Fakten vs. Lobby vs. Utopie

Als ich mich vor knapp zehn Jahren in den letzten Semestern meines Studiums befand – International Security Studies an einer schottischen Universität mit Golf-Tradition – stand auf der Liste der verfügbaren Kurse auch jener zu „Women and Security“. Typisches Frauenthema dachte ich mir damals, Feminismus und Sicherheit. Was soll daran spannend sein?

Heute ist mir klar, wie arrogant diese – meine – Sicht eines noch sehr jungen weißen Mannes damals war. Die Belange von Frauen werden in den Internationalen Beziehungen oft nicht berücksichtigt, vieles ist auf Männer und männliche Perspektiven ausgerichtet. Themen wie geschlechtsspezifische Gewalt, Femizide oder die strukturelle Benachteiligung von Frauen sind aber Probleme, die in der Außenpolitik eine wesentliche Rolle spielen.

Eine führende Stimme für Feministische Außenpolitik

Etwa zur gleichen Zeit studierte wenige hundert Kilometer südlich eine etwa gleichaltrige Frau in London und Oxford, Kristina Lunz. Heute ist sie gemeinsam mit dem von ihr mitbegründeten Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) im deutsch- und vermutlich auch im nicht-deutschsprachigen Raum eine der führenden Stimmen, die sich für eine Feministische Außenpolitik einsetzen. Wie diese Form der Außenpolitik aussieht, hat sie in ihrem bereits 2022 – am Tag des russischen Einmarschs in die Ukraine – bei Econ erschienenen Buch Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch – Wie globale Krisen gelst werden müssen festgehalten.

In zwölf Kapiteln zuzüglich Epilog und zwei begleitenden Grußworten (unter anderem von Margot Wallström, die als damalige schwedische Außenministerin die erste war, die eine Feministische Außenpolitik für ihr Land verkündete) erläutert Kristina Lunz, was aus ihrer Sicht eine Feministische Außenpolitik ausmacht und warum wir sie brauchen. Sie geht dabei tief (genug) in eine in den Internationalen Beziehungen vorherrschende Theorie, den Realismus, der das internationale System aus Lunz‘ Perspektive in patriarchalen Strukturen betrachtet und festhält. Von dort beschreibt sie, welche Aspekte aus feministischer Sicht durch den Realismus vernachlässigt werden.

Patriarchat at its best

Dafür geht sie zuerst relativ gründlich in die Geschichte des Feminismus, erläutert die in diesem Zusammenhang relevanten Meilensteine der letzten ca. 120 Jahre – beispielsweise die Haager Friedenskonferenz von 1915 oder die bekannte und wegweisende UN-Resolution 1325, die die Agenda für Frauen, Frieden und Sicherheit gesetzt hat – und zeigt, wo und wie die Rechte von Frauen, LGBTQI*-Personen oder BIPoC beschnitten und bekämpft werden (Spoiler: fast überall).

Außerdem geht sie in einzelnen Politikfeldern tiefer in die jeweilige Materie hinein. Gesundheitspolitik, Klimagerechtigkeit und „klassische“ Sicherheitspolitik, die mit Krieg, Frieden und Abrüstung betraut ist. Ein Kernproblem, das sie bereits früh identifiziert, ist, dass Frauen in verantwortlichen Positionen unterrepräsentiert sind und so feministische Perspektiven konsequent vom Diskurs ausgesperrt bleiben. Patriarchat at its best.

Frauen fehlen zu oft

Anfang März 2023 haben Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und ihre SPD-Kollegin Entwicklungsministerin Svenja Schulze ein Papier mit Leitlinien vorgestellt, das eine Feministische Außenpolitik auch für Deutschland vorsieht. Vieles, was darinsteht, finden wir auch im Buch von Kristina Lunz. Und das ist gut, das ist wichtig. Lunz (und auch Baerbock und Schulze) spricht an vielen Stellen wichtige und richtige Punkte an, die in der Außenpolitik der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte schlicht keine Beachtung gefunden haben. Frauen machen etwa die Hälfte der Weltbevölkerung aus, sollen jedoch in dieser nichts zu sagen haben? Dieser Gedanke ist nicht nur auf den ersten Blick befremdlich.

