Seit nunmher elf Jahren erscheinen im Göttinger Wallstein Verlag in regelmäßiger Unregelmäßigkeit die von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld herausgegebenen Hirschfeld Lectures. Stand heute liegen 16 Bände vor, ein siebzehnter ist für den November 2024 angekündigt. Thematisch geht es bei den niedergeschriebenen Lectures vielseitig oder ganz im Sinne von Queerness und Diversität bunt zu.
Den Anfang machte 2013 ein hochinteressanter, noch immer sehr aktueller Vortrag Dagmar Herzogs, Professorin für Geschichte von Sexualität, Gender– und Holocauststudien am Graduate Center der City University of New York, mit dem Titel Paradoxien der sexuellen Liberalisierung. Es gibt einen Band, der sich mit den monotheistischen Religionen und Homosexulität befasst; eine Art Überblick zum aktuellen Stand der Forschung gaben uns Norman Domeier, Rainer Nicolaysen, Maria Borowski, Martin Lücke und Michael Schwartz mit Gewinner und Verlierer – Beiträge zur Geschichte der Homosexualität in Deutschland im 20. Jahrhundert.
In einen Teil hier und da vergessener oder ignorierter Geschichte tauchen wir beispielsweise mit Anna Hájková und ihrem Band Menschen ohne Geschichte sind Staub (die Besprechung lest ihr hier, dieser Tage erscheint eine erweiterte Ausgabe, derer wir uns zeitnah widmen werden) ein. Oder auch mit Raimund Wolfert und seiner Homosexuellenpolitik in der jungen Bundesrepublik sowie Robert Beachy >>Ich bin schwul<< – W. H. Auden im Berlin der Weimarer Republik (unsere Rezension lest ihr im Pride Month). Debatten werden geführt und angestoßen durch Bände wie jener über Reproduktionstechnologien oder Gisela Wolfs Abhandlung zu Substanzgebrauch bei Queers.
Ein überfälliges Gedenken
Kurzum: Die Hirschfeld Lectures berichten und bereichern, leiten und lehren. Zusätzlich können sie als eine Art Archiv gesehen werden, das mit Sicherheit manches Anliegen abdeckt und manchen Winkel beleuchtet, der in dem einen oder anderen Jahrbuch fehlen mag. Im aktuellen Band, der im vergangenen November erschienen ist, befassen sich der Professor für Didaktik der Geschichte an der mittlerweile aus weniger guten Gründen im Fokus stehenden Freien Universität Berlin Martin Lücke und die Professorin für Europarecht an der Europa-Universität Flensburg Anna Katharina Mangold mit Verfolgung, Widerstand, Selbstbestimmung. Zur Geschichte und Gegenwart queerer Menschen in Deutschland. Anlässlich des ersten Magnus Hirschfeld-Tages am heutigen 14. Mai, dem 156. Geburtstag sowie 89. Todestag des jüdischen, schwulen, sozialistischen Arztes und Sexualforschers, wollen wir uns dem Band widmen.
Die darin befindlichen Vorträge und Reden entstammen einer nicht minder historischen Veranstaltung, die international Beachtung fand und im Grunde viel zu lange auf sich warten ließ. Die Rede ist von der Gedenkstunde zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2023. An diesem Tag wurde erstmals auch deutlich einer immer wieder vergessenen, auch noch Jahrzehnte nach Ende des Nazi-Regimes verfolgten, entmündigten und gedemütigten Opfergruppe gedacht. Jener, die aufgrund ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität verfolgt, angeklagt, inhaftiert und ermordet wurde.
Eine Petition und viele Steine
Nach einleitenden Worten des geschäftsführenden Vorstands der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, Helmut Metzner, sowie einem Grußwort von Günter Dworek (Lesben- und Schwulenverband, LSVD), Uwe Neumärker (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas) und Metzner unter dem Titel „Gedenken bedeutet Handeln!“ finden sich zwei eindrückliche Vorträge Lückes und Mangolds, die Unterschiedliches beleuchten und dabei doch gut Hand in Hand gehen. Diese hielten sie am Vorabend des Gedenktages „im voll besetzten Anhörungssal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages“. Eingeleitet wurde der Abend von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD). [An beiden Veranstaltungen nahm unsere geschätzte Gastautorin Nora Eckert teil, Anm. d. Red.]
