„Es ist spät“

Berlin soll „sicherer, noch sicherer werden“, wie der vermutlich nächste Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) am Montag verkündete. An Silvester haben wir in einigen Ecken gesehen, dass Sicherheit ein Problem in Berlin zu sein scheint – nicht auszuschließen, dass Wegner jetzt nicht auf dem Weg ins Rote Rathaus wäre, hätte es die Krawalle zum Jahreswechsel nicht gegeben.

Dass aber gerade in der Hauptstadt um Sicherheit gerungen werden muss, dürfte unstrittig sein. Zuständig dafür ist „dein Freund und Helfer“, die Polizei. Nicht zuletzt deshalb ist es wichtig, den Polizistinnen und Polizisten von morgen eine Art Mission auf den Weg zu geben, oder vielmehr einen demokratischen Wertekompass – am besten bereits in der Ausbildung.

Freitod mit der Dienstwaffe?

Auch deshalb sind wir relativ früh im neuen Tatort: Nichts als die Wahrheit an der landeseigenen Polizeiakademie, die für den Film im brutalistischen Mäusebunker im Südwesten der Hauptstadt untergebracht ist. Zudem gesellt sich ein neues Gesicht an die Seite des uns bekannten Ermittlers Robert Karow (Mark Waschke), nämlich Susanne Bonard (Corinna Harfouch), die als Dozentin an der Akademie über zwölf Jahre den Polizeinachwuchs schulte, sich aber jetzt in die Ermittlungen um den Tod ihrer früheren Schülerin Rebecca Kästner (Kaya Marie Möller) stürzt.

Kommissar Karow (Mark Waschke, links) verhört Gruppenführer Guido Konrad (Christoph Jöde, Mitte). Unter den KollegInnen ist auch Tina Gebhardt (Bea Brocks, 3.v.l.) // © rbb/Marcus Glahn, honorarfrei – Verwe

Kästner hatte kurz vor ihrem vermeintlichen Freitod mit Dienstwaffe kurz mit Bonard telefoniert, wollte ihr etwas Dringendes sagen. Bonard jedoch hat Kästner mit Verweis auf die sehr fortgeschrittene Uhrzeit auf den nächsten Tag vertröstet und fühlt sich nun verpflichtet, den Tod Kästners aufzuklären. Die nämlich war an etwas dran, das „viel größer als gedacht“ sei. Ähnlich wie bei den rechten Tendenzen im aktuellen Jahrgang Bonards sollte auch Kästner recht behalten.

Rundumschlag im Strafgesetzbuch

Pünktlich zu Ostern, pünktlich zur Einführung einer neuen Figur – Susanne Bonard verzichtet auf den ihr angebotenen Vorruhestand (aka Schweigegeld) und ermittelt künftig an der Seite ihres Kollegen Robert Karow, nachdem dessen frühere Partnerin in Crime and more, Nina Rubin (Meret Becker) im vergangenen Sommer ihren Abflug machte – liefert uns der rbb nach längerer Zeit einmal wieder einen Tatort, der in zwei Teilen ausgestrahlt wird. Das scheint, ob der Fülle der Themen, die bereits zu Beginn angedeutet und aufgemacht werden, auch vollkommen gerechtfertigt.

Ralf (Gustav Schmidt, Mitte), zwischen den zwei Mitstudenten Michael (Vito Sack) und Maximilian (Baris Gül), schildert seine Sicht auf eine Lehrübung in der Polizeiakademie // © rbb/Marcus Glahn

Bereits in den ersten Minuten bekommen wir es mit Rassismus und Racial Profiling (ein Gruß geht an Horst Seehofer), Drogenhandel und vermeintlich illegalen Geschäften, Korruption und rechten Umtrieben in der Polizei zu tun – und da ist der Tod von Kästner noch gar nicht wirklich erwähnt. Dazu kommen Sexismus, Probleme mit Migrantinnen und Migranten, illegaler Waffenhandel, eine suspekte private Sicherheitsfirma und irgendwas mit Verfassungsschutz muss auch noch sein. Bei der Fülle dieser Probleme und Themen kann nur erneut (und, zugegeben, ein wenig aus dem Kontext genommen) auf Bonard verwiesen werden: „Es ist spät“.

