Eine Sucht, die knallt

Es sind wohl offene Wochen beim Tatort: In Köln ging es nicht nur mit Sexarbeiterinnen in der Siebten Etage hoch her. Im Tatort: Schweigen verging mann sich an Kindern und Jugendlichen. Am Abgrund in Zürich lockte ein charismatischer und anziehender Serienkiller Isabelle Grandjean aus der Reserve. Und in Dortmund gab es ein Doppelleben, das nicht bei der zweiten Familie endete. Jetzt legt der NDR mit dem Tatort: Borowski und das hungrige Herz nach, der heute Abend im Ersten zu sehen ist.

„Männer, die viel Sex haben, …“

„Nachlegen“ ist für diesen ein perfektes Stichwort. Ist er nach dem gefühlvoll-speziellen Drehbuch von Katrin Bühlig und unter der gekonnten Regie der (Exil-)Isländerin Maria Solrun doch bereits im Herbst 2021 gedreht, nur bisher nicht ausgestrahlt worden. Mag das daran liegen, dass sich Klaus Borowski (Axel Milberg) und Mila Sahin (Almila Bagriacik) in diesem Fall in der Welt der Sex- und Liebessüchtigen zu orientieren haben? Es dabei, jedenfalls für Sonntagskrimi-Verhältnisse, vergleichsweise explizit zugeht?

Die Kommissare Mila Sahin (Almila Bagriacik) und Klaus Borowski (Axel Milberg) am Tatort im Tatort: Borowski und das hungrige Herz // © NDR/Thorsten Jander

Zudem geht diesem rot und violett getränkten Tatort aus Kiel dank eines primär weiblichen Teams und dem Fokus auf den handelnden Frauen, wie auch der Ermordeten jeglicher Male Gaze, Voyeurismus sowie die Ausnutzung der Figuren ab. Seitens des NDR hieß es gegenüber der WieWarDerTatort-Redaktion lediglich, dass mensch sich dort entschieden habe, den „Tatort ‚Borowski und das ewige Meer‘ vorzuziehen, da der Film eine Thematik behandelt, die schnell an Aktualität verliert.“

Das irritiert insofern, als dass vermutlich nicht nur der KlimaTatort vorgezogen wurde. Selbst bei einigem Vorlauf und dem gefüllten Kalender Milbergs, dürfte ein Dreh 2021 für einen 2024 auszustrahlenden Film eher nicht der Fall gewesen sein. Zudem ist es nun wirklich unsinnig, dass die Klimakriseschnell an Aktualität“ verlieren würde. Nun, Vibrator drauf.

„…sind echte Kerle –…“

Worum geht es nun also im vorletzten Borowski-Tatort? In einem Mietshaus in Kiel (kein Hochhaus allerdings) finden Klaus Borowski und seine Kollegin Mila Sahin die 40-jährige Versicherungsangestellte Andrea Gonzor (Anna König) erschossen auf ihrem Bett. Andrea Gonzor hatte an diesem Abend offenbar zu einer Erotikparty eingeladen – zahlreiche Spermaspuren im Umfeld der Toten verweisen darauf, dass das Opfer mehrere Sexualpartner in dieser Nacht hatte. In ihrem Blut finden sich Spuren von Alkohol und Beruhigungsmitteln, aber es gibt keine Hinweise auf eine Sexualstraftat.

Andrea Gonzor (Anna König) hat ein ganz besonderes „Hobby“ // © NDR/Thorsten Jander

Goznor war bei den S.L.A.A. (Sex and Love Addicts Anonymous) die Sponsorin von Nele Krüger (stark: Laura Balzer), die die Meetings der Anonymen Sex- und Liebessüchtigen erst seit Kurzem besuchte. Die Gruppe orientiert sich am Programm der zwölf Schritte und zwölf Traditionen nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker. Doch, wie so oft bei Sucht, wurde Andrea rückfällig und organisierte eine Gruppensexparty. Nele öffnet den ankommenden Männern noch die Tür, geht dann, am nächsten Tag ist Andrea tot.

„…aber Frauen sind immer noch Schlampen.“

Davon wird Nele selbstverständlich aus der Bahn geworfen. Fühlt sich verantwortlich, schuldig. Das schmerzt. Betäubt die alleinerziehende Mutter diesen Schmerz nun wieder mit Alkohol, mehr Schmerz und Sex sowie der (verkappten) Suche nach Liebe? Oder findet sie einen Kompagnon in dem zugewandten, freundlichen und anständigen Borowski? Verwechselt Nele Professionalität mit Zuneigung?

Engel oder Teufel? Nele Krüger (Laura Balzer) // © NDR/Thorsten Jander

Die Antwort ist: Ja. Allerdings macht der lebenserfahrene Kommissar es ihr recht einfach, da er lange Zeit nicht mit der notwendigen Konsequenz die klaren Grenzen in ihrem Verhältnis zieht. Aus welchem Grund er dies tut – oder eben auch nicht – darüber können wir Zuschauer*innen nur rätseln, was diesem vorletzten Kieler Tatort mit Borowski eine zusätzliche Spannungesebene verleiht.