Sie war es auch, die die Gedenkstunde möglich machte, nachdem ihr Vorgänger, die unlängst verstorbene Polit-Grande Wolfang Schäbule (CDU), sich lange Zeit dagegen sträubte, dem unter anderem von Lutz van Dijk öffentlichkeitswirksam in Form einer Petition im Jahr 2018 immer wieder an ihn herangetragenem Wunsch nach Anerkennung und berechtigtem Gedenken zu folgen. Mensch soll ja nicht schlecht über Tote sprechen… Nur leider ließ Schäuble es nicht zu, dass mensch ihnen im Guten gedenkt.
Dies erfahren wir im abschließenden Essay van Dijks, in dem er in aller Kürze beschreibt, was ihn zu der Petition veranlasste und wie steinig der Weg war. Zurück zu den Anfängen, also den beiden Vorabendvorträgen. Beide geben den aktuellen Stand der Forschung wieder, behandeln dabei nicht nur das erlittene Unrecht während der NS-Zeit, sondern auch jenes in der Zeit danach, Mangold kommt auf ein fatales Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen, das nichts an der weiteren Anwendung des unter den Nationalsozialisten verschärften § 175 (R)StGB findet und im Grunde meint: Passt scho.
Kreativität und Kaltschnäuzigkeit
Die Kreativität und Kaltschnäuzigkeit, die der „Schneewittchensenat“ des BVerfG da zur Untermauerung von Diskriminierung und Festschreibung der Legitimation weiterer Verfolgung an den Tag legt, verschlägt dabei nicht nur ihr den Atem. Von Frauen- wie Menschenfeindlichkeit im Allgemeinen einmal gar nicht zu sprechen. Hoch interessant ist, wie Mangold in ihrem Vortrag „Rechtskämpfe queerer Menschen in der Bundesrepublik“ argumentiert, „dass rechtliche Regulierung queerer Menschen, einer vermeintlichen Minderheit, immer auch Rückwirkungen hat auf Geschlechterrollen und Geschlechterstereotype in der Mehrheit“ hat. Das Festschreiben von Binarität und scheinbar idealen Rollenbildern, einer vermuteten Sicherheit und Übersichtlichkeit, ist es also, die diskriminiert. Und dies mitnichten nur eine „schrille Minderheit“. So wundert es kaum, wenn in diesen unübersichtlichen Zeiten Aufforderungen des rechtsnationalen AfDlers Maximilian Krah, rauszugehen, Patriot zu sein, etc. pp., um dann endlich eine Freundin finden zu können, verfangen. Nationalismus und Sexismus, Faschismus und Misogynie, das läuft wieder gut. Schwarz-Rot-Gold oder doch besser wieder Schwarz-Weiß-Rot?! Ach, was soll’s schon!
So war es auch kein Wunder, dass nach 1945 immer noch und nicht weniger Männer als zuvor aufgrund ihrer (vermeintlichen) Homosexualität oder homosexueller Handlungen angeklagt und verurteilt worden sind – es saßen oft die gleichen Richter im Saal wie zu Hitlers Zeiten. Diese Kontinuitäten beschreibt Martin Lücke deutlich in seinem Vortrag „Geschichte und Erinnerung“. Er vergisst auch nicht zu erwähnen, dass es auch für lesbische bzw. queere Frauen nach 1945 keine Stunde Null gab. Wurden sie zu NS-Zeiten noch als „asozial“ weggesperrt und deportiert, bediente man sich in der jungen Bundesrepublik zum Beispiel des Entzugs des Sorgerechts.
