermutlichen Mädchenschlächter Chevalier ist.
Obwohl die beiden jungen Frauen komplett unterschiedlich sind, sieht Clementine in Kelly-Anne schnell eine Freundin und diese nimmt sich dem sprunghaften Killer-Fan quasi fürsorglich an. Lässt sie bei ihr in der Wohnung schlafen, kauft ihr einen Schläger fürs gemeinsame Squash-Game usw. usf. Dabei bleiben Kelly-Annes Motive der Zuwendung unklar. Ihr Geld verdient sie mit Modeljobs und professionellem Online-Poker, wo sie gern die Leute nackig macht, die emotional spielen.
Bedrohlicher Genre-Mix
Der ebenfalls von Plante geschriebene Red Rooms (so werden Streaming-Kanäle im Darkweb genannt, in denen sich eine zahlungskräftige Klientel Morde nach Wunsch anschauen kann, wie wir im Film erfahren) entzieht sich jeder konkreten Genrezuordnung. Es ist schon ein Thriller, aber auch ein Gerichtsfilm, ein Psychodrama, ein eher glaubwürdiges Hackermovie, die Schilderung eines stillen Nervenzusammenbruchs auch irgendwie…
Was nicht bedeutet, dass die unheimlichen und unheimlich guten, teils lange in Erinnerung bleibenden Bilder Vincent Birons, nichts Halbes und nichts Ganzes erzählen würden. Ganz im Gegenteil. Eher haben wir es bei Red Rooms mit einem Hybrid-Film zu tun, der gerade durch die Verknüpfung dieser verschiedenen Erzählmuster, dabei immer aus der Perspektive Kelly-Annes, erschreckend stark in der Realität verankert zu sein scheint.
Das geerdete Böse
Denn anders als im nicht minder, wenn auch divergent, grausigen Longlegs ist das Böse hier banal (hey, Hannah!) und kommt in der Tat von dieser Welt. Geneigte Zuschauer*innen dürfen diesem sogar intensiv ins Auge sehen (dies in Kombination mit der intensiv trickreichen Musik von Pascal Plantes Bruder Dominique wirkt arg nach). Was es allerdings nicht zu sehen gibt, sind die Videos, um die es die ganze Zeit geht.
Als diese im Rahmen der Verhandlung gezeigt werden, geschieht dies unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sehr zum Ärger Clementines, die durch die Tür lugt und uns einzelne Ausschnitte hören lässt. Da Fantasie und Assoziation fiese Möpps sind, bildet sich in unserem Kopf allerdings so manches ab, das wir eigentlich lieber nicht sehen wollen.
Begeistert konsterniert
Clementine wird die Videos zu sehen bekommen. Ihre neue BFF Kelly-Anne hat da Mittel und Wege, kann sie doch so gut mit Zahlen und Technik, wie sie es mit Menschen wohl nicht so hat. So hat sie sich etwa ihre Alexa-ähnliche Sprachassistentin programmiert und trainiert, um diese vom Rest der Welt abzuschirmen – und sie weniger rassistisch zu machen und Kelly-Anne nicht mehr den Selbstmord nahezulegen. Wenn es Humor in Red Rooms gibt, dann hintergründig und gut sitzend.
Dass der Film auf einigen Festivals abgesahnt, diverse Preise abgeräumt hat und für noch mehr nominiert war, verwundert kaum. Die Laufzeit von zwei Stunden vergeht schnell (was sich zuletzt nicht über alle Filme mit ähnlicher Laufzeit sagen ließ) und am Ende bleiben wir so konsterniert wie erschreckend begeistert zurück.
AS
PS: Unsere Rezension zu Longlegs gibt es übrigens zum DVD-/Blu-ray-Start Mitte November.
PPS: Mehr Champagner und weniger Kalorien! #Lifegoals
PPPS: Andrew Kevin Walker, Autor von 8MM, schrieb übrigens auch die Drehbücher zu Sieben und Sleepy Hollow (wenn Tim Burton dieses auch überarbeiten ließ, da es im Walkers Version zu brutal war). Zeit, sich diese modernen Klassiker nochmals zu geben. Außerdem endlich einmal David Finchers Netflix-Film The Killer, für den Walker erneut mit dem Ausnahmeregisseur zusammenarbeitete. (Und apropos Netflix und Killer: Freut euch schon einmal auf unsere Besprechung zur auf Karsten Busses gleichnamiger Buchreihe basierender Serie Achtsam morden mit Tom Schilling in der Hauptrolle.)
Red Rooms ist ab dem 7. November 2024 im Kino zu sehen.
Red Rooms – Zeugin des Bösen; Kanada 2023; Buch und Regie: Pascal Plante; Bildgestaltung: Vincent Biron; Musik: Dominique Plante; Darsteller*innen: Juliette Gariépy, Laurie Babin, Elisabeth Loca, Maxwell McCabe-Lokos, Natalie Tannous, Pierre Chagnon, Guy Thauvette, u. a.; Laufzeit ca. 118 Minuten; FSK: 16; ab 7.11. im Verleih von 24 Bilder im Kino
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