Lunz arbeitet einige Punkte heraus, in denen eine weibliche Perspektive einen Mehrwert für die gesamte Gesellschaft haben: Müttersterblichkeit, Frauen als Hauptbetroffene im Zuge des Klimawandels, Frauen als Opfer von (sexualisierter) Gewalt. Frauen sind oft die wesentlichen zivilen Opfer in Kriegen (auch wenn Männer als Soldaten vielfach als militärische Opfer gelten). Und Frauen oder andere Minderheiten sind einfach fast durch die Bank strukturell benachteiligt, nicht zuletzt in Bezug auf die Repräsentation in Führungspositionen (auch im diplomatischen Dienst), was sie dadurch ein wenig mildert, dass sie jedem Kapitel ein Interview mit einer für die Feministische Außenpolitik bedeutsamen Frau beimischt.

Knackpunkt Lobbyismus

Um dies zu beheben, legt sie eine breite Agenda dar, die sie auch mit dem CFFP vorantreiben möchte. Und an dieser Stelle wird es trotz ausführlicher Inhalte und vieler Zahlen und Fakten, die sie korrekterweise anführt, doch etwas hakelig. Denn auch wenn es bei der Lektüre ihres Buchs offenkundig werden dürfte, muss doch auf einen wesentlichen Fakt verwiesen werden:

Die Autorin ist Co-Chefin des CFFP und verfolgt als solche natürlich eine Agenda, die einer Feministischen Außenpolitik eben (im Rahmen des CFFP als gemeinnützige GmbH – also ohne Gewinnerzielungsabsicht). Ja, das ist ein hehres Ziel, aber dennoch muss klar sein, dass sie damit (legitime) Interessen vertritt oder anders gesagt: Sie lobbyiert in diesem Auftrag.

Der Instrumentenkasten des Lobbyismus

Zu diesem Zweck wiederum bedient sie sich ordentlich aus dem Instrumentenkasten des Lobbyismus an der Schnittstelle zur Wissenschaft: Sie zitiert Studien, verweist auf (vermutlich korrekte) Fakten und argumentiert so, dass ihr Anliegen belegt wird. Gleichzeitig gehört hierzu aber die Selektion und Interpretation dieser Zahlen, wie auch das gezielte Auslassen von Perspektiven. Dessen sollte sich mensch bewusst sein, wenn sie oder er sich Lunz‘ Buch zur Hand nimmt.

Das ist vor allem dann kritisch, wenn sie auf einer Seite die Arbeit der Automobil- oder der fossilen Lobby kritisiert, aber direkt auf derselben Seite die identischen Methoden anwendet. Der CO2-Fußabrduck beispielsweise, ist in der Tat eine Erfindung von BP, um die eigenen Kosten der Branche argumentativ auf Verbraucherinnen und Verbraucher zu übertragen, den sie als den Schwindel entlarvt, der er ist. Wenn sie sich aber auf derselben Seite des Instruments des CO2-Fußabdrucks bedient, um zu zeigen, dass Reiche einen deutlich höheren Ausstoß an Treibhausgasen haben, dann ist das mindestens unsauber. (Außerdem: BP, Shell und Co. produzieren ihren Diesel ja nicht nur, weil sie daran Freude haben, sondern weil dafür von irgendjemandem Bedarf besteht)

Eine Selektion von Fakten

Vor allem aber das gezielte Auslassen von Fakten und Argumenten, bzw. die Auswahl (nur) der Punkte, die ihre Argumentation stützen, ist ein Vorgehen, das sich leider durch Kristina Lunz‘ Buch zieht. Gleichzeitig wiederholt sie Sachverhalte oder sogar die Erläuterungen für bereits etablierte Abkürzungen mehrfach (und teils innerhalb von Kapiteln) und wird dadurch manchmal etwas redundant. Vermutlich hätte sie die Inhalte ihres Buchs auch auf etwa 250 anstatt 400 Textseiten abbilden können, wenn sie ihre Argumentation ein wenig gestrafft hätte.

Gerade im Kapitel zur militärischen Sicherheit (und davon behaupte ich zumindest ein wenig Ahnung zu haben – siehe den Anfang dieses Textes) fällt die bereits erwähnte Selektion von Fakten und Perspektiven stark auf. Lunz‘ Kernanliegen ist eine möglichst weitgehende Demilitarisierung der gesamten Gesellschaft, denn aus einer feministischen Perspektive ist eine Gesellschaft ohne Waffen am friedlichsten.