Kontinuität des Unrechts
Beide Vortragenden gehen mit verschiedenen (Fall-)Beispielen auf weitere Demütigungen und langwierige Versuche um Wiedergutmachung und Anerkennung des erfahrenen Unrechts und Leids ein. Mangold dazu einigermaßen pointiert:
„Bedenke ich die vielen Fälle von Unrecht, ja die systematische Ungerechtigkeit des Rechtssystems im Umgang mit queeren Menschen, wundert es mich gelegentlich, dass so viele queere Menschen doch weiterhin auf das Recht vertrauen, um ihre Menschenrechte einzufordern.“
Im Folgenden geht sie unter anderem darauf ein, wie viele Punkte des 1988 in Kraft getretenen „Transsexuellengesetzes“ (TSG) das Bundesverfassungsgericht mittlerweile kassiert hat und weist darauf hin, dass „[w]er das TSG googelt, liest ein verfassungswidriges Gesetz“. Nun – wir warten auf die Umsetzung des vor einem Monat verabschiedeten Selbstbestimmungsgesetzes, die sich nun auch wieder zieht und zieht. Neben trans*-Personen hat die Professorin für Europarecht zum Thema Intergeschlechtlichkeit und Nichtbinarität kluge Gedanken, die sich an vielen Widersprüchen und augenscheinlichem Unwillen politischer Akteure entspinnen. Überhaupt stellt Mangold fest, dass sie ein wenig enttäuscht von der parlamentarischen Demokratie ist, dass es bedauerlich ist, dass dem Plenum immer wieder erst vom Bundesverfassungsgericht Handlungsanweisungen gegeben werden müssen, statt selbst einmal (pro-)aktiv zu werden. Immerhin geht es hier um Menschen, Menschenwürde und irgendwie war doch da mal was mit Grundgesetz und Gleichheit und Schutz und so, oder?!?
Wider der Opferkonkurrenz und Scham
Diese beiden Vorträge zu lesen stimmt nachdenklich, wühlt auf, frustriert an mancher Stelle ob der ewigen Verzögerungen und, sorry, dümmlichen Begründungen mancher Entscheidung zur Fortführung oder zum Nichthandeln. Dann wiederum motivieren sie auch und machen Mut, denn klar ist auch, dass Engagement und Nerverei irgendwann diesen Stein aushöhlen. Immerhin wurden, wenn auch viel zu spät, 2002 die während der NS-Zeit nach Paragraph 175 verhängten Strafen aufgehoben und 2017 jene, die nach 1945 bis Ende der 1960er– beziehungsweise Mitte der 1990er-Jahre verhängt wurden. So galt auch Klaus Schirdewahn bis 2017 als vorbestraft, wurde er doch 1964 (!) als 17-Jähriger (!!) angeklagt und verurteilt. In seiner Rede im Bundestagsplenum am 27. Januar 2023 spricht er von Scham, langem Verstecken und Schmerz. Nicht nur seinem, sondern auch jenem, den er seiner damaligen Frau sowie seiner Tochter zugefügt haben dürfte.
Eröffnet wurde die Gedenkstunde von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, die auch darauf hinweist, dass „Antisemitismus und Antiziganismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ wieder zunähmen. Die von ihr im Schnitt angeführten fünf antisemitischen Straftaten pro Tag haben wir seit dem 7. Oktober 2023 lange hinter uns, das wird derzeit locker getoppt. Ebenso nehmen Übergriffe auf queere Menschen derzeit wieder zu. So zitieren auch wir die von Bas zitierte Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano (die übrigens zu den ersten Unterzeichnerinnen der Petition Lutz van Dijks gehörte):
„Menschlichkeit ist unteilbar. Die Forderung >Nie wieder!< gilt auch für die Homosexuellen.“
Ebenfalls zu den Erstunterzeichnerinnen gehörte Rozette Kats, die 1943 mit acht Monaten von ihren jüdischen Eltern an ein niederländisch-humanistisches Ehepaar gegeben wurde, das Rozette als Rita und ihr eigenes Kind aufzog. Kats spricht in ihrer Rede davon, dass es über die Hälfte ihres Lebens brauchte, bis sie in ihrer jüdischen Identität angekommen sei und erst 1992 mit fünfzig Jahren eine Art Coming-out aus ihrem Versteck gehabt hätte. So sieht sie eine Verbindung zwischen sich und Menschen der LSBTIQ*-Community. Ebenso kritisiert sie aus nachvollziehbaren Gründen Opferkonkurrenz, die Herabwürdigung gewisser Opfergruppen (allen voran jener mit dem Rosa Winkel) sowie die Sichtweise, dass manche Menschen, manche Opfergruppen mehr oder weniger wertvoll und schützenswert seien, als andere. Starke Worte!
