Echte Vielfalt jetzt – eine Frage der Kultur

Thomas Sattelberger, Jahrgang 1949, von 2007 bis 2012 Mitglied des Vorstands der Deutschen Telekom, Coming-Out im Jahr 2014, 2015 in die FDP eingetreten und als Direktkandidat für den Wahlkreis München-Süd mit 9,1% 2017 über die Liste in den Bundestag eingezogen, hielt am 18. Februar 2016 im Allianz-Forum am Pariser Platz in Berlin einen Vortrag im Rahmen der Hirschfeld Lectures der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, wo er zu den Gründern des Förderkreises gehört, mit dem klangvollen Titel Vielfalt statt Einfalt. Wie jede der vorhergehenden Hirschfeld Lectures wurde auch diese 10. im Anschluss in der vom Wallstein Verlag betreuten gleichnamigen Schriftenreihe veröffentlicht. 

Sattelberger, der die Spenden-Gala der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld am 4. September 2014 für sein Coming-Out nutzte, also zu einem Zeitpunkt an dem seine Managementkarriere bereits ein Ende gefunden hatte, dazu aber später mehr, behandelt in seinem vorliegenden Vortrag mit dem vollständigen Titel Vielfalt statt Einfalt – Für Offenheit und Pluralismus streiten im Kern den Widerstreit von Individualität und Pluralität.

Er gliedert diesen in vier Punkte: Zuerst möchte er eine Zwischenbilanz zur Lage der LSBTTIQ*-Community und der Diversity-Debatte ziehen; weiterhin „skizziert [er] die Makrotrends, die Vielfalt forcieren und denen sich niemand entziehen kann.“ Im dritten Schritt befasst er sich dann mit seinem Kernthema um im vierten abschließenden Schritt „Anregungen zum Nachdenken über große Unternehmen als Horte der Normierung“ zu geben.

Diversity vs. Intoleranz

Die genannte Gliederung ist allerdings durch diverse Sprünge nur als sehr dünner Mantel zu verstehen, was sie bei einem Vortrag, der, wenn man das Geleitwort der Reihenherausgeberin und die interessante Einleitung von Dr. Bertold Höcker abzieht, letztlich 33 Seiten einnimmt auch als irritierend empfunden werden kann. Hier wäre es nahe liegender, statt von Schritten, die den Eindruck einer konkreten Gliederung vermitteln, von inhaltlichen Schwerpunkten zu sprechen.

Nun von der Form zu den Inhalten: Die Beschreibung der Situation von LSBTTIQ*-lerm innerhalb von Unternehmen und die (Selbst-)Wahrnehmung dieser sind durchaus interessant. Wenn Sattelberger bspw. die – in einigen Teilen auch heute noch gängige Formel „Die sexuelle Orientierung unserer Mitarbeiter geht uns nichts an“ wiedergibt und diese mit „Don’t ask, don’t tell“ vergleicht, wird einem prompt ganz anders. Er nimmt dann Bezug auf und übt Kritik an den vom Völklinger Kreis veröffentlichten Studien, zuletzt 2015, zum Diversity Management in Deutschland. So richtig und wichtig diese seien, gingen sie doch den „PR- und Personalkosmetikabteilungen der Wirtschaft etwas auf den Leim“ (S. 15), denn letztlich würden nur Leute befragt, die schon ihres Jobs wegen die Dinge zu beschönigen hätten und es ginge nur um den „Instrumentenkasten“ und nicht um „kulturelle[n] Merkmale[n], […], wie zum Beispiel das öffentliche Bekenntnis eines Vorstandsvorsitzenden oder eines Geschäftsführers, gerade auch zur Akzeptanz von LSBTTIQ.“ (ebd.) Erweitert könnte man hier anfügen, wie wohl auch um das Outing eines solchen, als Ausnahme nennt er da Niek Jan van Damme, damals noch Vorstandsmitglied der Deutschen Telekom. 