Abrüstung braucht beiderseitigen Willen

Dazu gehört vor allem internationale Abrüstung. Auch wenn sie zurecht kritisiert, dass internationale Abrüstungsbestrebungen in den letzten Jahren kaum mehr stattfinden, gehört es hier dennoch dazu, a) die wesentlichen Initiativen der Vergangenheit zu benennen (die SALT- oder die START-Verträge finden beispielsweise keinen Eingang in Lunz‘ Buch, ebenso wenig Verträge wieder INF-Vertrag oder der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa) und b) zu beachten, dass für solche Abkommen immer ein Interesse auf allen Seiten erforderlich ist.

Die letzten großen einschlägigen Abkommen waren die New-START-Verträge oder der genannte INF-Vertrag, die seitens Wladimir Putin (New START) sowie Donald Trump (INF) ausgesetzt wurden. Ähnlich wie bei (wünschenswerten) Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg gilt hier, dass die Idee gut ist, aber sich schlicht und einfach nicht umsetzen lässt, wenn das Gegenüber nicht will (und man selbst nicht völlig ohne Schutz dastehen möchte).

Die Realität ist nicht konfliktfrei

Vieles mag in der Theorie stimmen, dürfte in der Praxis aber schwer zu erreichen sein. Schon immer gab es Krieg, schon immer gab es Unsicherheit und es gibt bislang kein System, das diese Unsicherheiten des menschlichen Zusammenlebens überwinden kann. Die großen (ja, überwiegend männlichen und weißen) Philosophen seit mindestens 1648 sind bisher daran gescheitert, eine entsprechende Welt ohne Unsicherheit und Angst zu beschreiben.

Das muss aber nicht, wie Lunz insinuiert, damit zu tun haben, dass es sich um eine Welt handelt, die allein vom Patriarchat strukturiert und dominiert ist, sondern es liegt auch daran, dass dort, wo Menschen oder Staaten mit- und nebeneinanderleben, Konflikte aufflammen und nicht jeder davon friedlich und ohne Waffen beigelegt werden kann.

Eine Utopie, die die Auseinandersetzung lohnt

Kristina Lunz entwirft in ihrem Buch Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch also eine Welt, die überaus wünschenswert ist, allerdings wesentliche Teile der Realität nicht behandelt. Ja, sie schreibt auch, dass ihr klar ist, dass es eine Utopie sei und sie Realistin genug zu erkennen, was machbar ist und was nicht. Und obwohl ihr Anliegen gut ist und sie vielfach auf fehlende Perspektiven in der internationalen Debatte hinweist, sollten die Leserinnen und Leser ihres Buchs sich dennoch gewahr sein, dass Lunz damit (hehre) Interessen vertritt, aber eine umfassende Lektüre auch anderer Perspektiven sich dadurch nicht ersetzen lässt.

Nichtsdestoweniger ist die Zielvorstellung einer deutlich inklusiveren Außenpolitik unter stärkerer Berücksichtigung der Perspektiven von Frauen, LGBTIQ*-Personen, BIPoC sowie anderen gesellschaftlichen Minderheiten begrüßenswert. Als bekannt wurde, dass die Bundesregierung an entsprechenden Leitlinien arbeite, gab es vor allem aus der Ecke der „alten weißen Männer“ (ein Gruß geht an Markus Söder und die CSU, aber auch die AfD) fast schon höhnische Kommentare. Das ist ungerechtfertigt und statt das Konzept der Feministischen Außenpolitik von vornherein abzuwerten, wäre es für jene Ecken geboten, sich einmal inhaltlich mit ihr auseinanderzusetzen – konstruktive Vorschläge jedenfalls gab es seitens Söder und Konsorten nicht, aber die Lektüre von Lunz‘ Buch würde zumindest dabei helfen, eine Gesprächsgrundlage zu schaffen.

HMS

PS: Wir haben Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch im Februar und März 2023 als Hardcover gelesen. Ende März ist nun das Taschenbuch erschienen, in dem Kristina Lunz wohl in einem zusätzlichen Kapitel auf feministische Perspektiven auf den Ukrainekrieg eingeht. Das erscheint uns durchaus gegeben (siehe Text), aber war nicht Teil unserer Analyse.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Kristina Lunz; Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch. Wie globale Krisen gelöst werden müssen; Februar 2022; 448 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-4302-1053-9; Econ Verlag; 22,99 €; auch als TB mit zusätzlichem Kapitel erhältlich

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