Kern und Ton der Perspektive

Fein ist ebenfalls, wie der Teilzeit-Feingeist Borowski auf einem Sextoy eine Gravur entdeckt, von großer Liebe spricht und die pragmatische und auf ihre eigene Art lebenserfahrene Mila Sahin den Kollegen korrigiert: Es handele sich wohl eher um große Geilheit. Überhaupt darf Sahin hier nicht nur ein paar neue Facetten zeigen, sondern dem gern besserwisserischen Borowski durchaus um manch einen Ermittlungsansatz voraus sein und punktet mit schlagkräftigem Argument.

Befragen Kunden Jan Lottmann (Peter Sikorski): Mila Sahin (Almila Bagriacik) und Klaus Borowski (Axel Milberg) // © NDR/Thorsten Jander

Zusätzlich begegnet sie ihrer Berliner Vergangenheit, die, wenig überraschend, recht viel mit Sex, Liebe und Ver- wie Misstrauen zu tun hat. Ein besonderer Moment ist die verdeckte Ermittlung an einem Cruising-Parkplatz, im Regen, den die Kamerafrau Birgit Gudjonsdottir in fantastische, teils schemenhafte Bilder zu kleiden weiß. Begleitet werden Bilder und Handlungen von der grenzenlos-orgiastischen Musik Haraldur Thrastarsons (großer Isländer-Club in Kiel), die mit Stimmen, einer Orgel und der Posaune spielt.

Trigger: Lustgeschrei

Letztes Sahnehäubchen ist die Lehrerin Barbara Döring, die Schauspielerin Lina Wendel (die Füchsin in der sehenswerten, gleichnamigen Krimireihe) als eine Art glühenden Eisberg bezeichnet. Barbara Döring und Ehemann Peter (Martin Umbach) wohnen neben dem Opfer und fühlten sich in ihrer zumindest sexuell eingeschlafenen Ehe wohl vom häufig lauten Lustgeschrei Gonzors getriggert. Insbesondere Peter scheint darunter zu leiden. Macht ihn das verdächtig?

Barbara Döring (Lina Wendel) hat genug von den Zurückweisungen ihres Mannes // © NDR/Thorsten Jander

Oder war es doch einer der Gruppensex-Kerle? Gar Nele, die womöglich von ihrem Vorbild Andrea enttäuscht war? Das rauszufinden und bis dahin gespannt mitzurätseln und ob manch süffisanter Anmerkung zu schmunzeln, geht mit guter und vorurteilsfreier sowie primär nicht wertender Unterhaltung einher. Ein lohnenswerter Borowski-Sahin-Tatort.

AS (mit Material der ARD)

PS: Bereits am 16. März 2024 verabschiedet sich Axel Milberg in Borowski und das Haupt der Medusa nach gut zwanzig Jahren von Klaus Borowski. Almila Bagriacik bleibt dem Kieler Tatort als Mila Sahin erhalten und wird künftig von Karoline Schuch in der Rolle der Kriminalpsychologin Elli Krieger unterstützt.

PPS: Zum Thema ästhetischer Voyeurismus und gefühlvolle Sexualität: Seit dem 8. Januar 2025 gibt es beim RTL+ wöchentlich neue Folgen der Reality-Doku Stranger Sins. Dieses Mal auch mit einem schwulen Paar. Mehr dazu demnächst.

PPPS: UPDATE, 13.1.2025, 10:05 Uhr: Die Pressestelle des NDR informiert über einen Rekordwert für Tatort: Borowski und das hungrige Herz: höchster Marktanteil seit 22 Jahren. Der vorletzte Borowski-Tatort habe am vergangenen Sonntag, 12. Januar, einen so hohen Marktanteil wie noch kein Krimi mit dem von Axel Milberg gespielten Kommissar zuvor gehabt: Der Marktanteil lag bei 31,0 Prozent – im Schnitt hatten 8,640 Millionen im Ersten eingeschaltet.

Dazu NDR Programmdirektor Frank Beckmann: „‘Borowski und das hungrige Herz‘ hat mit seinem mutigen Thema und der spannenden Umsetzung das Publikum überzeugt: Kein Borowski-‚Tatort‘ war jemals erfolgreicher! Es ist vor allem dem großartigen Spiel von Axel Milberg zu verdanken, dass sich seine Figur ‚Borowski‘ über so viel Jahre ungebrochener Beliebtheit erfreut. Und Almila Bagriacik bringt als Mila Sahin frischen Wind ins Spiel – selbstbewusst und entschlossen hat sie eine neue, starke Seite ihrer Figur gezeigt. Mit diesem Erfolg im Rücken dürfen wir nun gespannt auf Borowskis letzten Fall schauen: Ein großer Abschied steht bevor!“

Das Cover zu Tatort: Borowski und das hungrige Herz // © NDR/Thorsten Jander

Das Erste zeigt den Tatort: Borowski und das hungrige Herz am 12. Januar 2025 um 20:15 Uhr, um 21:45 Uhr ist er auf one zu sehen und ist nach Ausstrahlung für zwölf in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Borowski und das hungrige Herz; Deutschland 2021; Drehbuch: Katrin Bühlig; Regie: Maria Solrun; Bildgestaltung: Birgit Gudjonsdottir; Musik: Haraldur Thrastarson; Darsteller*innen: Axel Milberg, Almila Bagriacik, Laura Balzer, Lina Wendel, Thomas Kügel, Anja Antonovicz, Anna König, Martin Umbach, Peter Sikorski, Magnús Mariuson, Julia Jendroßek, u. v. a.;eine Produktion der Nordfilm GmbH im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks für Das Erste

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