Thomas Sattelberger spricht im Plenum des Deutschen Bundestages / © Deutscher Bundestag, Achim Melde

Weiter kritisiert Sattelberger durchaus zutreffend die ostentative Zurschaustellung von Toleranz und Diversity, stellt dem aber die Ergebnisse einer Studie des Instituts für Unternehmensführung am Karlsruher Institut für Technologie, kurz KIT, gegenüber, laut welcher immer noch jeder Dritte der 350 lesbisch, schwulen, transsexuellen und transgender Befragten Diskriminierungserfahrungen am Arbeitsplatz nennen konnte. Dazu ergänzt er eigene Erfahrungen archaischer Männlichkeitskonzepte. So seien insbesondere „in den Top-Etagen von Unternehmen nach wie vor mentale Muster weit verbreitet, die nicht förderlich sind für Diversity. Ein Schwuler ist […] einer, der […] >>sich in den Arsch ficken lässt<<.“

Diese tollen Modelle archaischer Männlichkeit, diese testosterongeladenen Hengste voller breitbeinigem Selbstvertrauen sind sicherlich den wenigsten unbekannt. All diesen Heroen schlage ich gern vor, sich einmal für nur so um die sechs, sieben Minuten solide von 22x6cm behandeln zu lassen und im Anschluss können wir gern miteinander über die Bedeutung von Worten wie „Männlichkeit“, „Weichheit“ und „Standhaftigkeit“ sprechen.

Er betont allerdings auch, dass sich einiges zum Besseren gewendet habe, doch man nicht annehmen solle, dass die teilweise Verbesserung nun eine Selbstverständlichkeit wäre oder gar unter Bestandsschutz stünde. Er tritt für eine erweiterte, aktiv geführte Diversity-Poiltik ein und wünscht sich natürlich auch mehr LSBTTIQ*-ler im oberen Management. Als Leser mag einem nach der Lektüre dieser ersten zehn Seiten unweigerlich der Gedanke in den Kopf kommen, dass Thomas Sattelberger es bis vor wenigen Jahren auch selbst in der Hand hatte, den Ton ein wenig zu formen, sein öffentliches Bekenntnis zu seiner Homosexualität dann aber doch erst nach dem Ende seiner aktiven Karriere abgab. Ein Punkt, der auch häufiger in Gesprächen über seine 2015 erschiene Autobiografie Ich halte nicht die Klappe erwähnt wird. Womöglich kann man sagen, er wäre bei offener Homosexualität nicht an diesen Punkt gekommen, andererseits wäre ein Outing einige Monate vor dem Ausscheiden aus dem Vorstand der Deutschen Telekom natürlich ein starkes und wünschenswertes Symbol gewesen.

Nicht ohne Geschmäckle

Im weiteren Verlauf benennt er als „Megatrends, die Vielfalt vorantreiben“ (S. 23) u. a. Demografie und Migration, wie auch einen, quasi automatisch aus den ersten beiden hervorgehenden Wertewandel. 

So stellt er fest, dass schon allein durch die Zuwanderung, insbesondere die des Jahres 2015 „durch große Migrationsbewegungen mit ihrer Vielfalt von Kulturen, Sprachen, Religionen und Rechtsverständnissen bisher homogene Gesellschaften wie Deutschland in ihrem Selbstverständnis offensichtlich durcheinander geschüttelt werden“ (S. 25) und meint Deutschland sei auf die sich draus ergebenen Veränderungen nicht wirklich eingestellt. Allein schon, weil Debatten über Leitkultur und Konsequenzen von Einwanderung immer unterbunden würden. Als Beispiele nennt er eine von Friedrich Merz Mitte der 90er-Jahre angestoßene Debatte und so zutreffend wie unglücklich die Sarrazin-Debatte um sein Deutschland schafft sich ab aus 2010. Durch das nach Sattelbergers Sicht Imkeimersticken solcher u. ä. Debatten komme man auch nicht dazu, die Probleme konkret angehen zu können, die entstehen, wenn teils homophobe Migranten in das Land kommen: „Niemand kann Menschen dazu zwingen, […] Homosexualität als normal zu empfinden, wenn sie 20 oder 22 Jahre unter Gesetzen gelebt haben, die Homosexualität schlicht verboten haben“ (S. 31).