Die Latte wird hoch gelegt

Hui, das ist eine ganze Menge. Wie gut, dass die Macherinnen und Macher um Regisseur Robert Thalheim sowie Stefan Kolditz und Katja Wenzel (Drehbuch) 180 Minuten Zeit haben, um all dies schön auszuspielen. Oder uns doppelt so lange wie normal zu quälen, falls es weniger gut klappt als beim packenden John Wick: Kapitel 4, der eine ähnliche Länge hat, uns aber durchweg überzeugte. Aber der von der damals noch kommissarischen Intendantin Dr. Katrin Vernau bei der Premiere des ersten Teils im Delphi Filmpalast in Berlin hochgelobte Writer’s Room wird sich schon etwas dabei gedacht haben.

Ein Krisengespräch zwischen Arne Koch (Sebastian Hülk, links), Götz Lennart (Thomas Niehaus, Mitte) und Dietrich Pätzold (Jörn Hentschel). Koch ist richtig sauer – am Gebäude der FELD+HAUS Projects // © rbb/Marcus Glahn

Wie sagte sie noch so schön? „Es gibt Geschichten, die können wir nur hier in der Hauptstadt erzählen.“ Und: „Der Tatort ist für uns etwas ganz Besonderes. Dafür stellen wir immer nochmal etwas Extrabudget für Recherchezwecke zur Verfügung.“ Da legt jemand die Latte auf jeden Fall sehr hoch.

Eine schrecklich normale Familie

Leider etwas zu hoch, wie sich nach 180 Minuten zeigt. Der erste Teil baut die Handlung sehr gut auf, wir fokussieren uns viel auf Susanne Bonard. Ihre Figur wird sehr schön und einfühlsam in die Geschichte eingeführt. Ganz anders als Karows frühere Partnerin (und Karow selbst) scheint Bonard ein relativ geordnetes Familienleben zu führen. Um die Wahlanalogie noch einmal aufleben zu lassen: Karow führt das eher exzentrische Innenstadtleben, während Bonard es bürgerlich am Stadtrand hält.

Susanne Bonard (Corinna Harfouch) und ihr Mann Kaya Kaymaz (Ercan Karaçayli) verfolgen eine Fernsehdiskussion // © rbb/Marcus Glahn

Ihr Ehemann Kaya (Ercan Karaçayli) ist ein angesehener Richter, der sogar zur Vereidigung des neuen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts sowie dessen Stellvertreterin eingeladen ist, die (warum auch immer) zusammen ins Amt eingeführt werden und scheinbar auch bisher noch nicht in Karlsruhe sitzen. Sohn Tom (Ivo Kortlang) ist vielleicht etwas schrullig, aber so sind junge Erwachsene gerne mal. Und gerade angesichts des in der letzten Folge auch körperlich verstümmelten Karow ist diese Familie eigentlich eine willkommene Abwechslung.

„Bitch69“ und „Wotan18“

So baut die erste Folge vieles sehr gut auf. Die Suche nach dem Mörder von Rebecca Kästner scheint schnell abgeschlossen, aber wie so oft ist nicht alles, wie es scheint – und vor allem viel größer. Die sich anschließende Story um Kästners Kollegin Tina Gebhardt (Bea Brocks) und auch den Kollegen Guido Konrad (Christoph Jöde) scheint vielversprechend. Davon bekommen wir in dem ersten der beiden Teile einen guten Eindruck inklusive Cliffhanger.

Gefährlich nah dran: Der investigative Journalist Calvi (Roland Bonjour) beim Informationsaustausch mit Kommissarin Susanne Bonard (Corinna Harfouch) und Kommissar Robert Karow (Mark Waschke) // © rbb/Marcus Glahn

Leider wird das in der zweiten Hälfte nur noch ansatzweise fortgesetzt. Auch wenn der Fall weiterhin verhältnismäßig spannend bleibt, ist gerade die Recherchekompetenz im Writer’s Room offenbar noch nicht ganz ausgeschöpft. Die Geschichte, die wir an dieser Stelle nicht zu sehr spoilern wollen, hätte sich definitiv auch an einem anderen Ort erzählen lassen und die dahinterstehenden demokratischen und teils administrativen Prozesse wie eine Ernennung durch den Bundespräsidenten sind klar definiert.