Fiktionalisierte Erinnerung
Es folgen zwei von van Dijk verfasste und während dieser Gedenkstunde von Schauspielerin Maren Kroymann und Schauspieler Jannik Schümann vorgetragene Texte zu Mary Pünjer, die 1942 in Ravensbrück an „Herztod“ starb sowie Karl Gorath, der während und nach der NS-Zeit verurteilt, interniert und inhaftiert wurde. [Leider sprach Schümann „Auschwitz“ recht häufig versehentlich „Ausschwitz“ aus, was den inhaltlich starken Vortrag arg schmälerte.]
Beide Texte berühren, stellen Fragen. Im Falle Pünjers sind das eher hypothetische, bei Gorath greifbarere, was auch daran liegt, dass er noch bis 2003 lebte (er hatte das Glück seinen Rosa Winkel durch einen Roten Winkel, der für politische Gefangene stand, ersetzen zu können, was ihm vermutlich das Leben rettete). Leider starb er mit der Annahme, dass zwei junge polnische Häftlinge, Tadeusz und Zbigniew, derer er sich in Auschwitz annahm, die NS-Zeit nicht überlebt hatten. Zumindest aber Zbigniew lebte noch und theoretisch hätten die beiden einander gar begegenen können.
Immer erinnern, immer lernen
Es ist also eine bittere Geschichte, die hier aufgearbeitet und wiedergegeben wird. Umso wichtiger sind die zwei Vorträge, war die Gedenkstunde, ist dieser Band, der die Reden dieser festhält (wenn es auch schade ist, dass nicht wenigstens ein, zwei der in den Texten zu Pünjer und Gorath erwähnten Bilder Einzug in diese Hirschfeld Lectures gefunden haben). Gerade in Zeiten, in denen vermehrt von Schlussstrichen, Vorangehen, Hintersichlassen die Rede ist, muss erinnert werden.
Wir sehen aktuell, wie schnell alles kippen kann. Jüdinnen und Juden werden wieder vermehrt verfolgt, angegriffen, ausgegrenzt, beim fucking ESC ausgebuht… Wieso sollte es queeren Menschen anders ergehen, wenn die Heizkosten noch weiter steigen und die Rentenbeiträge nicht gedeckelt werden? Hat nichts mit uns zu tun, klar. Aber hassen, hassen kann (un)mensch uns dennoch. Wer braucht schon einen Grund, wenn das Feindbild im Sinne einer Unordnung passt?
Verfolgung, Widerstand, Selbstbestimmung ist sowohl Mahnung als auch Hoffnungsgeber. Allein dank der Vorträge von Martin Lücke und Anna Katharina Mangold einer der bislang bedeutensten Bände der Hirschfeld Lectures.
AS
PS: Mehr zum Magnus Hirschfeld Tag gibt es hier zu erfahren.
PPS: Ebenfalls im Wallstein Verlag liegt der Band Liebe und Gerechtigkeit. Sondeausgabe zum 150. Geburtstag von Magnus Hirschfeld vor. Dieser sei auch ohne vorliegende Rezension empfohlen. Das Buch findet ihr hier.
PPS: In Kürze nehmen wir uns dem im Campus Verlag erschienen Band Die Nazis nannten sie »Asoziale« und »Berufsverbrecher« – Geschichten der Verfolgung vor und nach 1945 (Hg.: Frank Nonnenmacher) an.
Eine Leseprobe findet ihr hier.
Martin Lücke, Anna Katharina Mangold: Verfolgung, Widerstand, Selbstbestimmung. Zur Geschichte und Gegenwart queerer Menschen in Deutschland; November 2023; 92 Seiten; Klappenbroschur; ISBN: 978-3-8353-5549-1; Wallstein Verlag; 9,90 €
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