An diesen Gedanken ist etwas dran, auch wenn er etwa schreibt, dass Intoleranz ein Wachstumskiller sei und er recht ausführlich einen Beitrag Wolfgang Merkels aus dem Cicero wiedergibt, in dem dieser die Problematik heterogener Gesellschaften beschreibt. Sattelberger führt das dann zu der Situation hin aus, dass unter falschen oder ausbleibenden Maßnahmen, letztlich die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft leiden würden und Debatten dringend geführt werden müssten und führt dann noch Cécile Calla an, die sagte, dass „im Kontext einer solchen Debatte Deutschland auch noch einmal über seine Toleranz gegenüber dem Kopftuch und der Burka nachdenken müsse“ (S. 34). Leider erwähnt Sattelberger nicht, wann und wo genau Calla das sagte, verweist aber auf ihre journalistische Reputation. Auf diese etwas schwierige Art des Quellenaufbaus werde ich später zurückkommen.

Durch die vorhergehend genannten Punkte, liest sich Sattelbergers Vortrag auch als Kritik an (gar nicht mal nur unkontrollierter) Zuwanderung, was ihm hier und da zumindest ein leichtes Geschmäckle gibt, entsteht doch an mancher Stelle der Eindruck, dass hier die Freiheit des Individuums und der Wille zu mehr Diversity nur als Vorwand genutzt werden, um gegen Zuwanderung argumentieren zu können. Das mag täuschen und sicherlich ist Thomas Sattelberger kein Didier Eribon, der solche Eindrücke geflissentlich aus dem Weg zu räumen versteht und das alles mag lediglich unglücklich formuliert sein, ein Störfaktor ist es dennoch. Ergänzend muss man auch sagen, dass die Sarrazin-Debatte um Zuwanderung nie wirklich endete, nur wird sie, zumeist im Feuilleton, auch direkt mit der Rezeption derselben verknüpft, was sie wenig greifbar macht. Pointiert-defätistisch schließt er den Gedanken jedenfalls mit den Worten: „Mein Idealismus ist einem sehr realpolitischen Pragmatismus gewichen.“

Geschlossene Systeme folgen ihrer eigenen Logik

Die Gedanken, die er zur Nicht-Zugänglichkeit von LSBTTIQ*-lern zu Top-Etagen der Unternehmen bereits immer wieder hat anklingen lassen, konkretisiert er nun an so anschaulichen wie erschreckenden Beispielen der Lufthansa, wo er von einem Offizierskorps spricht, VW und seinem Dieselskandal und der Gorch Fock, bezugnehmend auf den Todesfall der 25-jährigen Kadettin. Hier attestiert er eine „Glaubensbrüderschaft zur Abwehr fremder Einflüsse“ und der „Deutung des Selbst als Übermensch“ (S. 37).

Dass in solchen Kastensystemen Vielfalt, also Diversity und wirkliche Charaktere, wenig Platz finden können, ja dürfen, ist da völlig logisch und nur konsequent. Sattelberger fordert den Willen zu kultureller Reformfähigkeit und den Abschied vom patriarchalisch-autoritären Stil. In diesen letzten Gedanken des Vortrags, in denen er sich noch mit selektiver Wahrnehmung und der Suche nach einem bestimmten Habitus (im Sinne Pierre Bourdieus), in welchem eben „sogenannte Effeminiertheit […] oder >>hart wirkende<< homosexuelle Frauen“ (S. 40) als unpassend empfunden werden, wird einem die ganze potentielle Stärke seines Vortrags bewusst, hätte er sich im Mittelteil nicht allzu sehr im Klein-Klein um deutsche Leit-Debatten-Kultur verrannt. Seine Appelle aber, dass Diversity zuerst Kultur und erst dann Tools brauche, wie auch, dass die Bildung beständiger Netzwerke vonnöten sei, sollten unbedingt weithin vernommen werden.

Die Quellen, die Quellen…

Nun noch einmal zurück zur Form. Thomas Sattelberger stützt sich auf diverse Quellen, nutzt diese entweder als Grundlage für seine Argumentation, zur Untermauerung seiner Positionen oder als Gedankenanstoß. Als störend stellt sich hier nicht nur dar, dass, wie oben erwähnt, die jeweilige Quelle nicht immer eindeutig thematisch und nur selten zeitlich eingeordnet wird, sondern auch ein fehlendes Quellenverzeichnis im Anhang. Dieses findet sich bei anderen in der Reihe Hirschfeld Lectures erschienen Vorträgen für gewöhnlich und fehlt hier bedauerlicherweise – eine Kritik, die sich auch der Verlag gefallen lassen muss.

So bezieht sich Sattelberger bspw. auf Seite 21 im Abschnitt „Echte Toleranz gegenüber Minderheiten oder nur Laissez-faire“ gleich auf zwei Quellen. Zum Einen einen Beitrag Norman Domeiers: „‚Die deutsche Homosexuellenbewegung im Kaiserreich und ihre Niederlage im Eulenburg-Skandal (1906-1909)‘, ebenfalls in der Reihe der Hirschfeld Lectures erschienen“, da wäre es ein Kurzes gewesen darauf zu verweisen das dieser Beitrag im Band Gewinner und Verlierer zu finden ist. Dann bezieht er sich auf einen Beitrag aus der FAZ: „Und ich gehe auch nicht so weit wie der im Mai 2015 verstorbene Dieter Bartetzko, der mehr als 20 Jahre für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) schrieb. Er sieht die derzeitige große Freiheit für Schwule wie gewohnt auf die Bereiche der Kunst und Intellektualität beschränkt […]“. Nach dieser reichlich langen Einleitung fragt man sich, wieso Sattelberger es nicht unterbringen konnte, dass der Beitrag Bartetzkos im Jahr 2007 erschienen ist, wodurch das Wort „derzeit“ eine andere Bedeutung erhält, erst recht wenn man bedenkt, dass er den Vortrag im Februar 2016 hielt und der Band im Juli 2016 veröffentlicht worden ist. In knapp zehn Jahren hat sich eben doch einiges verändert, siehe das eigene Outing Sattelbergers.

Er zitiert an anderer Stelle ausführlich einen Beitrag für The European des ehemaligen Bundesvorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft der SPD für Akzeptanz und Gleichstellung Schwusos (seit 2016 SPDqueer), erwähnt aber auch hier nicht, von wann der Beitrag ist, was eine Kontextualisierung schwierig und die inhaltliche Auseinandersetzung ein wenig zäh macht.

Ebenfalls wäre ein Hinweis auf die Auffindbarkeit der von ihm herangezogenen Studien vom Völklinger Kreis und des KIT durchaus praktisch, wie eben auch ein Verweis auf die teils hoch interessanten Quellen, wie bspw. den bereits erwähnten Artikel von Dieter Bartetzko.

Empfohlen sei die Lektüre nichtsdestominder. Durch viele anschauliche Beispiele und gute Bezugspunkte ist der gesamte Vortrag auch drei Jahre nachdem Thomas Sattelberger ihn gehalten hat zu empfehlen. An Aktualität hat er kaum eingebüßt, wenn auch manch ein von ihm richtig eruiertes Problemfeld sich zugunsten eines anderen ein wenig verschoben haben mag, so funktionieren allerdings schlicht Zeitverläufe. Die Auseinandersetzung Pluralität vs. Individualität wird weiterhin geführt und auch noch lange geführt werden.

Sattelberger, Thomas: Vielfalt statt Einfalt – Für Offenheit und Pluralismus streiten; Hirschfeld-Lectures Bd. 10; 1. Auflage Juli 2016; 48 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-8353-1908-0; Wallstein Verlag; 9,90€; eBook 7,99€

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