Die Saat für weitere Fälle ist gesät

Ja, alles kann sich theoretisch so abgespielt haben, aber für die Besetzung demokratisch legitimierter Institutionen gibt es in diesem Land klare Prozesse. Dass eine Veranstaltung an „Tag X“ nach den dort geschehenen Vorkommnissen so durchgezogen worden wäre, dass am Ende das uns Präsentierte rauskommt, darf stark bezweifelt werden. (Wir entschuldigen uns an dieser Stelle für die abstrakte Darstellung, alternativ würden wir wie erwähnt zu viel spoilern.) Zumal hinzukommt, dass viele der ganz zu Beginn eröffneten Handlungsstränge leider nicht weiter- oder gar auserzählt werden.

Drei Neonazis sind angeklagt, einen Sinto fast ins Koma geprügelt zu haben // © rbb/Marcus Glahn

Leider bricht der Tatort: Nichts als die Wahrheit nicht nur durch einen mittelgroßen Cliffhanger in der Mitte ab, sondern auch in der Qualität ein. Was der erste Teil noch so schön, verheißungsvoll und spannend aufbaut, wird in der zweiten Folge leider relativ plump, nicht nahe an der Realität und auch ohne die in der ersten Folge gesäten Pflänzchen sauber aufzuziehen wieder eingerissen und umgepflügt. Die Saat, mit dieser Doppelfolge eine ganze Erzählreihe in den Berliner Tatorten einzuläuten, die vor allem mit der Figur der Susanne Bonard verknüpft ist und bis zu ihrem Rentenalter über vier bis fünf Jahre gezogen werden kann, ist in jedem Fall ausgestreut. Aber gut, wir wissen spätestens seit Donald Trump, wie stark sich eine Gesellschaft innerhalb einer Wahlperiode polarisieren und welche Nachwirkungen das haben kann.

Es ist Zeit

Solange wir aber nur diese beiden nun ausgestrahlten Folgen des Tatorts: Nichts als die Wahrheit betrachten können, bleibt leider zu sagen, dass sich die Macherinnen und Macher hier für den Moment übernommen haben. Viele wichtige Dinge werden angesprochen, Rassismus und Racial Profiling sind wichtige Themen (und werden latent auch im kommende Woche folgenden Falke-und-Grosz-Tatort aus Hannover thematisiert). Autor Stefan Kolditz hat diese bereits 2015 in der Folge Verbrannt thematisiert, die sich mit dem Fall Oury Jalloh auseinandersetzt.

Im Hörsaal der Polizeiakademie hält die designierte Vizepräsidentin des Bundesgerichtshofes Julia Kirchhoff (Birge Schade) einen Vortrag vor Studierenden // © rbb/Marcus Glahn

Ebenso sind Korruption und Vertuschung von Straftaten, rechte Netzwerke in der Polizei oder die Gefahren, die von privaten Sicherheitsfirmen ausgehen können – die jüngsten Razzien im Umfeld der Reichsbürger belegen das ganz tagesaktuell – wichtige Themen, denen wir vielfach zu wenig Aufmerksamkeit und Unvoreingenommenheit schenken. Dass diese Probleme immer wieder aufploppen, dürfte niemandem entgangen sein. Dass sie bislang nicht systematisch behandelt wurden, ist fast schon beschämend. Oder, um auch zum Schluss noch einmal Susanne Bonard zu zitieren: „Es ist spät“ und vor allem wird es Zeit.

HMS

PS: „Susanne Bonard“ — irgendwie klingt es so, als würde hier ein „von“ fehlen. 

Abend der Premiere – einmal alle auf die Bühne bitte! // Foto: © the little queer review

Die beiden Teile Tatort: Nichts als die Wahrheit laufen jeweils am Ostersonntag, 9. April 2023, und Ostermontag, 10. April 2023, um 20:15 Uhr im Ersten; um 21:45 Uhr auf one und sind anschließend für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar (Teil eins, Teil zwei).

Tatort: Nichts als die Wahrheit Deutschland 2023; Regie: Robert Thalheim; Drehbuch: Stefan Kolditz, Katja Wenzel; Bildgestaltung: Michael Saxer; Musik: Anton Feist; Darsteller*inner: Mark Waschke, Corinna Harfouch, Tan Caglar, Ercan Karaçayli, Ivo Kortlang, Bernhard Conrad, Kaya Marie Möller, Bea Brocks, Christoph Jöde, Sebastian Hülk, Yvon Moltzen, Aziz Dayab, Shadi Eck, u. v. a.; Laufzeit je ca. 89 Minuten

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert